Wie die katholische Kirche sich verändert

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Es ist kurz vor elf Uhr an diesem frühlingshaften Sonntag, als auf dem Vorplatz der katholischen Kirche St. Marien zur Aufstellung gerufen wird: „Ganz vorne das Kreuz, der Prozessionsleiter und die Messdiener, dann kommen die Fahnen, danach der Spielmannszug, die Blumenkinder und die liturgischen Dienste“, tönt es aus einem tragbaren Lautsprecher. Und: „Die Träger bitte in die Kirche.“

Wenige Minuten später reihen sich dreihundert, vielleicht auch vierhundert Gläubige gemessenen Schrittes ein hinter den stämmigen Männern, die das Podest mit einer Statue einer alle und alles überragenden Muttergottes tragen. Ja, für die Katholiken ist der Mai noch immer der Marienmonat – oder vielleicht mehr denn je?

Ein gut gekleideter älterer Herr, der den Auflauf von dem trotz Konfirmationsgottesdienst schütter besetzten Vorplatz der evangelischen Kirche vis-à-vis aus beobachtet, kommt aus dem Staunen nicht heraus: „Kirche volle Pulle“, sagt er anerkennend zu einer Polizistin, der das friedliche Treiben sichtlich Vergnügen bereitet.

„In Walle wohnen sie alle“

Schauplatz der sonntäglichen Prozession ist Walle, ein Stadtteil im Westen der Freien Hansestadt Bremen. „In Walle wohnen sie alle“, hieß es einst im Blick auf die vielen Zuzügler, die es im 19. Jahrhundert von der Arbeit in der großen Jutespinnerei oder bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von den prosperierenden Werften hierher verschlagen hatte.

Ein Kompliment war das nicht, störten sich die alteingesessenen Bremer Kaufmannsfamilien nicht nur an dem Gestank und dem Lärm der Fabriken, sondern auch an der bloßen Anwesenheit von Andersgläubigen, womit zuvörderst Katholiken aus Schlesien oder dem Rheinland gemeint waren, aber im reformierten Bremen auch die Lutheraner aus dem Hannoverschen.

Fatima-Prozession in Bremen-Walle
Fatima-Prozession in Bremen-WalleDaniel Pilar

Doch solange die Katholiken unter sich blieben, ihre Gottesdienste auf Tanzböden oder in Kinosälen feierten, waren sie für die öffentliche Ordnung keine Gefahr. Als sich aber nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge und Vertriebene ohne Zahl einstellten, verwandelten sich die Katholiken in Bremen mit ihrem Krankenhaus, ihren Schulen und bald auch mehreren neuen Kirchen in einen Schmelztiegel sondergleichen. Heute, in Zeiten einer Migration in nie da gewesenem Ausmaß und über alle Kontinente hinweg, ist es nicht anders.

Denn auch wenn die meisten der Älteren, die an der Prozession teilnehmen, weißer Hautfarbe sind, so sind es schon die Messdiener nicht mehr, geschweige denn die kleinen Blumenmädchen.Wenn nicht sie selbst, so sind ihre Eltern zumeist nicht in Deutschland geboren worden, sondern im subsaharischen Afrika, in Arabien oder Südostasien.

Auch die größte Fahne wird nicht etwa von einem Mitglied eines Kolpingvereins oder der Christlichen Arbeiterjugend getragen. „Polonia semper fidelis“ ist auf dem brokatbestickten Tuch zu lesen. Auch die Fahnenträger, die den Mittelpunkt der Dutzenden Polen bilden, die sich in St. Marien eingefunden haben, lassen sich optisch nicht an Heimattreue überbieten. Ihre Schärpe in den Nationalfarben Rot und Weiß wäre jedes Staatsoberhauptes würdig.

Gläubige im Gottesdienst nach der Fatima-Prozession
Gläubige im Gottesdienst nach der Fatima-ProzessionDaniel Pilar

Dennoch ist heute nicht der Ehrentag der Muttergottes von Tschenstochau, sondern der Madonna, die seit dem frühen 20. Jahrhundert im portugiesischen Wallfahrtsort Fátima verehrt wird. „A Treze de Maio“ lautet die erste Strophe eines Liedes, das angestimmt wird – wobei die Stimmen der Portugiesen, die zusammen mit den Polen wohl das größte Kontingent der Teilnehmer der Prozession bilden, kaum zu vernehmen sind. Denn der mit SDS abgekürzte Spielmannszug gibt sein Bestes.

Unter der Leitung einer Mittvierzigerin trommeln und trompeten junge Männer. SDS steht für den Syrisch-Deutschen Spielmannszug. „Lasst uns gemeinsam singen, hören und beten“, hatte Propst Bernhard Stecker, der an diesem Tag als Gast dem anschließenden Gottesdienst vorstehen soll, zum Auftakt gesagt. So kommt es – und wie.

