Schengen-Vater Robert Goebbels: „Europa ist etwas Geniales“

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Herr Goebbels, vor 40 Jahren haben Sie Ihre Unterschrift unter ein Abkommen gesetzt, das Europa verändern sollte. Sie gelten als einer der Väter von Schengen.

Als Gastgeber bin ich quasi Namensgeber des Abkommens. Bei meiner Begrüßung sagte ich: Was wir hier unterzeichnen, wird in die Geschichte eingehen als Abkommen von Schengen. Jeder lachte, ich auch. Aber ich sollte recht behalten.

Sie glaubten also Ihren eigenen Worten nicht?

Ich hatte das eher scherzhaft gemeint und konnte mir nicht vorstellen, dass wir mit diesem ersten Schengenabkommen eine solche Dynamik lostraten.

Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande beschlossen damals, die Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen schrittweise zu beseitigen. Viel Beachtung fand das Vor­haben zunächst nicht.

Es war kaum Presse erschienen. Allein die Tatsache, dass die fünf Hauptstädte Staatssekretäre und nicht ihre Außen­minister entsandten, zeigt, dass niemand so recht an das Projekt geglaubt hat.

Einer der fünf Staatssekretäre waren Sie, zuständig für die auswärtigen Ange­legen­heiten Luxemburgs. Für den 14. Juni 1985 hatten Sie Ihre europäischen Kol­legen eingeladen, aber nicht etwa in ihre Hauptstadt, sondern in einen Winzerort.

Es ging mir um ein Symbol. Schengen, dieses Winzerdorf mit seinen 500 Seelen, liegt am Dreiländereck. Dort, wo Frankreich, die Bundesrepublik und Luxemburg zusammenstoßen. Dass ich einladen durfte, entsprang aber einem Zufall. Wenn Sie mir erlauben, muss ich etwas ausholen, sonst versteht man das Ganze nämlich nicht.

Robert Goebbels unterzeichnete für Luxemburg das Schengener Abkommen.
Robert Goebbels unterzeichnete für Luxemburg das Schengener Abkommen.Wolfgang Eilmes

Mitte der Achtzigerjahre herrschte in Europa eine Aufbruchstimmung, es war eine optimistische Zeit. Der Kalte Krieg neigte sich dem Ende: Gorbatschow, Reagan, Sie wissen schon. Jacques Delors wurde 1985 neuer Präsident der Euro­päischen Kommission. Er wollte den Binnenmarkt vervollständigen und rief vier Ziele für Europa aus: die Freiheit des Handels, der Dienstleistungen, des Kapitals – und der Menschen. Glücklicherweise gab es damals zwei Staatsmänner: den Franzosen François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl, die etwas für die Menschen tun wollten. Sie einigten sich auf das Saarbrücker Abkommen.

Mit dem 1984 ein Ende der Kontrollen zwischen den beiden Ländern eingeleitet wurde.

Im gleichen Jahr schlug Mitterrand auf dem europäischen Gipfel in Fontainebleau vor, aus dem Abbau der Kontrollen der Binnengrenzen eine europäische Politik zu machen. Es gab sofort ein Veto von Maggie Thatcher, natürlich.

Der britischen Premierministerin.

Daraufhin schrieben die drei Ministerpräsidenten der Beneluxländer einen Brief an Kohl und Mitterrand und schlugen ihnen vor, man sollte zu fünft etwas versuchen. Die beiden sagten zu, es kam zu einer Regierungskonferenz der fünf Staaten, die in Brüssel stattfand. Und da Luxemburg 1985 den Vorsitz der Beneluxstaaten innehatte, wurde ich Präsident dieser Regierungskonferenz.

. . . und Schengen ging in die Geschichte ein.

Ich war auch später während der Verhandlungen für das zweite Schengen­abkommen dabei, das den wirklichen Durchbruch brachte. Und die Franzosen haben ja immer Probleme mit Zischlauten wie Maastricht oder eben Schengen. Die französische Staatsministerin Édith Cresson fragte mich daher mal: „Sag mal, Robert, weshalb hast du diesen unmöglichen Ort Schengen ausgewählt?“ Da witzelte ich: „Ursprünglich wollte ich für die Unterzeichnung den Ort Schlindermanderscheid vorschlagen.“ Da hat sie mich angeguckt und gesagt: „Das hast du schon gut ausgewählt mit Schengen.“

Als Schengen ins Leben gerufen wurde, war der Zweite Weltkrieg, kurz vor dessen Ende Sie geboren wurden, gerade einmal 40 Jahre her. Rückblickend ist es erstaunlich, dass sich ehemals verfeindete Nationen auf offene Grenzen einigen konnten.

