Es war nur wenige Stunden nach dem Sieg Karol Nawrockis in der Stichwahl um das Präsidentenamt in Polen, als Jarosław Kaczyński sich zu Wort meldete. „Wir brauchen heute eine ganz andere Lösung“, dekretierte der PiS-Parteivorsitzende und ging zum Frontalangriff auf Donald Tusk über. Er forderte eine „technische, parteiunabhängige Regierung“, deren Chef im Gespräch mit allen ermittelt werden solle, die bereit wären, eine solche Idee zu unterstützen. Kaczyński verlangte also nichts weniger als den Rücktritt von Ministerpräsident Tusk, der die PiS Ende 2023 nach acht Jahren Regierungszeit in die Opposition geschickt hatte.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Tusk antwortete in einer Fernsehansprache mit einer Gegenoffensive: „Ich möchte, dass jeder, auch unsere Gegner im In- und Ausland, sieht, dass wir auf diese Situation vorbereitet sind, dass wir den Ernst des Augenblicks verstehen, aber dass wir keinen Schritt zurückgehen werden.“ Er kündigte an, mit dem neuen Präsidenten zusammenzuarbeiten, wo immer es notwendig und möglich sei. Doch sollte sich das als schwierig erweisen, gebe es einen Notfallplan. „Wir werden regieren und Entscheidungen treffen, auch wenn der Präsident versucht, gute Veränderungen zu blockieren“, sagte Tusk. Er sei fest entschlossen, „alles zu verteidigen, woran wir gemeinsam glauben“.
Ihr mutmaßlich letztes Duell
Damit ist der Kampf um die Macht in Polen zwei Jahre vor der nächsten Parlamentswahl neu entbrannt. Vorerst jedoch mit dem alten Personal. Der 75 Jahre alte, nationalkonservative Kaczyński und der 68 Jahre alte, liberalkonservative Tusk bestimmen seit mehr als 20 Jahren die polnische Politik. Sie besitzen komplett verschiedene Weltanschauungen, sind sich persönlich in tiefster Abneigung verbunden – und nun zu ihrem mutmaßlich letzten Duell angetreten.
Dabei ist Kaczyński beflügelt vom Sieg des noch vor einem halben Jahr auf der politischen Bühne Polens völlig unbekannten Historikers Karol Nawrocki, den er gegen allen Widerstand in der eigenen Partei bis ins Präsidialamt gebracht hat. Ein solches Kunststück war ihm bereits zehn Jahre zuvor mit Andrzej Duda gelungen, der ebenfalls als Politneuling gegen Amtsinhaber Bronisław Komorowski von Tusks Partei „Bürgerplattform“ gesiegt hatte. Nun bleibt das höchste Staatsamt in Händen der PiS, die sich damit Einfluss sichert, vor allem über das Vetorecht des Präsidenten gegenüber vom Sejm beschlossenen Gesetzen.

Regierungschef aber ist weiterhin Tusk. Er muss sich auf eine politisch breit gefächerte Koalition aus Konservativen, Wirtschaftsliberalen, Grünen und Linken stützen. Nur mit ihr war es ihm vor zwei Jahren gelungen, die PiS von der Macht zu verdrängen. Doch verfügen die Regierungsparteien im Parlament nicht über eine Dreifünftelmehrheit, die das präsidiale Veto überstimmen könnte. Zudem reicht es selbst innerhalb dieser Koalition bei wichtigen Reformversprechen wie der Liberalisierung des äußerst strikten Abtreibungsrechts nicht für eine eigene Mehrheit. Um sich nun seiner Basis zu versichern und gegenüber der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, will Tusk am Dienstag im Sejm die Vertrauensfrage stellen.
Die zerstrittenen Anführer der rechten Parteien
Die wird er nach Lage der Dinge gewinnen. Doch Kaczyński wird so schnell nicht lockerlassen. Im Gegenteil. Der Sieg Nawrockis habe dem politisch rechten Lager gezeigt, dass es eine Mehrheit hat, sagt Tomasz Pietryga, Vizechefredakteur der „Rzeczpospolita“. Insgesamt 54 Prozent der Wähler stimmten im ersten Wahlgang für die Kandidaten rechter Parteien. „Das war die Basis für den Sieg Nawrockis im zweiten Wahlgang.“ Die Anführer dieser bisher untereinander zerstrittenen Parteien, insbesondere die der PiS, seien sich bewusst, dass sie zu einem Bündnis verdammt sind. „Sie können sich gegenseitig unterstützen und sogar beleidigen, aber sie wissen jetzt, dass sie nur gemeinsam Donald Tusk aus dem Amt entfernen und eine Mehrheit im Sejm erreichen können“, sagt Pietryga. „Die Annäherung innerhalb dieses Spektrums wird weitergehen, und das verbindende Zentrum wird der Präsidentenpalast mit Karol Nawrocki sein.“