Mit der Prozession aber haben die Bremer Polizistinnen keine Mühe. Niemand stört sich an dem munteren Aufzug von drei, wenn nicht vier Generationen von Katholiken, die eine Dreiviertelstunde lang in drei Sprachen den Rosenkranz betend, Lieder von „Maria Maienkönigin“ bis „Po górach, dolinach“ singend und mittendrin eher munter palavernd als hörend durch Walle ziehen. Und niemanden stört, am wenigsten sie selbst, dass die meisten Migranten sind, wie schon in wenigen Jahren die Mehrzahl der Bremer, wie Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) im Gespräch mit der F.A.Z. vorhersagt.

Aus aller Welt nach Bremen

Eine Frau sitzt mit geschlossenen Augen vor dem Kirchenportal von St. Marien in Walle auf dem Rollator, sie betet den Rosenkranz und wartet auf die Rückkehr der Prozession. Viele Portugiesen aus ihrer Generation zogen in den Sechzigern oder Siebzigern nach Bremen. Auch viele Polen leben schon lange in der Hansestadt – seit der Verhängung des Kriegsrechts durch die Kommunisten im Jahr 1979 kamen sie in immer neuen Wellen.

Die afrikanisch-stämmigen Migranten sind mehrheitlich ungleich jünger, auch wenn einige von ihnen schon vor Jahrzehnten zum Studium nach Bremen kamen. Und auch das wohl aus Südindien stammende Mädchen, das am Vorabend des Sonntags in der mitten im malerischen Schnoorviertel gelegenen Propsteikirche St. Johann zur Beichte gegangen war, während ihr Freund, sich unsicher umschauend, in einer Kirchenbank auf ihre Rückkehr wartete, hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Die Beheimatung in einer Kirche, in der es zwar viele Sprachen gibt, aber eine überall eingängige Liturgie mit einfachen, überall verständlichen Zeichenhandlungen, ist die schlechteste Voraussetzung dafür nicht.

Propst Bernhard Stecker bei einer Dankandacht mit Erstkommunionkindern in der Kirche St. Johann
Propst Bernhard Stecker bei einer Dankandacht mit Erstkommunionkindern in der Kirche St. JohannDaniel Pilar

Denn Kirche in Bremen ist nicht allein Gottesdienst, sosehr die Liturgien auch Orte für die persönliche Frömmigkeit wie Anlässe zu Zusammenkünften von Gleichgesinnten sind – und das in steigender Frequenz. „Die Kollegen aus der Fläche des Bistums erleben oft nur Rückgang“, sagt Stecker über die Mitbrüder, die sich wie er vor vierzig Jahren und in einer Zeit für den Priesterberuf entschieden haben, die noch voller Hoffnung auf eine durch das II. Vatikanische Konzil erneuerte Kirche war.

In der Stadt Bremen, die bis auf einige Gebiete am nördlichen Rand zum Bistum Osnabrück gehört, hat sich der Wind vor einigen Jahren gedreht. Bezogen auf die Quote der Gottesdienstbesucher lag (das Land) Bremen im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie bei 67.000 registrierten Katholiken mit 7,5 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt in Deutschland von 9,1 Prozent. Fünf Jahre später, also im Jahr 2024, rangierte es mit einer Quote von 7,1 Prozent (bei 57.500 registrierten Katholiken und einer nicht unerheblichen Dunkelziffer) über dem Durchschnitt aller Länder von nunmehr nur noch 6,6 Prozent – dank des Zustroms Tausender Migranten, aber auch dank vielen kirchlichen Hauptamtlichen und Freiwilligen aus Bremen, die sich nicht in der Holschuld sehen gegenüber einer sich immer stärker verändernden Gesellschaft, sondern in einer Bringschuld.

Messdiener und Pfarrer Nwoko beim englischsprachigen Gottesdienst in Bremen
Messdiener und Pfarrer Nwoko beim englischsprachigen Gottesdienst in BremenDaniel Pilar

Am Abend des Aschermittwochs, so erinnert sich Stecker, sei die Propstei­kirche so voll gewesen wie seit Menschengedenken nicht am Beginn der Fastenzeit. Und unter denen, die das Aschenkreuz empfangen hätten, seien auffallend viele junge Menschen gewesen. Einfach zu deuten ist dieses Phänomen nicht.

