Wie die Masken-Affäre Jens Spahn in Bedrängnis bringt

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Es lief wieder so gut für Jens Spahn. Endlich Fraktionsvorsitzender und damit der mächtigste Mann in der CDU nach Friedrich Merz – das perfekte Sprungbrett für einen Dauerehrgeizigen wie ihn, eigentlich. Wenn der Aufstieg in der Politik wie eine Himalaya-Besteigung ist, dann ist Spahn jetzt im Basislager, eigentlich: 4000 Meter, schon ziemlich dünne Luft, aber eine gute Position, um den richtigen Zeitpunkt abzupassen und dann das letzte Stück zu wagen. In Berlin glauben viele: Spahn hat den Gipfel fest im Blick, er will Kanzler werden. Nicht unbedingt heute oder morgen. Aber unbedingt.

Doch jetzt hat Spahn seine Vergangenheit eingeholt, die er schon lange hinter sich glaubte: ein interner Bericht aus dem Gesundheitsministerium, der die Maskenbeschaffung in der Pandemie untersucht hat und über den die F.A.Z. zuerst berichtete. Damals, in den ersten Corona-Tagen, machte Spahn als Gesundheitsminister auf viele einen guten Eindruck, weil er wie ein hemdsärmeliger Krisenmanager wirkte. Noch mehr Sympathien gewann er, als er den Satz prägte, wir würden einander viel verzeihen müssen. Das klang konziliant und weitsichtig. Jetzt ist die Frage, wie weit es mit Spahns Weitsicht tatsächlich her war – und was die Deutschen ihm zu verzeihen bereit sind.

Spahn schaffte im Frühjahr 2020 als Minister nicht nur viel zu viele, sondern auch viel zu teure Corona-Masken an. Statt netto 2,50 Euro bis 2,90 Euro je Maske zu zahlen, wie es seine Fachabteilung geraten hatte, garantierte Spahn in einem „Open House“-Verfahren allen Unternehmen, die bis zu einem bestimmten Stichtag liefern, einen Abnahmepreis von 4,50 Euro netto. Nach Recherchen der F.A.Z. könnte das Gesundheitsministerium bis zu 623 Millionen Euro zu viel für die Masken gezahlt haben, von denen am Ende Millionen ungenutzt vernichtet werden mussten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Der finanzielle Schaden dürfte aber noch weitaus höher sein, weil Maskenlieferanten, die sich um ihre Geschäfte geprellt sehen, gegen den Bund geklagt haben. Prozessrisiko für den Steuerzahler: 2,3 Milliarden Euro. Für Irritation sorgt zudem, dass der zentrale Auftrag für die Lagerung und Verteilung der Masken nicht an große Firmen wie DHL oder Schenker vergeben wurde, sondern an das Logistikunternehmen Fiege aus Spahns Nachbarwahlkreis in Münster – ohne Ausschreibung und offenbar auf seine persönliche Empfehlung hin. Über Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Unternehmens setzte sich Spahn offenbar hinweg.

Der interne Bericht aus dem Ministerium hat eine veritable Affäre ausgelöst – und bei vielen alte Zweifel zurückgebracht. Zweifel, ob es damals wirklich gerechtfertigt war, dass Spahn in der Pandemie zeitweilig zum beliebtesten Politiker des Landes aufstieg – und ob er wirklich der schneidige Macher ist, als der er sich gerne inszeniert. Spahn rechtfertigt sich mit dem hohen Handlungsdruck: „Es fehlte zu Beginn der Pandemie an allem, am Ende hatten wir alles im Überfluss. Aber das war nicht absehbar“, sagte er der F.A.S. Ja, man habe „finanzielle Risiken in Kauf genommen, um Risiken für Leib und Leben so klein wie möglich zu halten“. Die „zentrale Frage“ ließen die Kritiker aber offen: „Warum sollten wir bewusst zu teuer und zu viel beschafft haben? Diese Leerstelle mit Geraune zu übertünchen, ist unredlich und ehrabschneidend.“

In der ARD sagte Spahn am Sonntagabend nicht zum ersten Mal, dass er den Bericht nicht kenne. Trotzdem kategorisierte er ihn, sprach von „subjektiven Wertungen einer einzelnen Person“. Auch die amtierende Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) stellte die Wertigkeit des Berichts zuletzt implizit infrage, indem sie darauf hinwies, dass Sudhof von Spahns Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) direkt beauftragt worden ist – nicht von der Regierung oder vom Parlament.

