Oh, wie schön ist Moskau

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Den Vortrag zu seiner Russlandreise beginnt Ralf Heber mit Corona, denn damit ging alles los. Und wie. Nur zwei Jahre vergingen zwischen dem ersten Lockdown und seiner ersten Reise nach Moskau, vier Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Pandemie, sagt Heber, habe ihm die Augen geöffnet. Seither sieht er die Welt ganz anders. So anders, dass er über Russland heute Dinge sagt wie „Putin ist einer der besonnensten und pfiffigsten Politiker weltweit“ und „Die Russen wollen die Nazis in der Ukra­ine ausmerzen, und da haben sie noch eine Menge Arbeit vor sich“.




Ralf Heber betreibt im sächsischen Hartmannsdorf einen Gasthof. An einem schwülen Samstag im Frühling hat er zum „Russischen Abend“ geladen. Es gibt Borschtsch und Pelmeni, dazu einen Reisebericht aus Moskau und Putin-Propaganda, oder wie Heber sagt: die Wahrheit. Dass die Mainstreammedien diese Wahrheit aufschreiben dürfen, daran hat Heber große Zweifel. Trotzdem darf die F.A.S. dabei sein. Denn Hebers Sendungsbewusstsein ist noch größer als sein Misstrauen. Dieser Text befriedigt es. Aber er ermöglicht auch Einblick in eine Welt, in der rechtsextreme Telegram-Gruppen und prorussische Youtube-Kanäle eher Mainstream sind als die F.A.S. Und er zeigt, dass russische Einflussnahme im vierten Kriegsjahr nicht auf die sozialen Medien beschränkt ist, sondern auch ganz analog daherkommt.










Der Gasthof Elli liegt an der Unteren Hauptstraße von Hartmannsdorf, gut 4000 Einwohner, keine 20 Minuten Autofahrt von Chemnitz entfernt, malerisch im Mittelsächsischen Hügelland gelegen. Die ersten Gäste trudeln von halb fünf an ein. Manche leben im Ort, andere in Chemnitz, einige sind aus dem Erzgebirge, Dresden oder Sachsen-Anhalt angereist, haben bis zu zwei Stunden Autofahrt auf sich genommen. Die Bedienung führt sie nicht in den unauffälligen Gastraum, sondern in einen speziell dekorierten Saal. Auf einem Banner an der Wand steht: „Schluss mit der Politik gegen das eigene Volk“, rechts davon hängt eine Russlandfahne. Eine Karikatur macht sich über Träger medizinischer Schutzmasken lustig, ein Plakat wirbt für „Druschba-Reisen“ – Druschba ist Russisch und bedeutet Freundschaft. Die Sonne scheint durch die Milchglasfenster auf drei lange Tische mit weißen, blauen und roten Servietten.

Kurze Umfrage an jedem Tisch: Welchen Bezug haben die Gäste zu Russland? Sind sie für den Reisebericht hier? Oder aus politischen Gründen, etwa weil sie Anhänger der Freien Sachsen sind? Bei der rechtsextremen Kleinpartei engagiert sich Heber; sie hat auf ihren Kanälen für den Abend geworben.








Ein Paar aus Pirna am mittleren Tisch erzählt, es sei schon mehrmals in Russland gewesen, liebe Land und Leute. „Die Größe, die Dimension“, sagt er und zeigt ein Handyvideo aus der transsibirischen Eisenbahn. Da könne ein Frankreichurlaub einfach nicht mithalten. Heber kennen die beiden nicht. Nach der Dekoration gefragt, sagt er: „Man nimmt es zur Kenntnis.“ Und sie: „Da kann man auch ins Handy gucken, so was schicken doch die Leute in ihrem Whatsapp-Status. Das finden wir uninteressant.“

Ein Mann Mitte 50 am hinteren Tisch, der mit seinem erwachsenen Sohn aus dem Erzgebirge angereist ist, erzählt, in der Schule habe er Russisch gelernt, einen russischen Brieffreund gehabt. Bis heute möge er Russland, auch wenn er leider noch nie da gewesen sei. „Die Menschen dort haben noch Werte. Die sind im Westen ganz schön runtergegangen.“ Welche Werte er meint? „Familienleben. Alt und Jung zusammen. Da ist noch Zusammenhalt.“ Er sei eher ein unpolitischer Typ, aber die Freien Sachsen finde er schon gut. Dann sagt er noch, dass Großbritannien eine Allianz zwischen Russland und Deutschland verhindere. „Weil sie gemeinsam zu stark wären.“ Das sei schon im Zweiten Weltkrieg so gewesen. Und, mit derselben ruhigen Plauderstimme, als würde er über das Wetter sprechen: „Bei der Corona-Impfung ging es um Bevölkerungsreduktion.“ Woher er diese Informationen habe? Aus „patriotischen Gruppen“ bei Telegram.

