Ein Manifest gegen die Rückkehr des Faschismus

8

Das “Manifest der antifaschistischen Intellektuellen, 100 Jahre später“ wird parallel auf mehreren Plattformen nationaler Tageszeitungen veröffentlicht, darunter Guardian (Großbritannien, USA), El Pais (Spanien), Libération (Frankreich), La Repubblica (Italien), Australian Financial Review (Australien), Clarin (Argentinien), Scroll (Indien). Wie es zu dem historischen Papier vor hundert Jahren kam, lesen Sie im Begleitartikel unserer Italien-Kulturkorrespondentin Karen Krüger.

Am 1. Mai 1925, als Mussolini bereits an der Macht war, veröffentlichten eine Gruppe italienischer Intellektueller einen offenen Brief, in dem sie das faschistische Regime verurteilten. Die Unterzeichner – Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller und Künstler – verteidigten die Grundpfeiler einer freien Gesellschaft: Rechtsstaatlichkeit, persönliche Freiheit und unabhängiges Denken, Kultur, Kunst und Wissenschaft. Ihr offener Widerstand gegen die brutale Durchsetzung der faschistischen Ideologie – unter erheblichem persönlichen Risiko – bewies, dass Widerstand nicht nur möglich, sondern notwendig war. Heute, hundert Jahre später, ist die Bedrohung durch den Faschismus zurückgekehrt – und wir müssen erneut den Mut aufbringen, ihr entgegenzutreten.

Der Beginn moderner Diktaturen

Der Faschismus entstand vor einem Jahrhundert in Italien und markierte den Beginn moderner Diktaturen. Innerhalb weniger Jahre breitete er sich in Europa und weltweit aus, unter verschiedenen Namen, aber mit ähnlichen Strukturen. Wo immer er an die Macht kam, untergrub er die Gewaltenteilung zugunsten autokratischer Herrschaft, unterdrückte die Opposition mit Gewalt, kontrollierte die Presse, verhinderte Fortschritte bei den Rechten der Frauen und zerschlug die Kämpfe der Arbeiter für wirtschaftliche Gerechtigkeit. Unweigerlich durchdrang und verzerrte er alle Institutionen, die wissenschaftlicher, akademischer und kultureller Arbeit gewidmet waren. Sein Todeskult verherrlichte imperialistische Aggression und genozidalen Rassismus und führte zum Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust, zum Tod von Dutzenden Millionen Menschen und zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Gleichzeitig bot der Widerstand gegen den Faschismus und verwandte Ideologien einen fruchtbaren Boden für die Vorstellung alternativer Gesellschafts- und Weltordnungen. Die Nachkriegsordnung – mit der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, den theoretischen Grundlagen der Europäischen Union und den juristischen Argumenten gegen den Kolonialismus – war weiterhin von tiefen Ungleichheiten geprägt. Doch sie stellte einen entscheidenden Versuch dar, eine internationale Rechtsordnung zu schaffen: das Streben nach globaler Demokratie und Frieden, basierend auf dem Schutz universeller Menschenrechte – nicht nur der bürgerlichen und politischen, sondern auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.

Rechtsextreme Bewegungen weltweit

Der Faschismus ist nie verschwunden, doch für eine Zeit wurde er eingedämmt. In den letzten zwei Jahrzehnten jedoch haben wir eine neue Welle rechtsextremer Bewegungen erlebt, die oft unverkennbar faschistische Züge tragen: Angriffe auf demokratische Normen und Institutionen, wiederbelebter Nationalismus mit rassistischer Rhetorik, autoritäre Impulse und systematische Angriffe auf die Rechte derjenigen, die nicht in ein künstlich konstruiertes Bild traditioneller Autorität passen – begründet in religiöser, sexueller und geschlechtlicher Normativität. Diese Bewegungen sind weltweit wieder aufgetaucht – auch in lang etablierten Demokratien –, wo weit verbreitete Unzufriedenheit über das politische Versagen, wachsende Ungleichheiten und soziale Ausgrenzung erneut von neuen autoritären Führungsfiguren ausgenutzt wird.

