Fadenwürmer klettern aufeinander und bilden einen lebenden Turm, um das Fortbestehen ihrer Art zu sichern. Was bislang nur aus dem Labor bekannt war, hat ein Forschungsteam aus Konstanz nun in freier Wildbahn untersucht.
Unsere Welt wird nicht nur von winzigen Bakterien und Viren bevölkert, sondern auch von mikroskopisch kleinen Würmern. Diese sogenannten Fadenwürmer oder Nematoden sind ein beliebtes Forschungsobjekt – erst im vergangenen Jahr gab es einen Nobelpreis für zwei Genetiker, die an Fadenwürmern forschten.
Im Labor zeigen Fadenwürmer manchmal ein ungewöhnliches Verhalten, das der Forschungswelt lange Zeit Rätsel aufgab: Wenn der Platz eng wird und nicht genug Nahrung zur Verfügung steht, klettern die Würmer aneinander hoch und bilden turmartige Strukturen. Doch ob sie dieses Verhalten auch in freier Wildbahn zeigen, war lange unklar. Einem Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz ist es nun gelungen, die Türme der Fadenwürmer auf einer Streuobstwiese zu filmen und sie genauer zu untersuchen.
Ein Fadenwurmturm streckt sich in mehrere Richtungen.
Fauliges Obst bietet idealen Nährboden
Fadenwürmer sind fast durchsichtig und sehr klein – in der Regel weniger als einen Millimeter lang. Laut Ryan Greenway, der als technischer Assistent am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz arbeitet, leben sie so gut wie überall, wo es feucht ist – besonders gerne aber auf verrottendem Obst.
Wohl aus diesem Grund gestaltete sich die Suche nach Wurm-Türmen in freier Wildbahn einfacher als erwartet: Mit einem digitalen Mikroskop gelang es Greenway schon nach wenigen Stunden erste Türme zu filmen – auf einem fauligen Apfel. Seine Kollegin Daniela Perez, die Fadenwürmer im Labor erforscht, war begeistert von diesem Fund: “All meine Arbeit im Labor hat auf einmal Sinn gemacht. Ich habe mir gedacht: Ja, wir sind da etwas auf der Spur. Die Tiere machen das auch in ihrer natürlichen Umgebung.”
Erst auf den zweiten Blick zu erkennen: ein Fadenwurmturm an einem Apfel
Würmer nehmen das Flugtaxi
Die Beobachtungen in freier Natur bestätigten, was Forschende schon lange vermutet hatten: Die Würmer bauen ihre Türme, um sich neue Lebensräume zu erschließen. Ein vorbeikommendes Insekt, wie etwa eine Fruchtfliege, bleibt leicht an diesen Strukturen hängen und nimmt einen Teil der Würmer mit sich. Eine kostenlose Mitfahrgelegenheit zum nächsten verrottenden Apfel also – und damit ein Überlebensvorteil für die Würmer.
Die Würmer zeigen damit eine Art von kollektivem Verhalten, das auch als Superorganismus bezeichnet wird. Dabei handelt es sich laut Daniela Perez um mehrere Individuen, die für ein gemeinsames Ziel zusammenarbeiten. Auf der Suche nach einer Struktur, an der sie sich festklammern können, wippen die Würmer gemeinsam auf und ab, ähnlich wie eine tanzende Kerzenflamme.
Verhalten kann nun besser erforscht werden
Im Labor fand Perez die optimalen Bedingungen dafür, dass die Würmer ihre Türme bauen: viele Würmer, wenig Nahrung und die Borste einer Zahnbürste, um ihnen Halt zu geben. So beobachtete sie bis zu fünf Zentimeter große Türme. In manchen Fällen schafften die Würmer es sogar, eine Art Brücke zum Deckel des Versuchsgefäßes zu bauen.
Auch einige andere Arten nutzen solches Verhalten, um zu überleben – beispielsweise Feuerameisen oder Spinnmilben. Mit den Würmern haben die Forschenden nun ein einfach zu handhabendes Modell gefunden, um mehr über dieses Verhalten herauszufinden. So gewann das Forschungsteam bereits erste Erkenntnisse, welche äußeren Faktoren das Verhalten der Würmer beeinflussen. Wenn die Würmer etwa den Stups oder die Vibration einer Glasnadel spüren, richten sie ihre Türme in dessen Richtung aus, so Perez.
Hierarchie im Wurm-Turm?
Weitere Untersuchungen zeigten: Innerhalb des Turms scheint es keine Hierarchie zu geben. Die Forschenden fanden weder besonders fortpflanzungsfähige Würmer an der Spitze des Turms noch besonders starke Würmer an dessen Basis. Je nach Art der Würmer könnte das aber auch anders aussehen, schätzt Ryan Greenway: “In freier Wildbahn und bei Arten, die sich sexuell fortpflanzen und dadurch mehr genetische Vielfalt in den Türmen haben, könnte es zu Zusammenarbeit kommen oder auch zu einem Wettkampf um die besten Plätze im Turm.” Bei den im Labor untersuchten Würmern handelt es sich um Klone, die sich genetisch nicht unterscheiden.
Es gibt also noch viel zu lernen über die kleinen Fadenwürmer und ihr kollektives Verhalten. Aber eines können sich die Menschen sicherlich von ihnen abschauen: Gemeinsam kommt man eher ans Ziel.