Am vorderen Tisch wollen sie nicht mit der Presse reden. Aber man kann ihnen beim Gespräch zuhören. „Wenn jemand was über Hitler sagt, ziehe ich immer die Amerikakarte, wie die die Ureinwohner ausgerottet haben“, sagt ein junger Mann. Eine ältere Frau sagt: „Wir werden erst Frieden haben auf Erden, wenn die Menschen ausgerottet sind.“ Der junge Mann entgegnet: „Ich sehe das anders, für mich ist die Erde ein Trainingsplanet und gar nicht programmiert für Frieden.“ Ein anderer Mann spricht dann doch noch mit der Presse. Um zu sagen, dass die von oben gesteuert sei, wie in der DDR. Und dass auch sein Vater, der noch bis zur Pandemie sein „Wurstblatt“ gelesen habe – die „Mitteldeutsche Zeitung“ – längst damit aufgehört habe. „Weil nur gelogen wird.“








Es ist jetzt Viertel vor sieben, die sauren Gurken mit Kaviar-Ei und der Borschtsch wurden schon serviert, und Heber beginnt mit seinem Vortrag. Kurz nach Kriegsbeginn sei er eingeladen worden, an einem „internationalen Kongress“ mit „Patrioten“ aus zwölf Ländern in Moskau teilzunehmen. Wer genau ihn einlud und ob diese Einladung auch die Reisekosten umfasste, verrät Heber nicht, zumindest nicht auf Nachfrage der Mainstream-Medien. Es sei jedenfalls ein „super Kongress der Völkerverständigung“ gewesen, mit Gesprächsterminen etwa bei Marija Butina. „Die war sehr gut informiert, kannte auch den Säxit.“ Der Säxit, der Austritt Sachsens aus der Bundesrepublik, ist eine der Forderungen der Freien Sachsen. Butina war einst als russische Agentin in den Vereinigten Staaten aufgeflogen, heute sitzt sie für Putins Partei Einiges Russland in der Duma. Es folgten, fährt Heber fort, weitere Russlandreisen, eine als „Wahlbeobachter“. Darüber sagt er: „Ich kann ganz klar sagen, das ist mehr als seriös abgelaufen.“

Dann zeigt Heber Fotos seiner letzten Russlandreise: der Rote Platz, Kirchen, prachtvolle historische U-Bahnhöfe und prall gefüllte Supermarktregale. Der Subtext ist klar: In Moskau sind U-Bahnhöfe Orte der Schönheit, nicht der Angst, und die Sanktionen funktionieren nicht. Russland halte viele Rekorde, so Heber, was nicht berichtet werde, weil die Russen ja so böse seien: „Aber das Riesenrad in Moskau ist größer als das Golden Eye!“ Der junge Mann, der die Erde für einen Trainingsplaneten hält, fragt seine Begleiterin halblaut: „Was ist das goldene Ei?“ Sie: „Das ist, glaub ich, in London.“ Tatsächlich ist Golden Eye der Name eines James-Bond-Films, und das Riesenrad heißt London Eye, aber was soll’s: Das Moskauer Riesenrad ist laut Wikipedia, das bei Heber nur „Lügipedia“ heißt, tatsächlich fünf Meter höher.








Heber wird bald 60, die Haare, die ihm geblieben sind, trägt er zu einem dünnen Zopf gebunden. Er bezeichnet sich selbst als Patrioten und Friedensaktivisten. Auf seinem Hemd prangt eine Friedenstaube, um sein Handgelenk trägt er drei Armbänder in Schwarz, Weiß und Rot: die Farben des deutschen Reichs, das aus seiner Sicht fortbesteht, während die Bundesrepublik nur eine GmbH sei. Das ist Reichsbürgerideologie pur. In die „rechte Ecke“ will Heber trotzdem nicht gestellt werden, schließlich trage er keine Springerstiefel, und überhaupt: Hitler, das wolle heute niemand mehr wahrhaben, sei doch ein Linker gewesen.

