Im Sommer 2022 sorgte der damalige Präsident der American Historical Association, der Afrika-Experte und Frühneuzeithistoriker James Sweet, für Aufruhr in der amerikanischen Geschichtswissenschaft, als er in seiner monatlichen Präsidentenkolumne den verbreiteten „Präsentismus“ anprangerte: Für zu viele Historiker zähle die Vergangenheit nur dann, wenn sie „durch das Prisma aktueller Probleme sozialer Gerechtigkeit – Rasse, Geschlecht, Sexualität, Nationalismus, Kapitalismus“ – gelesen werden könne. Inzwischen hat sich der Rauch um diesen Beitrag verzogen, die in der Kontroverse debattierten Fragen sind aber ungebrochen aktuell.
Trump, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie weitere Themen, die vom Klimawandel bis zum fortdauernden Rassismus reichen, haben den Berufsstand der Historiker einer seit den Sechzigerjahren nicht mehr gesehenen Polarisierung ausgesetzt und Forderungen nach einer „Geschichte der Gegenwart“ verstärkt, welche die Vergangenheit durch das Prisma heutiger Missstände betrachtet. Gleichzeitig haben gefährliche Formen der politischen Desinformation, die vor allem, aber nicht ausschließlich von der Rechten ausgehen, im Hauptstrom des Fachs die empirische Verpflichtung zu sachlicher Genauigkeit wiederbelebt.
Ein Unterschied der Generationen
Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Erfordernissen war in den Reaktionen auf die „Causa Sweet“ deutlich zu erkennen: Während sich jüngere Historiker auf sozialen Medien schnell auf Sweet stürzten und ihn einen sinistren Reaktionär schalten, pochten einige etablierte Vertreter der „Zunft“ auf die Notwendigkeit, „die Quellen zu respektieren“, und unterschieden zumindest implizit zwischen „Ideologie“ und quellenbasierter „guter Geschichtsschreibung“.
Das Kategorische an der Entgegensetzung von „politischer Motivation“ und „professionellen Standards“ kritisiert jetzt die an der Northwestern University in Evanston lehrende Frankreich-Historikerin Sarah Maza in einer Rekapitulation der „James Sweet Affair“ in „Past & Present“ (Bd. 265, Heft 1, November 2024 / Oxford University Press), dem britischen Flaggschiff einer kritischen Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Maza fürchtet, dass die Idee von Geschichtswissenschaft als einer intellektuell kreativen Disziplin verloren geht. Sie möchte auf „einen einfachen, aber derzeit oft vergessenen Aspekt“ hinweisen: Die besten Praktiker unseres Fachs, schreibt sie, waren weder Ideologen noch Empiriker, sondern provokative Denker, die gute Forschung in den Dienst einer kontraintuitiven, zum Nachdenken anregenden Argumentation stellten.
Eine Frage ist laut Maza in der Sweet-Debatte kaum gestellt worden: Was macht ein gutes historisches Argument aus? Eine politische Agenda laufe sicher auch Gefahr, Fakten zu verzerren. Häufiger jedoch könne eine politische Überzeugung zu Vereinfachungen führen und unter gleichgesinnten Gelehrten den Streit zu schnell zum Erliegen bringen. „Wenn das ultimative Argument eines Buches oder Artikels lautet, dass Sklaverei, Imperialismus, Sexismus oder Rassismus böse sind, kann die Leserschaft nicht anders, als zuzustimmen.“ Natürlich sei es notwendig, Gräuel zu dokumentieren. Problematisch werde es, so Maza, jedoch dann, wenn ein moralischer Imperativ zur Orthodoxie verkomme oder das Hauptanliegen eines wissenschaftlichen Werkes darin bestehe, dass die Leser die Empörung des Autors teilen sollen. Maza genügt es nicht, dass geschichtswissenschaftliche Werke „gründlich recherchiert“ sind. Sie schwärmt für „eine Historiographie, die das ‚Was? Wow!‘ dem ‚Wie schrecklich‘ vorzieht“.
E. P. Thompson und George Chauncey
Als Beispiele für geschichtswissenschaftliche Denker, die nicht primär als „Ausgräber von Evidenz“ agierten und ihre Interpretationen gegen den Strich gängiger Weisheiten bürsteten, nennt Maza einmal, natürlich, E. P. Thompson, einen der Gründer von „Past & Present“, dessen Allzeitklassiker „The Making of the English Working Class“ (1963) bis heute die Sozial- und Arbeitsgeschichte prägt. Ihr zweites Exempel ist der hierzulande eher unbekannte George Chauncey, der 1994 die Studie „Gay New York“ publizierte, in der er zeigt, dass in der Metropole am Hudson im frühen zwanzigsten Jahrhundert eine Vielzahl von schwulen Welten existierte, die Männer aus der Arbeiterklasse einschlossen. Maza rühmt das Buch als brillant dokumentiertes Plädoyer für den Reichtum und die Würde der homosexuellen Vergangenheit. Zugleich habe Chauncey den Fehdehandschuh nicht der feindseligen Welt innerhalb und außerhalb der Universitätsmauern hingeworfen, sondern den politischen Klischees, die sein damals noch junges Feld geprägt hätten.
Im Angesicht gegenwärtiger Formen der Desinformation, so lautet Mazas Fazit, ist das Beharren auf der Macht der „Fakten“ in manchen Fällen sicher die einzig mögliche Antwort auf extremistische Verlogenheit. Aber die Dringlichkeit des Augenblicks sollte keine der beiden Seiten in der Diskussion um Präsentismus dazu verleiten, die Geschichtswissenschaft unter Wert zu verkaufen.