Die Entsendung der Nationalgarde und Hunderter Marineinfanteristen nach Los Angeles ist nur das sichtbarste Zeichen dafür, dass die Trump-Regierung neue Saiten aufzieht. Wir beantworten die wichtigsten Fragen dazu, wen die Abschiebepolizei nun ins Visier nimmt, und welche Folgen das hat.
Warum ist der Streit um Abschiebungen gerade jetzt eskaliert?
Das Weiße Haus war unzufrieden mit der aus seiner Sicht zu geringen Zahl der täglichen Festnahmen und Abschiebungen. Nach amerikanischen Medienberichten hatte die Regierung in den ersten hundert Tagen von Donald Trumps Amtszeit rund 66.000 Ausländer ohne gültige Papiere festgenommen sowie etwa genauso viele Migranten abgeschoben. Allen spektakulären Bildern etwa von Abschiebeflügen nach El Salvador oder von martialisch wirkenden Razzien zum Trotz übertraf sie damit kaum das Niveau der Biden-Regierung im Jahr 2024.
Das hat sich jetzt geändert. Nach einer internen Aufstellung, über die der Sender CBS kürzlich berichtet hat, meldete die Abschiebepolizei Immigration and Customs Enforcement (ICE) vorige Woche an zwei Tagen erstmals jeweils 2000 Festnahmen. 2024 hatte der Tagesschnitt bei etwa 300 gelegen. Nach der internen Statistik sitzen derzeit etwa 54.000 Ausländer in Abschiebehaft. Trumps rechte Hand, der stellvertretende Stabschef Stephen Miller, verlangt von der ICE mindestens 3000 Festnahmen am Tag. Das Weiße Haus hat deutlich gemacht, dass leitende Beamte mit Konsequenzen zu rechnen haben, wenn sie die Zielmarke verfehlen. Es ist darüber schon zu einem Rücktritt gekommen.

Wie konnte die Zahl der Festnahmen so drastisch erhöht werden?
Zum einen hat das Bundesjustizministerium Beamte von anderen Polizeieinheiten des Bundes wie dem FBI oder der Drogenpolizei DEA abgestellt, um die ICE-Beamten zu unterstützen. Vor allem aber scheint die ICE auf Geheiß des Weißen Hauses ihre Taktik verändert zu haben. Das „Wall Street Journal“ berichtete am Montag über ein Treffen in der ICE-Zentrale Ende Mai, auf dem Miller in Trumps Namen die Weisung ausgab, „einfach loszugehen und Illegale festzunehmen“.
Demnach sollen die Beamten nicht mehr die Fahndung nach (oft untergetauchten) Straftätern und Gefährdern priorisieren, sondern Razzien in Lagerhäusern, großen Landwirtschaftsbetrieben oder an anderen Arbeitsplätzen, in denen viele illegal Eingewanderte arbeiten. Miller legte der ICE-Führung ferner offenbar nahe, auch an Baumärkten wie „Home Depot“ aufzumarschieren, wo morgens oft Dutzende Tagelöhner ohne Aufenthaltsgenehmigung darauf warten, Arbeit angeboten zu bekommen. Genau das haben die Beamten am Freitag in Los Angeles getan.
Unter Biden war es den ICE-Beamten noch verboten, abgesehen vom illegalen Grenzübertritt unbescholtene Ausländer ohne Aufenthaltspapiere festzunehmen, die ihnen bei Razzien gegen Kriminelle ins Netz gingen. Die Trump-Regierung unterscheidet nun nicht mehr zwischen gefährlichen und strafrechtlich unauffälligen Migranten. Trump hat illegal eingewanderte Ausländer immer wieder pauschal als gefährlich oder sogar als „wilde Tiere“ bezeichnet.

Zudem hat die Regierung begonnen, Datenbanken mehrerer Bundesbehörden zu verknüpfen, um Ausländer ohne Aufenthaltspapiere ausfindig zu machen. In vielen Fällen war den Betroffenen früher versichert worden, dass ihre Daten (etwa bei der Steuerbehörde) nicht mit Polizei- oder Justizbehörden geteilt würden.
Kann die Regierung so alle illegal eingewanderten Ausländer abschieben?
Selbst wenn die ICE die von Miller vorgegebenen 3000 Festnahmen an allen Tagen des Jahres schaffte, wären das „nur“ eine Million Festnahmen pro Jahr; in den Vereinigten Staaten leben nach verschiedenen Schätzungen zwischen elf und 14 Millionen Ausländer ohne gültige Papiere. Die Haft- und die Abschiebelogistik erschweren das Vorhaben der Massendeportationen weiter. Die Trump-Regierung plant, auf 100.000 Abschiebehaftplätze zu kommen, und will dafür auch Gebäude auf Militärstützpunkten für viel Geld umwidmen. Sie hat beim Kongress außerdem die Mittel für eine personelle Verstärkung der ICE beantragt.