Dass der Gastraum vorne so unauffällig wirkt, ist kein Zufall. „Man will die letzten Mainstream-Gläubigen ja noch haben, die sollen hier ruhig ihr Schnitzel essen“, sagt Heber. „Wir Patrioten können mit allen leben.“ Früher, vor dem „großen C“, wie er die Pandemie nennt, gab es hier Livemusik und Tanzabende. Lange vorbei. Montags ist der Gasthof geschlossen, dann fährt Heber mit seiner Russlandfahne auf Demos in ganz Sachsen. Dienstags veranstaltet er seit der Pandemie einen Stammtisch für „Aufgewachte“. Dort sei auch die Idee zu den Freien Sachsen entstanden. Heber sagt, er unterstütze die Partei finanziell und sie mache Werbung für ihn. Seine Druschba-Fahrten aber fänden unabhängig von der Partei statt.

In seinem Vortrag zeigt Heber allerdings auch ein Interview mit RT DE, in dem er und sein Reisepartner als „Vertreter der Partei Freie Sachsen“ angekündigt werden. RT DE, das deutschsprachige Programm des russischen Staatssenders, stellte seine Aktivitäten in Deutschland im Jahr 2022 nach einem Verbot ein. Über VPN, auf sogenannten Spiegelseiten und auf russischen Websites finden die Inhalte aber immer noch Verbreitung. Heber berichtet bei RT DE, wie freundlich die Russen seien, dass die „Politmarionetten in Berlin“ gegenüber Russland im Sinne Amerikas, aber nicht im Sinne der eigenen Bevölkerung agierten und wie erschreckend es sei, dass nun schon versucht werde, eine Oppositionspartei (die AfD) zu verbieten.








Heber spielt außerdem ein Video mit Freie-Sachsen-Logo ab, das er und einer seiner Begleiter auf ihrer Reise aufgenommen haben. Darin erzählen sie, wie sie mit Unterstützung einer Dolmetscherin Fragebögen an Passanten verteilt haben. Inhalt: die deutsch-russische Freundschaft, aber auch die WHO und der Zwei-plus-vier-Vertrag – für Reichsbürger kein echter Friedensvertrag. Als das Video vorbei ist, berichtet Heber seinen Zuhörern im Gastraum konsterniert, dass die Mehrheit der befragten Russen die WHO befürworteten und dass viele tatsächlich glaubten, Deutschland sei souverän. Hier erntet er spöttisch-ungläubige Lacher aus dem Publikum.

Als auf einem Foto Kondensstreifen am Himmel zu sehen sind, erklärt Heber: Auch Chemtrails gebe es in Russland. Offenbar hören nicht alle seinem ausschweifenden Vortrag aufmerksam zu. Denn eine Viertelstunde später ruft ein Mann bei einem weiteren Foto erschrocken: „Die weißen Linien am Himmel!“ Seine Frau entgegnet tadelnd: „Das hat er doch schon gesagt.“

Die Überraschung darüber, dass es in Russland dasselbe Teufelszeug gibt wie in Deutschland, ist spürbar. Doch immer wieder kann Heber die Leute beruhigen, ihr Bild von einer besseren Welt in Russland wieder festigen. So berichtet er ausführlich vom Besuch des Bolschoi-Theaters in Moskau. Der große Kronleuchter habe 24.000 Kristalle, und an den unzähligen kleineren Leuchtern im gesamten Theater habe er nur eine einzige kaputte Glühbirne entdeckt – und die habe ein Techniker dann sofort ausgetauscht. Auch davon hat Heber ein Video.




Er redet schon gut zwei Stunden, und die Luft im Raum ist zum Schneiden dick, als er ein Foto von sich selbst in einem Spiegel des Theaters zeigt. Er lobt die Getränke dort, die in etwa so viel kosteten wie in anderen Gaststätten. „Wenn man dagegen in Dresden ins Theater geht: die Preise, nur peinlich.“ Seine Umfrage habe außerdem ergeben, dass die Löhne und Renten locker zum Leben reichten und kein Russe mehr als 30 Prozent seines Einkommens für Miete ausgebe.