Aber Stecker sowie die Mitarbeiter in der Katholischen Hochschulgemeinde begegnen immer häufiger jungen Menschen, die von Einsamkeit berichten. Auch am Karfreitag, so hat es der Propst beobachtet, kamen viele der alteingesessenen Katholiken aus dem Staunen nicht heraus. Vierzig Minuten nahm die Kreuzverehrung in Anspruch, so lange wollten in der Summe die mehrheitlich migrantischen Gottesdienstbesucher vor dem Kreuz verweilen, das auf die Altarstufen gelegt worden war.

Auch das passt in das Bild: Fand der englischsprachige Gottesdienst bis zum Frühjahr an jedem zweiten Sonntag um 15 Uhr statt, so wird er nun wöchentlich gefeiert – anschließende Zusammenkunft im Kolpinghaus, das als Pfarrheim dient, eingeschlossen. Ein junger Brite spielt die Orgel, der in Nigeria geborene Hochschulseelsorger Dr. Matthew Nwoko ist der Zelebrant, und auch wenn die Bänke am Nachmittag des „Fatima-Sonntags“ nur halb gefüllt sind, erklingen die Lieder aus dem Mund der Gläubigen aus allen Teilen des Commonwealth in einer lautstarken Fröhlichkeit, als gelte es, die virtuellen Mauern zum Einsturz zu bringen, die mitunter nicht nur Alteingesessene und Zugewanderte voneinander trennen, sondern auch Katholiken und Katholiken.

Pfarrer Matthew Nwoko
Pfarrer Matthew NwokoDaniel Pilar

Verschiedene Muttersprachen sind oft das kleinere Problem. Das größere: verschiedene Mentalitäten, und das weniger innerhalb der katholischen Migranten, unter denen in Bremen nach den Polen und den Portugiesen Italiener, Spanier, Ghanaer, Nigerianer und Kroaten die größten Gruppen stellen. Nicht in der Hansestadt, aber vielerorts in Deutschland sehen sie sich mit Unverständnis, mittlerweile aber auch immer öfter mit Ärger und Wut einer „verfassten“ Kirche gegenüber, in deren zahllosen Gremien und endlosen Konferenzen sie ihre Zeit nicht verschwenden wollen und in denen ihre Frömmigkeit mitunter als rückständig belächelt wird.

Der Franziskanerpater Ivica Studenović kann davon mehr als nur ein Lied singen. Der promovierte Altphilologe hat vor einigen Jahren seinen Dienst als Leiter des renommierten Franziskanergymnasiums in Sarajevo gegen den eines Pfarrers am östlichen Stadtrand von Bremen und eines Seelsorgers für die (zumeist bosnischen) Kroaten bis hinauf an die Nordsee eingetauscht. Sein Deutsch ist wie das vieler Kroaten, die zumeist auf dem Bau, aber auch auf der Meyer-Werft im emsländischen Papenburg arbeiten, so gut, dass er seine Erfahrungen mit einer immer wieder auch selbstbezüglichen Organisation auf einen plastischen Nenner bringt: „Wenn ich einen Stuhlkreis sehe, bekomme ich Pickel.“

Der Franziskanderpater Ivica Studenović ist Pastor in St. Raphael und Seelsorger für die Kroaten in und um Bremen.
Der Franziskanderpater Ivica Studenović ist Pastor in St. Raphael und Seelsorger für die Kroaten in und um Bremen.Daniel Deckers

Aber damit geht es ihm noch besser als manchen Landsleuten, etwa einer kaum des Deutschen mächtigen Frau, die zu weinen begann, als sie in einer deutsch-bildungsbürgerlichen Runde von Eltern, deren Kinder zur Erstkommunion gegen wollten, reihum dran war, etwas zu einem Film zu sagen. Oder Kroaten in Hamburg, die auf einer Osterkerze einen Regenbogen entdeckten und ihn für das Symbol der LGBTQ-Bewegung hielten, anstatt ihn als das Zeichen Gottes zu erkennen, das dieser nach der Sintflut in die Wolken gesetzt hatte zum Zeichen des ewigen Bundes zwischen ihm und den Menschen.

Lernen kann man diesen Unterschied in Bremen indes in der St.-Johannis-Schule, einer bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückgehenden Institution, die aus dem Leben der gesamten Stadt nicht mehr wegzudenken ist. Und dies nicht nur aus der Sicht von Katholiken, die auf einen schulischen konfessionellen Religionsunterricht Wert legen, wie ihn die Bremer Landesverfassung nicht kennt. Nein, weder sind die Katholiken an „ihrer“ Schule in der Mehrzahl, noch werden es in absehbarer Zeit Kinder ohne Migrationshintergrund sein.