Die Nachkriegsgeneration, zu der ich auch gehöre, war vereint in der Idee des „Nie wieder“. Die Politik suchte nach Wegen der Aussöhnung. Das ist die Grundidee hinter dem europäischen Projekt. Das Europa, das wir heute haben, ist etwas Geniales.

Wer jung ist, hat Schlagbäume nie erlebt. Wie war das damals, als Sie die Nachbarländer bereist haben?

Für meine Generation war es jedes Mal eine Qual, wenn die Zöllner einen kon­trolliert, manchmal schikaniert haben. Man musste den Kofferraum öffnen. Wenn die Zöllner sich langweilten, durchwühlten sie die Koffer, um zu schauen, ob die begleitende Dame schöne Unterwäsche hatte und so weiter und so fort. Die Bürger waren diese Schi­kanen satt, besonders in den Grenz­regionen. Deshalb machten sie Druck auf die Politik, endlich mit diesem Unfug der Kontrollen aufzuhören.

Wieder Kontrollen: die Bundespolizei an der luxemburgisch-deutschen Grenze zwischen Schengen und Perl im Januar
Wieder Kontrollen: die Bundespolizei an der luxemburgisch-deutschen Grenze zwischen Schengen und Perl im JanuarFrank Röth

Mittlerweile hat sich die politische Stimmung gedreht. Deutschland führt an all seinen Grenzen wieder Kontrollen durch. Auch wenn diese mit damals nicht vergleichbar sind: Schmerzt Sie das?

Mich schmerzt das schon, weil ich be­legen kann, dass dies nichts bringt.

Das beste Beispiel ist Großbritannien. Das Land war nie Schengenmitglied, kontrolliert ergo immer schon seine Grenzen. Trotzdem hatte Großbri­tannien Terroranschläge, hat eine der höchsten Kriminalitätsraten in Europa und hatte vergangenes Jahr trotz Brexit eine der höchsten Zahlen an illegalen Einwanderern in ganz Europa. Die­jenigen, die illegal in ein Land reisen wollen, finden immer einen Weg. Dafür gibt es leider Schlepper. Die Bundesrepublik hat eine 3900 Kilometer lange Grenze, die kann man nicht so absichern, dass keine Schleichwege ent­stehen.

Manch einer sagt: Schengen stirbt einen langsamen Tod.

Es gibt Zehntausende Deutsche, die in Nachbarländern arbeiten, allein 60.000 deutsche Grenzgänger in Luxemburg. Die Leute fluchen über diese doofen Kontrollen. Irgendwann, davon bin ich überzeugt, wird der Europäische Gerichtshof die Bundesregierung in ihre Schranken verweisen.

Aber was ist mit der irregulären Migration?

Ich verstehe, dass die Bürger das in der Bundesrepublik und anderen Ländern mit Unmut sehen und auf Parolen von rechtsextremen Parteien hereinfallen, die sagen: Ausländer raus, alle weg! Aber wir müssen auch verstehen, dass wir Migranten als Arbeitskräfte brauchen, sei es nur um Erdbeeren zu pflücken und Spargel zu stechen. Deshalb sollten wir – wie die Amerikaner, die Kanadier – eine legale Migration ermöglichen. Ich bin auch der Meinung, dass die Illegalen ein Problem dar­stellen.

Es gibt die Abkommen mit der Türkei und Tunesien, die Erfolg zeitigen. Die Zahl der Flüchtlinge, die da im Meer ertrinken, ist messbar zurückgegangen im vergangenen Jahr.

Betrachten Sie Schengen als ihr größtes politisches Lebenswerk?

Ach, wissen Sie: Als Politiker sollte man bescheiden sein. Ich war ein kleines Rädchen in einem großen Räderwerk. Aber kleine Rädchen sind notwendig, damit die Uhr funktioniert. Selbst­verständlich bin ich stolz, da mitgewirkt zu haben. Heute sind 29 Staaten und 450 Millionen Menschen Teil von Schengen.