Der 6. Dezember 2019 war der Tag, an dem die lange politische Karriere von Norbert Walter-Borjans gekrönt wurde. Zusammen mit Saskia Esken setzte sich der damals 67-Jährige in einem langen Auswahlprozess durch, um die SPD anzuführen. In einer 45-minütigen Rede konnte Walter-Borjans vorzeichnen, wie er sich die Zukunft der Sozialdemokratie vorstellt. Gleich zu Beginn wandte er sich gegen scharf gegen Aufrüstungsbestrebungen. „Nicht die militärische Zurückhaltung ist das Unnormale, das Unnormale ist das wieder zunehmende Säbelrasseln in der Welt“, sagte er vor dem Parteitag in Berlin und erntete Applaus. Im Juni 2025 denkt er an die verteidigungspolitischen Passagen in seiner Rede zurück. Sie stehen auch drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine für seine Grundüberzeugung: Verhandlungen und Dialog führen zum Frieden, Aufrüstung nicht. Sieht seine Partei das auch so, noch immer? Walter-Borjans’ Antwort ist klar. Gemeinsam mit Rolf Mützenich und Ralf Stegner hat er ein „Manifest“ für Deeskalation, gegen höhere Verteidigungsausgaben und damit auch gegen den Kurs seines Nachfolgers Lars Klingbeil verfasst.
Im Moment haben wir ein beiderseitiges Misstrauen, das nicht wegzudiskutieren ist. Insofern: nein. Wir haben oft genug erlebt, dass Putin Ansagen gemacht hat, an die er sich am nächsten Tag nicht mehr gehalten hat. Wir haben auch erlebt, dass die USA aus Vereinbarungen ausgestiegen sind.
Ich stelle mir die umgekehrte Frage: Woher nimmt man den Glauben, mit einem Rüstungsrausch den Frieden in Europa herzustellen? Das ist für mich eine naive Vorstellung. Man muss es doch hinbekommen, Verhandlungsangebote zu erneuern – ohne auf Verteidigungsfähigkeit zu verzichten und die Souveränität der Ukraine anzuzweifeln.
In dem „Manifest“ der „SPD-Friedenskreise“ bezeichnen Sie die Anhebung der Verteidigungsausgaben als „irrational“. Was wäre die rationale Alternative?
Ich vertrete seit Jahren die Auffassung, dass die Koppelung der Verteidigungsausgaben an die Wirtschaftskraft falsch ist. Wir müssen uns fragen, was materiell nötig ist, um einem potenziellen Gegner von einer Attacke abzuhalten. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir 50, 60 oder 70 Milliarden brauchen, das müssen Militärstrategen machen – der Rüstungsetat in Deutschland hat aber schon heute eine Größenordnung, die alles andere als Hilflosigkeit ausstrahlt. Zugleich ist für alles andere immer zu wenig Geld da.
Wir sind heute offensichtlich in einer Situation, in der sich Europa selbst helfen muss – darauf müssen wir natürlich reagieren. Wenn man auf Grundlage sachlicher Analysen zu dem Schluss kommt, dass Europa insgesamt mehr investieren soll, dann müsste das verknüpft sein mit Abrüstungsangeboten und Vertrauensbildung auf beiden Seiten. In unserem Papier steht nicht, dass wir Putin vertrauen und ihn freundlich bitten, nicht mehr so aggressiv zu sein, das würde nichts bringen. Aber eine reine Aufrüstungspolitik führt auch nicht zum Frieden.
Sie verweisen darauf, dass die Wahrung der territorialen Integrität der Staaten 1975 in Helsinki vereinbart wurde. Braucht es nicht eine fundamental neue Politik, wenn sich Russland an eben diesen Grundsatz nicht mehr hält?
Ich glaube nicht, dass die Grundsätze verändert werden müssen, auch wenn die damals gefundene Basis erodiert ist. Irgendwann werden wir aufarbeiten müssen, wer zu welchem Zeitpunkt die eigenen Interessen über diese gemeinsame Basis gestellt hat – bis es zu diesem Punkt kam, an dem Putin sich zu seinem menschenverachtenden Angriff entschlossen hat.