Doch nicht das macht der Leitung der Oberschule mit einem Gymnasialzweig Sorgen, sondern der Umstand, dass sie viel mehr Schüler aufnehmen könnte als die 1100, die die in der Vergangenheit mehrfach erweiterten Räumlichkeiten erlaubten. „Auch viele konfessionslose Eltern wollen für ihre Kinder eine Schule mit einem festen Wertefundament“, heißt es im Gespräch mit der Schulleitung.

Knappe Kassen

Doch wohl nicht nur die Schulstiftung des Bistums Osnabrück kann eine weitere Expansion wegen der sinkenden Finanzkraft der Kirche infolge von Austritten und einem hohen Sterbeüberschuss nicht gutheißen, wenn nicht gar Einschnitte drohen. Auch das Land Bremen hat sich noch immer nicht aus den ideologischen Fesseln einer sozialdemokratischen Bildungspolitik gelöst, ganz gleich, wie angetan Bovenschulte (wie schon sein legendärer Amtsvorgänger Henning Scherf) von dem Leben und dem Lernen an den katholischen Schulen ist.

Kein Land hat so wenig Geld und andere Formen der Unterstützung für Schulen in freier Trägerschaft übrig wie das seit Kriegsende SPD-regierte Bremen. Die freien Träger indes reagieren sehr verschieden auf diese Mangellage. Während an anderen Gymnasien bis zu 500 Euro Schulgeld im Monat erhoben werden und ein sozialer Ausgleich mehr schlecht als recht über Stipendien organisiert wird, setzen die Katholiken bei der Auswahl der Schüler auf überdurchschnittliche Leistungen, ein niedriges Schulgeld von nicht einmal hundert Euro und – notgedrungen – auf große Klassen.

Dort aber kommen nicht nur begabte Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und aus Vierteln wie Schwachhausen zusammen, in denen die Reichen immer reicher werden, sondern auch solche aus derart sozial geschwächten Familien, dass das Land ihnen die Kosten für den Schulbesuch erstattet. Wenn Aufstieg durch Bildung irgendwo großgeschrieben wird, dann in St. Johannis.

Eine Madonna im Hof des Birgittenklosters im Schnoor
Eine Madonna im Hof des Birgittenklosters im SchnoorDaniel Pilar

Wessen Weg aber nicht auf das Gymnasium führen soll, der ist in Bremen nicht verloren. Mag die Zahl der alteingesessenen Katholiken in der Hansestadt wie überall in Deutschland in den vergangenen Jahren geschrumpft sein, so haben sich die Bremer Katholiken von dem an Selbstverzwergung grenzenden Kirchenblues nicht anstecken lassen.

Mit ihren vielen gemeinnützigen Sozialeinrichtungen und Initiativen wollen kirchliche Träger und insbesondere die Bremer Caritas im eigentlichen Sinn des Wortes „eine Handreichung“ sein, wie es bei einem Gespräch in der modernen Zentrale des Verbandes heißt. Da gibt es etwa das altehrwürdige Krankenhaus St. Joseph, mehrere Ärztehäuser, eine Art Tafel in einem der sozial schwächsten Stadtteile im Bremer Norden und die Johannis-Oase in der ehemaligen Sakristei der Propsteikirche, wo Wohnsitzlose an jedem Tag unter der Woche willkommen geheißen werden und dazu auch noch Duschen und Waschmaschinen vorfinden.

Vor fast zehn Jahren warb die Bremer Caritas mit einer Kampagne um neue Mitarbeiter, die provozieren wollte und auch provozierte. Mitarbeiter waren auf Plakaten zu sehen, auf denen Sätze zu lesen standen wie „Für mich zählt Profession, nicht Konfession“ oder „Ist es okay, wenn ich den Nächsten liebe?“. Südlich des Mains gingen hier und da die Wogen hoch, schienen die Nordlichter doch das damals noch nicht liberalisierte kirchliche Arbeitsrecht ad absurdum zu führen.

In Bremen aber, wo heute nur noch wenigen bewusst ist, dass die Caritas der Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche ist, „werden wir heute noch darauf angesprochen“. Diversität unter der Mitarbeiterschaft gilt als Stärke, und das nicht nur auf dem Papier. In den vergangenen Jahren hat die Bremer Caritas „dank ihrer Werte und Visionen“, so heißt es, die Zahl ihrer Mitarbeiter allen Schwierigkeiten zum Trotz auf 900 Köpfe annähernd verdoppelt, und nicht selten war Mund-zu-Mund-Propaganda im Spiel.

Ob Johannis-Oase, Gymnasium oder Prozession – vielleicht war die katholische Kirche in Bremen niemals vielfältiger, bunter und jünger als heute. Von der Titelseite des Mitteilungsblatts, das in St. Johann ausliegt, grüßt an diesem Frühlingswochenende ein lächelnder Papst Leo XIV. mit den Worten: „Der Friede sei mit euch allen!“