Offenbar setzt die Regierung aber auch darauf, unter den Migranten ein Klima der Angst zu schaffen, auf dass mehr von ihnen freiwillig das Land verlassen. So erklärt sich, dass die ICE-Beamten inzwischen häufig nicht nur schwer bewaffnet, sondern maskiert auftreten, und nicht mehr davor zurückschrecken, Eltern vor den Augen ihrer Kinder festzunehmen. Oft erfahren die Festgenommenen und deren Angehörigen nicht, wohin sie gebracht werden. Videos solcher für die Kinder traumatischer Erlebnisse verbreitet die Trump-Regierung selbst, ebenso Fotos von bei Festnahmen eingetretenen Türen oder eingeschlagenen Autofenstern.
Auch vor und in Kirchen oder Schulen werden nun Ausländer festgenommen. Als besonders perfide rügen Migranten-Aktivisten die neue Taktik, dass Beamte in Zivil Migranten festnehmen, wenn diese aufgrund einer Vorladung – etwa zur Prüfung ihres Asylgesuchs – zu einem Gerichtstermin erscheinen. Für die ICE hat das den Vorteil, dass eine Festnahme in einem gut gesicherten Gerichtsgebäude erheblich weniger Personal bindet als die Festnahme eines gesuchten Verbrechers oder etwa eine Razzia in einer Großschlachterei.
Wer sind die „illegalen Ausländer“ in den USA?
Rund ein Viertel der gut 50 Millionen im Ausland geborenen Einwohner der USA haben nach Schätzungen keine gültigen Aufenthaltspapiere. Trotz des beständigen Zustroms blieb ihre Zahl in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts mit etwa elf Millionen ungefähr konstant, weil viele Migranten entweder das Land wieder verließen oder einen Aufenthaltstitel bekamen. In Bidens Amtszeit dürfte die Gruppe der „Undocumented“ aber um zwei bis drei Millionen Personen gewachsen sein. Die zentralamerikanischen Länder El Salvador, Guatemala und Honduras haben Mexiko als Hauptherkunftsregion illegal eingewanderter Personen längst deutlich überholt.
Nahezu die Hälfte der Personen ohne Aufenthaltsstatus lebt seit mehr als zwanzig Jahren in den USA. Etliche von denen, die heute in Razzien aufgegriffen werden, sind als Kinder ins Land gekommen, und kennen keine andere Heimat. Das erklärt, warum es in vielen Gemeinden so viel Solidarität mit den Nachbarn gibt, deren Leben sich in vielen Fällen oberflächlich nicht von dem der US-Staatsangehörigen unterscheidet.
Sofern Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung selbst in den USA Kinder bekommen haben, sind diese automatisch amerikanische Staatsangehörige; Trumps Versuch, das per Dekret zu ändern, beschäftigt derzeit das Oberste Gericht. Eltern von US-Bürgern sind aber schon jetzt nicht vor Abschiebung geschützt. Das ist kein Nischenphänomen: Etwa neun Millionen minderjährige Amerikaner – zwölf Prozent aller Kinder im Land – haben mindestens ein Elternteil ohne Aufenthaltspapiere.
Trump hat mit zwei Federstrichen die Gruppe der „Illegalen“ um fast eine Million anwachsen lassen: Er hob mit sofortiger Wirkung den vorübergehenden Schutzstatus auf, den die Biden-Regierung Hunderttausenden Migranten aus Haiti, Kuba, Nicaragua und Venezuela verliehen hatte, für die ein Verwandter in den USA bürgte. Auch diese Ausländer, die nach Antragstellung in ihrem Herkunftsland geordnet in die USA kamen, sind bis auf weiteres von Abschiebungen bedroht. Der Supreme Court hob kürzlich die Eilverfügung auf, welche der Regierung die Vollstreckung bis zum Urteil im Hauptverfahren untersagt hatte.
Wovon leben die Migranten?
Nach einer Erhebung des Pew Research Center sind im Jahr 2022 8,3 Millionen Personen ohne Aufenthaltsstatus einer Arbeit nachgegangen, also etwa drei von vier Personen. Damit stellt die Gruppe der im Durchschnitt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich jüngeren „Illegalen“ knapp fünf Prozent der Arbeitskräfte im Land, obwohl ihr Bevölkerungsanteil bei nur drei Prozent liegt. In wichtigen Bundesstaaten wie Texas, Kalifornien oder Florida machen sie sogar zwischen sieben und rund acht Prozent der Arbeitnehmerschaft aus.