Noch allerdings sind Hürden zu überwinden. Als Sławomir Mentzen, Chef der rechtsradikal-libertären Partei Konfederacja, der PiS nach deren Forderung einer Übergangsregierung ein Gespräch anbot, strafte ihn Kaczyński mit Verachtung. Wenn einer zu Gesprächen einlade, dann sei das ja wohl die größere, also seine Partei, erklärte der PiS-Vorsitzende. Mentzen warf ihm daraufhin vor, keine ernsten Absichten zu verfolgen und nur ein Medienspektakel zu veranstalten. Er war ebenfalls Präsidentschaftskandidat und hatte im ersten Wahlgang mit 14,5 Prozent Platz drei erreicht. Vor allem aber hat Mentzen bei jungen Wählern unter 30 Jahren am stärksten abgeschnitten und vor dem zweiten Wahlgang keine Empfehlung für Nawrocki ausgesprochen. Sehr zum Ärger der PiS. Gerade junge Polen wünschen sich Umfragen zufolge, dass die alten Schlachtrosse die Bühne räumen. Trotzdem stimmten im zweiten Wahlgang knapp 90 Prozent der Mentzen-Wähler für Nawrocki.
Duda erhielt den Spitznamen „Kugelschreiber“
Wie aber wird sich der neue Präsident nach seiner Amtseinführung Anfang August verhalten? „Karol Nawrocki verdankt seinen Sieg und seine Präsidentschaft Kaczyński, aber er gehört nicht zum Umfeld des PiS-Vorsitzenden, wie es Andrzej Duda früher war“, sagt der Journalist Pietryga. Duda erhielt in den acht Jahren der PiS-Regierung den Spitznamen „Kugelschreiber“, weil er alles abzeichnete, was die PiS im Sejm verabschiedete. Nawrocki aber habe keinerlei Verbindungen zur Parteiführung. „Ich denke, er wird mit der Zeit unabhängiger sein als Duda und sich vor allem der Konfederacja annähern, denn das ist seine politische Generation.“ Ohnehin lägen Nawrockis politische Ansichten näher an denen der Mentzen-Partei als die von Duda.

Zunächst aber habe Nawrocki bei Kaczyński noch eine Schuld zu begleichen. Er soll der PiS zurück an die Macht verhelfen. Und der größte Hebel dafür ist das Veto. Indem Nawrocki Gesetze von Tusks Koalition nicht unterzeichnet, beraubt er sie ihrer Gestaltungsmacht. Versprechen wie die Rückkehr zu einer rechtsstaatlichen Justiz und die Bestrafung korrupter Politiker der PiS-geführten Vorgängerregierung werden weiter liegen bleiben.
Das dürfte nicht nur Tusks Wähler noch mehr enttäuschen, sondern auch die Fliehkräfte innerhalb der Koalition steigern. Die Niederlage Rafał Trzaskowskis, Tusks Kandidat bei der Präsidentschaftswahl, war auch der Unzufriedenheit mit dessen Regierung geschuldet. Und einer wie Kaczyński lässt sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen. Er wolle, so war es nach der Wahl in Warschau zu vernehmen, die Regierung sturmreif schießen. Dabei muss auch der scheidende Präsident Duda helfen. Bereits im Wahlkampf hatte er offen für Nawrocki geworben. Nach dessen Sieg attackierte Duda den angeschlagenen Tusk. „In meinen zehn Jahren als Präsident habe ich noch nie so wenig Einfluss auf die Arbeit von Regierung und Parlament gehabt wie jetzt“, sagte Duda. Soll heißen: Wenn die Polen unzufrieden sind, liege das allein an der jetzigen Regierung, nicht an ihm.
Tusk und seine Koalition befinden sich derzeit in einer schwierigen Lage. Koalitionspartner wie Szymon Hołownia von der Zentrumspartei „Polska 2050“ forderten, den Koalitionsvertrag neu zu verhandeln, während Michał Kamiński von der christlich-konservativen Volkspartei PSL öffentlich darüber sinnierte, ob Tusk noch der richtige Regierungschef sei, und anschließend gleich selbst mit „Nein!“ antwortete. Weitere Angriffe aus den eigenen Reihen blieben vorerst aus, nachdem Tusk im Koalitionsausschuss die Ansage gemacht haben soll, dass die Zeit der Selbstgeißelung vorbei sei, das Jammern aufhören müsse und man endlich an die Arbeit gehen solle. Doch gärt es in der Koalition, was noch vor den regulären Parlamentswahlen 2027 zu Neuwahlen führen könnte. Die PiS ist darauf vorbereitet. Sie ist auch nach dem Machtverlust vor zwei Jahren stark geblieben. Und sie hat in Umfragen gemeinsam mit der Konfederacja schon jetzt eine knappe Mehrheit.