Beschreiben Sie hier, dass es eine westliche Mitschuld an dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt?
Natürlich haben gegenseitige Schritte zur Eskalation beigetragen und wir müssen aufpassen, dass wir damit nicht immer weitermachen. Und dennoch gibt es keinerlei Rechtfertigung dafür, Millionen Zivilisten in die Flucht zu treiben, Zigtausende zu töten und ein Land zu verwüsten, wie es Putin macht.
Sie fordern „gemeinsame Sicherheit“ mit Russland, wie es Ronald Reagan und Michail Gorbatschow im Jahr 1987 vereinbart haben. Beitragen sollen auch „technische Kooperationen“, etwa im Bereich der Cybersicherheit. Ist das angesichts zahlreicher hybrider Angriffe auf Deutschland wirklich eine gute Idee?
Im Augenblick ist das schwer vorstellbar, das räume ich ein. Ich hätte Olaf Scholz vor dem Überfall durchaus empfohlen, mal mit Russland darüber zu sprechen, ob sie nicht auf eine andere Ebene der wirtschaftlichen Kooperation kommen wollen – weil es deutlich gegen die russischen Interessen geht, die eigenen Exporte mit einem Krieg zu gefährden. Das wäre eine Chance zur Deeskalation gewesen. Dass man damit jetzt nicht kommen kann, ist mir klar, da hat Putin sehr viel kaputt gemacht. Es bleibt aber dabei: Eine Eskalationsspirale ist keine Antwort, daraus kann keine Friedenssicherung entstehen. Darüber muss eine Partei und auch eine Republik sprechen können.
Der Satz, die Sicherheit Europas sei nicht mehr mit, sondern gegen Russland zu definieren, ist sehr stark mit ihm verbunden. Er gibt die Meinung vieler an der Parteibasis, in der Bundestagsfraktion und in der Bundesrepublik aber nicht wieder. Was fehlt, ist die Doppelbotschaft: Verteidigungsbereitschaft und unablässige Aufforderung zum Dialog. Es wäre ein falscher Weg, wenn Lars Klingbeil nur auf Aufrüstung setzen würde.
Fällt Klingbeil bei dem Thema auch auf die Füße, dass er die Macht in der Partei ganz auf sich selbst konzentriert hat – und das nicht jedem gefällt?
Ich bin sehr geprägt worden von Willy Brandt und Johannes Rau. Ich habe erkannt, wie gut diese Führungspersönlichkeiten der SPD daran getan haben, nicht nur verschiedene Strömungen zu berücksichtigen, sondern dabei sogar die Widerspenstigsten in ihre Nähe zu holen und mit ihnen die notwendigen Debatten zu führen. Anschmiegsamkeit an einen Machtfaktor ist in einer Partei nie gut, das Draußenhalten von anstrengenden Debatten auch nicht. Schon gar nicht in der diskussionsfreudigen SPD.
Es wäre vermessen, hier von einem Zufall zu sprechen. Ein Parteitag ist eben wichtig, wenn es um Themen wie die Machtkonzentration in der Partei und vor allem auch um ein neues Grundsatzprogramm geht.
Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter schreibt, mit dem Papier wolle man die Ukraine der Vernichtungsabsicht Russland ausliefern – „und uns gleich mit“. Mit solchen Reaktionen konnte man rechnen. Wollen Sie die Koalition mit dem Papier ins Wanken bringen?
Das war 2019 zu meiner Zeit als Parteichef schon nicht meine Absicht, obwohl es stets mit mir verknüpft wurde, und es ist sie auch heute nicht. In einer Koalition sollten Parteien aber ihr Profil behalten. Dabei sollte man mit dem Aufrüsten nicht nur nach außen aufpassen, sondern auch nach innen. Mit gleichem Geschütz könnte ich Leuten wie Herrn Kiesewetter vorwerfen: Ihr wollt offenbar Krieg. Auf diesen Vorwurf verzichte ich, und ich würde darum bitten, dass auch die andere Seite auf hanebüchene Vorwürfe verzichtet. Keiner will den dritten Weltkrieg und keiner will, dass Putin Europa regiert.