Zwischen zehn und 15 Prozent der Arbeitskräfte in der Baubranche und in der Landwirtschaft haben keine Aufenthaltsberechtigung. Den Arbeitgebern droht selten Strafverfolgung, wenn sie gefälschte Papiere akzeptieren. Eine seltene Ausnahme war die Verurteilung eines Schlachtunternehmers, bei dem schon 2008 mehr als 400 illegal eingewanderte Arbeitnehmer aufgefunden wurden; er hatte ihnen offenbar selbst beim Fälschen der Dokumente geholfen. Trump aber nutzte sein Begnadigungsrecht und reduzierte die Haftstrafe. Seit langem stehen gerade die Republikaner unter dem Druck von Arbeitgebern, ihnen die oft günstigen, genügsamen und gut ausgebildeten Arbeitnehmer ohne Aufenthaltspapiere nicht wegzunehmen.
Sie arbeiten in aller Regel nicht schwarz. Vielmehr beläuft sich das jährliche Steueraufkommen der „Undocumented“ auf rund 100 Milliarden Dollar; etwa 60 Prozent davon gehen an den Bund. Der Steuersatz entspricht dabei trotz der im Durchschnitt niedrigeren Löhne in vielen Bundesstaaten dem der wohlhabendsten Amerikaner im Staat, da die Arbeitnehmer ohne Aufenthaltspapiere nicht in der Lage sind, Steuervergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Außerdem bleiben sie von vielen Sozialleistungen ausgeschlossen, die aus Steuermitteln bezahlt werden. Für die Sozialversicherung etwa wäre es ein herber Schlag, wenn die Beiträge von „illegalen“ Arbeitnehmern wegfielen, die selbst keine Ansprüche erwerben, sofern sie nicht eingebürgert werden.
Die Finanzverwaltung hat den Steuerzahlern ohne Aufenthaltspapiere versichert, ihre Daten vertraulich zu behandeln, doch die Trump-Regierung hält sich nicht daran und gibt die Daten offenbar der Abschiebepolizei weiter.
Illegal eingewanderte Migranten haben sehr viel weniger Ansprüche auf Sozialleistungen als in Deutschland. Allerdings fühlen sich auch in den USA viele Kommunen überfordert damit, eine rudimentäre Erstversorgung für Neuankömmlinge zu organisieren und zu finanzieren. Seitdem insbesondere die republikanische Regierung des Staats Texas zu Bidens Regierungszeit angefangen hat, Migranten in großem Stil in demokratisch regierte Städte im Nordosten des Landes zu bringen und dort auszusetzen, ist das ein im ganzen Land bekanntes Problem.
Stehen Migranten in Los Angeles nicht unter besonderem Schutz?
Ja, der ganze Staat Kalifornien hat sich wie viele andere demokratisch dominierte Staaten und Kommunen zum sicheren Zufluchtsort erklärt. Das bewahrt illegal eingewanderte Einwohner aber nicht davor, von Bundespolizisten festgenommen zu werden. Nur der Bund ist für die Durchsetzung des Einwanderungsrechts zuständig, und das kann ihm kein Staat und keine Stadt verwehren. Allerdings verweigert Kalifornien den Bundesbeamten die direkte Unterstützung.

Es gibt keine einheitliche Definition von „sanctuary cities“, denen Trump wiederholt den Kampf angesagt hat. Sie teilen aber die Auffassung, dass es der allgemeinen Sicherheit dient, wenn sich alle Einwanderer ohne Rücksicht auf ihren Aufenthaltsstatus angstfrei an die städtische oder die Polizei des Bundesstaats sowie an andere Behörden wenden können. Meistens ist es den Polizisten in „sanctuary cities“ verboten, etwa bei Verkehrskontrollen anlasslos nach dem Aufenthaltsstatus zu fragen.
Zum Leidwesen der ICE gilt das oft auch für die Gefängnisse: Wer wegen eines kleinen Vergehens festgenommen wird, muss dem Sheriff keine Aufenthaltspapiere zeigen. Deshalb kann die Abschiebepolizei nicht einfach ohne Aufwand in kalifornischen oder New Yorker Gefängnissen einmal pro Woche „Illegale“ abholen, um sie abzuschieben.
Trump hat nicht nur erklärten „sanctuary cities“, sondern sogar ihren Beamten rechtliche Schritte angedroht, wenn sie weiterhin nicht mit der ICE kooperieren. Bisher ist aber kein Fall bekannt geworden, in dem ein Behördenmitarbeiter, Polizist oder Sheriff einer Kommune vom Bund dafür verklagt worden wäre, dass er sich an das Recht seines Bundesstaates gehalten hat.