Warum Cannabis bei Senioren beliebter wird

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Stand: 11.06.2025 14:34 Uhr

Ein wachsender Anteil älterer Menschen nutzt regelmäßig Cannabis – oft, um Beschwerden zu lindern. Klare medizinische Daten fehlen meist, trotzdem wagen Senioren den Selbstversuch.

Ullrich Ehnert hat sein Leben lang hart gearbeitet. Er war Tischlermeister und packt zu Hause im Garten mit an. Wenn sein Körper es zulässt. Denn von der Arbeit hat er es an der Hüfte und im Rücken. Lange Zeit hat er die Schmerzen mit Tabletten bekämpft, aber richtig geholfen haben die ihm nicht. “Und da hat mein Sohn gesagt: Versuch’s doch mal mit Cannabis.”

Lange überredet werden musste er nicht. “Wenn man solche Schmerzen hat, dann probiert man das auch mal aus.” Das Ergebnis hat ihn überrascht. “Die Muskeln entspannen sich, das merkt man richtig. Und dann lassen die Schmerzen nach, bis sie ganz weg sind. Das ist herrlich. Du kannst dich wieder voll richtig bewegen und im Garten hantieren und alle Arbeiten machen.”

Warum sich viele für Cannabis-Selbstmedikation entscheiden

Ein Rezept für eine medizinische Cannabis-Therapie hat Ehnert nicht. Das würde er auch nur schwer bekommen. Denn bevor ein Facharzt Cannabis verschreiben darf, müssen erst alle anderen Mittel und Wege ausgeschöpft sein, sagt Lilit Flöther. Die Anästhesiologin am Universitätsklinikum in Halle ist Expertin für Schmerztherapie und behandelt seit vielen Jahren Patienten mit Cannabis und Cannabis-Medikamenten wie Dronabinol. Hält sie den Einsatz dieser Mittel für sinnvoll, muss sie den Krankenkassen gegenüber gut begründen, “dass die Krankheit wirklich schwerwiegend ist, wie stark und wie lange die Lebensqualität schon von Schmerzen beeinträchtigt ist und welche medizinischen Maßnahmen ich zuvor durchgeführt habe”.

Grund für die strengen Regeln ist, dass es immer noch sehr wenig umfangreiche klinische Tests und Daten zu Wirkungen und Risiken von Cannabis gibt. Der Einsatz von Cannabis in der Medizin ist in Deutschland zwar seit 2017 gesetzlich erlaubt. Doch verblindete und randomisierte Studien, die Cannabis-Therapien mit bereits zugelassenen Verfahren vergleichen, fehlen für viele Anwendungen noch. Die aufwendigen Untersuchungen dauern oft viele Jahre.

Cannabis als Medizin: Was Daten aus Deutschland zeigen

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat zwar 2022 Ergebnisse einer Begleiterhebung zur Einführung des Gesetzes vorgelegt. Doch die Untersuchung trägt vor allem Beobachtungen zusammen und ist in vielerlei Hinsicht nur eine Sammlung von Hinweisen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Insgesamt 16.809 Fälle wurden einbezogen – nicht besonders viel dafür, dass über fünf Jahre hinweg erhoben wurde.

Einerseits zeigte sie ein reges Interesse von vor allem älteren Patienten. Das Durchschnittsalter lag bei 57 Jahren. Mehr als drei Viertel (76,4 Prozent) setzten Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen ein, außerdem gegen Spastiken, Anorexie und Übelkeit. 14,5 Prozent der Patienten waren an Krebs erkrankt, 5,9 Prozent hatten eine Multiple Sklerose. Vielen helfen die Wirkstoffe THC und CBD, aber längst nicht allen. Ein knappes Drittel der Patienten brach eine Therapie innerhalb eines Jahres wieder ab, in 38,5 Prozent dieser Fälle wegen fehlender Wirkungen. “Cannabis ist kein Wundermittelmedikament, das sehe ich bei mir in der Ambulanz ganz oft”, ist auch das Fazit der Schmerzmedizinerin Lilith Flöther.

