Europa geht zur Rettung von US-Forschungsdaten in die Offensive

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Die internationale Wissenschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen. Sie hat politische Krisen, Pandemien und geopolitische Umbrüche überstanden. Internationalität hat sich vielfach von einer Option zu einer Notwendigkeit entwickelt. Doch nun steht die Wissenschaft vor einer Belastungsprobe, die ihresgleichen sucht. Letzter Auslöser ist der wissenschaftsfeindliche Kurs der US-Regierung, die amerikanische Universitäten drangsaliert und damit nicht nur das amerikanische Wissenschaftssystem erschüttert, sondern die Grundlagen der globalen Forschungszusammenarbeit insgesamt. Die vollzogenen, insinuierten oder erwarteten amerikanischen Rückzüge sind dabei nur Teil eines größeren Bildes. Weltweit missachten Regierungen Regeln. Vertrauen geht verloren – in der Wirtschaft, in der Politik und eben auch in der Wissenschaft. Die globale Kooperation, die jahrzehntelang als Motor für Innovation, Pro­blemlösen und Zukunftsfähigkeit galt, gerät unter Druck.

Die Folgen könnten dauerhaft sein, wenn Europa und Deutschland nicht entschlossen reagieren und eigenständiger werden. Das Problem wird deutlich am Beispiel der über viele Länder verteilten Infrastrukturen für Forschungsdaten. Mehr als ein Drittel davon befindet sich in den USA. Was bislang als Zeichen amerikanischer Innovationskraft und Ausweis einer internationalen Rolle galt, wird nun zum Risiko. Werden diese Repositorien aus politischer Motivation heraus nicht mehr gepflegt, gelöscht oder gar bewusst manipuliert, geraten die Grundlagen zahlloser Analysen und Prognosen ins Wanken. Klimamodelle, klinische Studien, sogar die Überwachung von Pandemien, aber auch jedwede Forschung in den Bio- und Lebenswissenschaften mit täglich Millionen Datenbankzugriffen oder Nutzung von Preprintservern für hochaktuelle und offen zur Verfügung stehende Publikationen wären massiv beeinträchtigt. Die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, auf die Politik und Gesellschaft dringend angewiesen sind, steht auf dem Spiel.

Kritische Infrastruktur und Repositorien schützen

Deutschland und Europa dürfen sich nicht länger auf die Verfügbarkeit von Daten und technischer Infrastruktur aus den USA verlassen. Nicht nur Versorgungsnetze, Kraftwerke oder Internetleitungen gehören zur kritischen Infrastruktur unseres Landes, sondern auch Wissenschaftsdatenbanken, Pu­blikationsplattformen, Cloud-Dienste, Forschungssoftware und KI-Modelle. Für diese kritische Wissenschaftsinfrastruktur müssen wir in Deutschland und Europa Redundanzen aufbauen. Zugleich müssen wir sie effektiv vor möglicher politischer Einflussnahme schützen. Das ist eine Lehre aus der Situation in den USA.

Gebraucht wird jetzt eine europäische Strategie zum Aufbau eigenständiger Wissenschaftsinfrastrukturen. Ziel ist die Sicherung der wissenschaftlichen Souveränität und Innovationsfähigkeit Europas. Gleichzeitig bietet die Krise die Chance, die Effizienz zu steigern, Datensicherheit und Transparenz zu verbessern und die Abhängigkeit auch von kommerziellen Anbietern zu verringern.

Souveränität und Redundanz können teuer werden: Hardware, Software, qualifiziertes Personal sowie der dauerhafte Betrieb dieser Strukturen kosten Milliarden. Dies kann nur gemeinsam in Europa gestemmt werden und passiert nicht von heute auf morgen. Die EU stellt hierfür in den nächsten Jahren Milliardenbeträge zur Verfügung. Aber auch die Größenordnung der Investitionen, die dauerhaft nötig sein werden, ist gewaltig.

Konkrete Maßnahmen schon eingeleitet

Einiges geschieht bereits. So haben Bund und Länder mit der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) und dem Engagement in der European Open Science Cloud (EOSC) bereits wichtige Schritte eingeleitet. Auch das neue Rahmenprogramm FITS2030 des Bundesforschungsministeriums zielt darauf ab, technologische Souveränität in Schlüsselbereichen zu sichern. Verschiedene Initiativen versuchen, Projekte und Plattformen aufzufangen, die durch den US-Rückzug gefährdet sind. In der Klimaforschung beispielsweise übernehmen deutsche Einrichtungen zentrale Aufgaben, wenn US-Daten oder -Expertise ausfallen. In der Medizin könnte die Publikationsdatenbank Europe PMC als Alternative zur amerikanischen PubMed dienen. Das Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften (TIB) baut ein „Dark Archive“ für arXiv auf, ein weltweit genutztes Archiv für sogenannte Preprints, also Vorabveröffentlichungen wissenschaftlicher Arbeiten. Diese stille Reserve speichert eine vollständige Kopie der arXiv-Daten dezen­tral in Deutschland. Sollte der Zugriff auf die Originaldaten in den USA ausfallen, kann das Archiv aktiviert werden und so auch in Krisenzeiten den freien Zugang zu Forschungsergebnissen gewährleisten.

So zentral europäische Souveränität und strukturelle Sicherheitsreserven sind, so wichtig ist es, dabei Kosten und Nutzen gut abzuwägen: Eine ganz und gar autarke europäische Wissenschaftsinfrastruktur würde Unsummen kosten und Kapazitäten binden, die wir eigentlich für die aktive Forschung und das Personal brauchen. Wir müssen deshalb weiterhin auch Ressourcen gemeinsam nutzen und zusammenarbeiten – mit den USA, aber auch mit China. An Kooperation führt auch in Zukunft kein Weg vorbei, um gemeinsam die großen Probleme zu lösen wie Klima, Gesundheit und Ernährung. Souveränität und Zusammenarbeit sind kein Widerspruch, sondern die Voraussetzung dafür, dass Wissenschaft auch in Zukunft verlässlich, offen und innovativ bleibt. Die Wissenschaft steht vor einer Mammutaufgabe. Aber sie hat auch die Chance, gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

Der Autor ist ärztlicher Direktor der Neurologischen Uniklinik Heidelberg und seit 2023 Vorsitzender des Wissenschaftsrats.