Das nächste Bild zeigt eine altmodische Kastenspülung in einer Toilette in einer Gaststätte: „Uralt, aber funktioniert immer noch.“ Es folgen weitere Bahnhofsfotos („Wieder bissel Metro“) und der Ausspruch: „Wo man hinkommt: Es ist sauber und adrett.“ Dann das Bild eines Mannes hinter einem Tresen: „Mit diesem Ladeninhaber hatten wir das längste Gespräch, das ging bestimmt 20 Minuten, der war sehr gut informiert über die Mi­grationspolitik und den Taurus.“

Inzwischen wurden auch die Pelmeni und der Nachtisch serviert. Heber hat die Auswertung seiner „Umfrage“ präsentiert und Fotos vom Tag des Rückflugs von Moskau nach Kaliningrad (weiter kommt man wegen der Sanktionen nicht mit dem Flugzeug). Trotzdem zeigt er jetzt noch mal Fotos prächtiger U-Bahnhöfe. Eine Frau flüstert: „Außerhalb des Zentrums sehen die aber auch anders aus.“ Um halb zehn sagt Heber, dass noch viel zu tun sei, etwa die Wiederbelebung deutsch-russischer Städtepartnerschaften. Und natürlich träume er davon, eines Tages Putin zu treffen. Dann ist sein Vortrag vorbei.

Das Paar, das schon mehrmals in Russland war, ist enttäuscht. Es hatte sich tiefere Einblicke ins Land auch jenseits von Moskau erhofft. Auch die Darstellung der Preise kann die beiden nicht überzeugen: Sie haben mal darüber nachgedacht, nach Russland auszuwandern, wissen aber, dass sie sich das Leben dort in den Städten nicht leisten könnten.




Der Mann, dessen Vater nicht mehr Zeitung liest, ist hingegen angetan. Auf die Frage, wie er den Abend fand, antwortet er: „Cool. Das ist eine andere Welt dort drüben. Die U-Bahnhöfe im Vergleich!“ In Deutschland sei doch alles schmutzig und heruntergekommen, Frauen trauten sich nicht mehr in Busse und auf öffentliche Plätze. Und überhaupt: Es gehe ihm um Frieden. Auf die Frage, inwiefern Hebers Reisen dem Frieden dienten, reagiert er unwirsch. Natürlich könne ein Mann allein nicht den Krieg beenden. Aber zumindest mache Ralf Heber etwas, anstatt nur zu reden. „Ich finde das gut.“

Die ersten Gäste brechen auf. Andere unterhalten sich noch darüber, wann sie „aufgewacht“ seien. Ein Paar erst mit der Pandemie, ein Mann schon mit dem Untergang der DDR. Das Paar erzählt, es habe über 30 Jahre in der Nähe von Stuttgart gelebt, dort in der Autoindustrie gearbeitet und sei dann in den Osten zurückgekehrt, wegen der Familie. Als die Pandemie ausbrach und man vor allem zu Älteren Abstand halten sollte, pflegte sie die Eltern und Schwiegereltern, er arbeitete mit Hunderten Leuten auf einer Baustelle. „Er sagte zu mir: Was soll ich machen?“, erzählt sie. „Soll ich jetzt ausziehen?“ Stattdessen machten sie weiter wie bisher – und wandten sich vom „Mainstream“ ab. Er sagt, die Tausenden Toten in Bergamo seien doch nur erfunden worden, sie ereifert sich, dass es „keine 72 Geschlechter“ gebe, und behauptet, in der Ukraine dürfe kein Russisch mehr gesprochen werden. Bittet man sie, mehr zu erzählen, entgegnet sie, das fühle sich jetzt an wie damals in der DDR und sie wolle jetzt gar nichts mehr sagen.

Ist wirklich vor allem die Pandemie schuld an dem Wahnsinn hier? Oder hätte der sich auch ohne Lockdowns einen Weg gebahnt? Nach sechs Stunden im Gasthof hat man mehr Fragen als Antworten – und ist fast neidisch auf Ralf Heber, für den alles so vollkommen klar ist. Zum Abschied sagt er gönnerhaft, er hoffe, man habe etwas gelernt. Dann geht es raus aus Hartmannsdorf und nach Leipzig und damit, je nach Perspektive, zurück in die Normalität oder in den schmutzigen, linksgrün versifften Großstadtwahnsinn. So oder so aber in eine Stadt mit einem ausgesprochen schönen Bahnhof.