Trotz Risiken: Anteil älterer Menschen unter Cannabis-Nutzern wächst

Es gibt Hinweise, dass Cannabis durchaus Vorteile gegenüber anderen Medikamenten hat. Das Risiko, schwer abhängig zu werden, ist wahrscheinlich deutlich geringer als bei Opioiden wie Morphium. Und tödliche Überdosierungen sind mit Cannabis auch nicht möglich. Wahrscheinlich schädigen THC und CBD die Leber auch weniger als viele andere Schmerztabletten. Trotzdem gibt es Risiken. Denn THC hat, besonders bei hohen Dosierungen, eine psychoaktive Wirkung.

Eine neue Studie aus den USA warnt deshalb, dass der Cannabisgebrauch auch für Senioren riskant sein kann. Dort wächst der Anteil der Menschen über 65 Jahren derzeit kontinuierlich von Jahr zu Jahr. Das zeigt der National Survey on Drug Use and Health. Gaben 2021 noch 4,8 Prozent der Senioren an, im letzten Monat Cannabis genutzt zu haben, waren es 2023 bereits sieben Prozent. Die meisten von ihnen litten an chronischen Krankheiten, an Herzleiden, Diabetes, Bluthochdruck, an Krebs oder an Atemproblemen.

Missbrauch von Privatrezepten für Medizinal-Cannabis

Im April 2024 hatte die damalige Ampelkoalition Cannabis teilweise legalisiert. Ein offener Verkauf in Läden ist zwar nicht erlaubt. Aber Ärzte dürfen nun Privatrezepte ausstellen, die Patienten erlauben, auf eigene Rechnung Medizinalcannabis zu kaufen. Seitdem registriert das BfArM einen starken Anstieg der Importe. Über 50 Tonnen Medizinalcannabis wurden im zweiten Halbjahr 2024 nach Deutschland eingeführt. Und im ersten Quartal 2025 sind diese Mengen weiter angestiegen.

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) vermutet, dass vor allem Freizeitkonsumenten die Möglichkeit nutzen, sich durch Fernbehandlungen auf einfache Art ein Privatrezept zu verschaffen, um so an medizinisches Cannabis zu kommen. Jakob Manthey, Gesundheitswissenschaftler am Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung an der Universität Hamburg, überrascht diese Entwicklung nicht. Im Fachblatt The Lancet Regional Health hat er bereits im Mai 2024, also kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes durch den damaligen Bundestag, vor dieser Möglichkeit gewarnt.

Etwa jeder Fünfte nutzt Cannabis aus medizinischen Motiven

Doch Manthey beruhigt auch. Denn insgesamt scheint der Anteil der Menschen, die grundsätzlich Cannabis nutzen, durch die Teillegalisierung erst einmal nicht gewachsen zu sein. Menschen weichen also lediglich vom bisherigen Schwarzmarkt auf das Medizinalcannabis aus. Und: Ein Teil der zusätzlichen Nachfrage geht wahrscheinlich durchaus auf medizinische Motive zurück. “Ich gehe davon aus, dass wenigstens 20 Prozent der Cannabiskonsumenten mindestens teilweise medizinische Motive haben”, sagt Manthey.

Aus Sicht der Forschung sei der Übergang zwischen medizinischer Nutzung und Freizeitkonsum mitunter fließend, beispielsweise wenn jemand Cannabis nutze, um besser schlafen zu können oder die eigene Stimmung aufzuhellen. Problematisch sei, dass es für viele dieser Zwecke keine Belege gebe, dass der Einsatz von Cannabis wirksam und sicher sei.

Schmerzfreiheit dank Cannabis

Ullrich Ehnert verzichtet auf den Kauf von Cannabis mittels Privatrezept. Stattdessen hat er zusammen mit seinem Sohn und weiteren Interessenten einen Cannabis-Sozial-Club gegründet. Der Verein baut die Hanfpflanzen für den eigenen Konsum der Mitglieder an – die meisten wollen die berauschende Wirkung genießen. Bei Ehnert aber steht der medizinische Gebrauch klar im Vordergrund. “Das ist ein ganz anderes Lebensgefühl, wenn du keine Schmerzen mehr hast, und du kannst dich bewegen, wie du willst und es tut dir nichts weh: Das ist wunderbar”, sagt er.