Getreu dem alten faschistischen Drehbuch untergraben diese Figuren unter dem Vorwand eines uneingeschränkten Volksmandats nationale und internationale Rechtsstaatlichkeit, greifen die Unabhängigkeit der Justiz, der Presse, von Kultureinrichtungen, Hochschulen und der Wissenschaft an; sie versuchen sogar, essenzielle Daten und wissenschaftliche Informationen zu vernichten. Sie erfinden „alternative Fakten“ und „innere Feinde“; sie instrumentalisieren Sicherheitsbedenken, um ihre Macht und die der ultrareichen Eliten zu festigen, und bieten im Gegenzug Privilegien für Loyalität.

Eine unerbittliche Kampagne der Desinformation

Dieser Prozess beschleunigt sich, während abweichende Meinungen zunehmend durch willkürliche Inhaftierungen, Gewaltandrohungen, Abschiebungen und eine unerbittliche Kampagne der Desinformation und Propaganda unterdrückt werden – betrieben mit Unterstützung durch Medienmogule, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien – manche bloß nachgiebig, andere bekennende Techno-Faschisten.

Demokratien sind nicht fehlerfrei: Sie sind anfällig für Desinformation und noch nicht ausreichend inklusiv. Doch sie bieten von Natur aus fruchtbaren Boden für intellektuellen und kulturellen Fortschritt – und damit stets das Potenzial zur Verbesserung. In demokratischen Gesellschaften können Menschenrechte und Freiheiten erweitert werden, Kunst gedeiht, wissenschaftliche Entdeckungen florieren und Wissen wächst. Sie gewähren die Freiheit, Ideen herauszufordern und Machtstrukturen in Frage zu stellen, neue Theorien vorzuschlagen, auch wenn sie kulturell unbequem sind – was für den menschlichen Fortschritt unabdingbar ist. Demokratische Institutionen bieten den besten Rahmen zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten und die größte Hoffnung auf Erfüllung der Nachkriegsversprechen: das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, Teilhabe am kulturellen und wissenschaftlichen Leben sowie das kollektive Recht der Völker auf Entwicklung, Selbstbestimmung und Frieden. Ohne all das drohen der Menschheit Stillstand, wachsende Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Katastrophen – nicht zuletzt durch die existentielle Bedrohung der Klimakrise, die von der neuen faschistischen Welle geleugnet wird.

In unserer hypervernetzten Welt kann Demokratie nicht isoliert existieren. Wie nationale Demokratien starke Institutionen brauchen, ist auch die internationale Zusammenarbeit auf die wirksame Umsetzung demokratischer Prinzipien und auf Multilateralismus angewiesen, um die Beziehungen zwischen den Nationen zu regeln, sowie auf breit angelegte Beteiligungsprozesse, um eine gesunde Gesellschaft zu fördern. Rechtsstaatlichkeit muss über Grenzen hinweg gelten und sicherstellen, dass internationale Verträge, Menschenrechtskonventionen und Friedensabkommen eingehalten werden. Auch wenn die bestehende globale Ordnung und internationale Institutionen verbessert werden müssen, wäre ihr Abbau zugunsten einer Welt, die von roher Gewalt, transaktionaler Logik und militärischer Macht regiert wird, ein Rückfall in ein Zeitalter des Kolonialismus, des Leidens und der Zerstörung.

