Der Preis für den Kontrollverlust

9

Die Lage in den Vereinigten Staaten und in Europa ist nicht in jeder Hinsicht vergleichbar, wenn es um irreguläre Mi­gration geht. In den USA geht es vorwiegend um illegale Einwanderer. Viele davon kamen aus Lateinamerika. Sie leben zum Teil schon seit vielen Jahren unter dem Radar der Behörden und haben keine Aussicht auf einen legalen Aufenthalt. Das kann zu der paradoxen Situation führen, dass ihre in den Staaten geborenen Kinder die US-Staatsangehörigkeit haben, während sie selbst von Ausweisung bedroht sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Leute ein Rückgrat der amerikanischen Volkswirtschaft sind, nicht nur im Gewerbe. Auch die Mittelschicht des Landes nutzt ihre Dienste mit großer Selbstverständlichkeit, von der Putzfrau bis zum Gärtner.

In Europa geht es dagegen hauptsächlich um Asylbewerber. Illegal ist hier in der Regel nur die Einreise, aber mit dem Antrag erhalten die Migranten Rechtsschutz und vor allem Zugang zum großzügigen Sozialsystem in den EU-Staaten. Eine Ausweisung erfolgt in der Regel erst nach langwierigen Verwaltungs- und Gerichtsprozessen, oft endet die Sache mit einer Duldung. Durchsuchungen zur Herbeiführung einer Abschiebung finden aber auch hier statt. Eine Nationalgarde gibt es in Deutschland nicht, und die Bundeswehr hätte nicht die Zuständigkeit. Aber dass der Staat versucht, illegale Aufenthalte zu beenden, zumal von Straftätern, ist keine Spezialität von Trump. Schon allein deshalb sollte man differenziert auf das blicken, was in Los Angeles vor sich geht.

Deutsche Wende in der Asylpolitik

Erstaunlich ähnlich sind die politischen Auswirkungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Seit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus empfindet man gerade in Deutschland wieder viel Befremden über Amerika, aber hier sollte man zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist seine neoisolationistische Außenpolitik, die auch eine Reaktion auf die Umbrüche im globalen Machtgefüge ist (Aufstieg Chinas). Sie trifft Europas Sicherheitskonzeption bis ins Mark, woran die Europäer aber auch selbst schuld sind.

Im Umgang mit irregulärer Migration verfolgt Trump dagegen im Grundsatz eine Linie, die sich auch in Europa durchsetzt, sowohl in einzelnen Staaten als auch in der EU. Dass er sich kürzlich im Weißen Haus mit Merz so gut verstanden hat, lag zu einem nicht geringen Teil an der Wende in der Asylpolitik, die der Kanzler vollziehen will. Trump selbst erinnerte an die Differenzen, die er bei diesem Thema mit Merkel hatte, und das war nicht übertrieben. Die frühere Kanzlerin stand für eine Politik, für die es heute keine Mehrheiten mehr gibt, weder in den Vereinigten Staaten noch in den meisten europäischen Staaten.

Eine radikale Reaktion auf eine radikale Politik

Im Kern geht es um die Frage, wie viel Migration westliche Länder vertragen. Dass hier selbst klassische Einwanderungsländer wie die USA inzwischen an die Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz stoßen, muss zu denken geben. Der Aufstieg Trumps und der diversen rechtspopulistischen Bewegungen in Europa wäre ohne die freizügige Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte nicht möglich gewesen.

Im Grunde erleben wir eine radikale Reaktion auf eine radikale Politik. Die Vorstellung, dass jeder auf der Welt sich überall niederlassen dürfe, war früher nur eine linke Utopie. Die Praxis in vielen westlichen Staaten ist ihr aber faktisch ziemlich nahegekommen. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Die Rechte und Ansprüche aus westlichen Verfassungen millionenfach Migranten zu gewähren, ohne deren Zugang zu steuern, war eine materielle Überforderung des Staates und eine mentale vieler Bürger.

Leider haben sich die zentristischen Parteien, die traditionell im Westen regierten, dieser Einsicht zu lange verschlossen. Das demokratisch geprägte Los Angeles, das nun im Fokus steht, ist eine sogenannte „sanctuary city“, in der die lokalen Behörden sich nur begrenzt an Maßnahmen gegen illegale Einwanderer beteiligen dürfen; in der EU hat man wiederum der Erosion des Dublin-Systems tatenlos zugesehen. Der Preis dafür ist hoch: Nichts hat so zur Delegitimierung öffentlicher Institutionen beigetragen wie die unkontrollierte Migration. Das linksliberale Milieu wundert sich oft darüber, warum Trump oder die AfD trotz Radikalisierung weiter Zuspruch erhalten. Es liegt daran, dass die linken Parteien und die mit ihnen sympathisierenden Medien das Thema bis heute nicht ernst genug nehmen und seine Begleiterscheinungen wie Kriminalität, Anschläge oder kulturelle Konflikte immer wieder kleinreden.

Der amerikanische Rechtsstaat wird in Los Angeles nicht untergehen. Die Angriffe auf Vollzugsbeamte und die Randale auf der einen Seite und der Einsatz von Soldaten auf der anderen Seite zeigen aber, was nicht nur in Amerika verloren gegangen ist: der Wille zur zivilisierten Beilegung gesellschaftlicher Konflikte. In Europa steht noch mehr auf dem Spiel: letztlich der Bestand der EU.