Wie im Jahr 1925 haben wir – Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller, Künstler und Weltbürger – die Verantwortung, das Wiedererstarken des Faschismus in all seinen Formen anzuprangern und ihm Widerstand zu leisten. Wir rufen alle, die die Demokratie schätzen, zum Handeln auf:

  • Nur gemeinsam können wir Einrichtungen der Demokratie, Kultur und Bildung verteidigen. Verstöße gegen demokratische Prinzipien und Menschenrechte aufdecken. Vorauseilendem Gehorsam verweigern.
  • Lasst uns unsere Stimmen erheben in kollektiven Aktionen, lokal und international. Boykottieren und streiken, wann immer dies erforderlich und möglich ist. Gemeinsam wird unser Widerstand unüberhörbar und schwerer zu unterdrücken.
  • Lasst uns Fakten und Beweise verteidigen. Kritisches Denken fördern. Und lasst uns auf dieser Basis in unseren Gemeinschaften Mut und Engagement zeigen.

Dieser Kampf ist fortlaufend. Mögen unsere Stimmen, unsere Arbeit und unsere Prinzipien ein Bollwerk gegen den Autoritarismus sein. Möge diese Botschaft eine erneuerte Erklärung des Widerstands sein.

Bis zur Veröffentlichung des neuen Manifests haben sich mehr als 400 Unterzeichner, darunter 31 Nobelpreisträger aus aller Welt, in die Unterschriftenliste eingetragen. Die Unterzeichner finden sie hier.

Ein Jahrhundert vorher

Es ist das Jahr 1925, die Faschisten haben die politische Macht übernommen und versuchen, die Gewalttaten der Bewegung zu legitimieren. Das philosophische Denken wird von Giovanni Gentile (1875-1944) und Benedetto Croce (1886-1952) bestimmt, die als Kollegen begonnen hatten und dann zu erbitterten Feinden wurden. Gentile wird zum einflussreichsten Intellektuellen der Faschisten, zu dessen Unterstützung er das „Manifest der faschistischen Intellektuellen an die Intellektuellen aller Nationen“ verfasst. Es soll den Ruf des Regimes, vor allem jenen auf internationalem Parkett, verbessern, der durch den Mord an Giacomo Matteotti angeschlagen  war. Das Manifest erscheint am 21. April 1925 in den wichtigsten Tageszeitungen, postuliert die Verbindung von Kultur und Faschismus als Grundlage der Revolution und entwirft eine Ursprungslegende der faschistischen als einer politischen und zugleich moralischen Bewegung. Die Unterzeichner sind etwa 250 Professoren, Intellektuelle und Künstler, unter ihnen der Futurist Filippo Tommaso Marinetti und der Schriftsteller Giuseppe Ungaretti.

Benedetto Croce antwortete mit einem Gegenmanifest, dem „Manifest der antifaschistischen Intellektuellen“, das am 1. Mai 1925 in den Tageszeitungen „Il Popolo“, „Mondo“ und anderen Zeitungen veröffentlicht wird. Croce legt in dem Dokument die Gründe für seine Ablehnung des Faschismus dar und geht auf jede Aussage des gegnerischen Manifests ein. Zentral in seiner Argumentation ist die Betonung der Rolle der Freiheit in der Kultur  und der Verantwortung ihrer Protagonisten. Sein Manifest ist eine Reaktion auf den Versuch, diese zu einem instrumentum regni zu machen.

Etwa 200 Intellektuelle unterzeichnen das Dokument, unter ihnen die Schriftstellerinnen Sibilla Aleramo und Matilde Serao sowie Giovanni Amendola, der künftige Drehbuchautor Corrado Alvaro, Giulio Einaudi, der 1933 in Turin den Verlag Einaudi gründen wird, der Lyriker und Übersetzer Eugenio Montale, der daraufhin von wichtigen kulturellen Ämtern enthoben wurde. Es machte eine Kluft zwischen Intellektuellen öffentlich, die bis dahin nur in Debatten in Zeitschriften und Briefwechseln zu Tage getreten war. Das Manifest war auch der letzte ausdrückliche Appell in der Presse gegen das faschistische Regime. Die sozialistischen und kommunistischen Zeitungen hatten sich entschieden, es nicht abzudrucken und deuteten das Dokument als eine Art Abrechnung zwischen verschiedenen Lagern der Bourgeoisie. (kkr)