Man kann Spahn durch zwei Brillen sehen

Dabei geht es um Spahns eigene Redlichkeit – nicht nur wegen der Affäre um teure Masken, sondern auch wegen der Villa, die er und sein Ehemann im noblen Berliner Stadtteil Dahlem erwarben, während das Land im Lockdown über Kontaktbeschränkungen diskutierte. Für die Finanzierung der Villa hatte das Ehepaar einen üppigen Kredit der Sparkasse Westmünsterland in Anspruch genommen, bei der Spahn im Verwaltungsrat saß – was bei vielen ein schales Gefühl hinterließ. Er habe „auch persönliche Fehler“ gemacht, sagt Spahn heute, der Villa-Kauf sei „unnötig“ gewesen. Nur sind sich manche nicht sicher, ob er solche Sätze wirklich fühlt – oder ob er es nur opportun findet, sie jetzt zu sagen.

Man kann Spahn durch zwei Brillen sehen. Durch die erste ist er: ein politisches Ausnahmetalent, über das Wolfgang Schäuble der F.A.S. mal sagte, von diesem Kaliber gebe es in der Union nicht viele. Dieser Spahn ist wertkonservativer, zielstrebiger und klüger als viele andere im Regierungsviertel, mit allen politischen Wassern gewaschen, geeignet für so ziemlich jedes Amt. Einer, der die Regeln des Medienbetriebs viel besser beherrscht als etwa der Kanzler; der provoziert, aber trotzdem einen klaren Wertekompass hat.

Silke Werzinger

Durch die zweite Brille ist Spahn: auch ein politisches Ausnahmetalent, aber eines ohne Werte oder höchstens mit solchen, die ihm gerade in den Kram passen. Ein Populist, der seine Haltungen anlegt wie Kleider. Der Brandmauer-Debatten anzettelt und markige Sätze über Migranten sagt, nicht weil er von ihnen unbedingt überzeugt wäre, sondern weil sie ihm Aufmerksamkeit sichern. Der nur dann loyal ist, wenn es auf eine einzige Marke einzahlt: seine eigene.

Sein Wille zur Macht umweht Spahn wie ein schweres Parfüm. Auch deshalb gibt es in der Union viele, die es für einen strategischen Fehler von Merz halten, dass er Spahn zum Fraktionsvorsitzenden gemacht hat. Angela Merkel hegte den damals schon karrierebewussten Nachwuchspolitiker 2018 ein, indem sie ihn zum Gesundheitsminister machte. Der größte Kritiker ihrer Migrationspolitik, eingepfercht in der Kabinettsdisziplin – machtpolitisch galt das als Lehrstück. Jetzt, als Fraktionsvorsitzender, ist Spahn an keine Kabinettsdisziplin gebunden. Wo Merz Kompromisse schließen und ausgleichender auftreten muss als früher, kann Spahn polemisch sein, angriffslustige Reden halten und nicht nur die Opposition vor sich hertreiben, sondern notfalls auch den eigenen Kanzler.

Spahn ist erst 45, aber trotzdem schon mehr als 20 Jahre im Bundestag – kaum einer ist in Berlin besser verdrahtet als er. Spahn sei ein „exzellenter Netzwerker“, sagt ein CDU-Mann aus der Fraktion, aber er denke bei allem, was er tue, taktisch und an „Opportunität“. Spahn verwendet tatsächlich viel Zeit auf Kommunikation; viele Abgeordnete trifft er regelmäßig zum Kaffee, auch von anderen Parteien. Die Gespräche seien immer nett, sagen die, die schon öfter mit beim Kaffee waren, im persönlichen Umgang sei Spahn zugewandt und fair. Manch einer fragt sich danach aber, was eigentlich der Zweck des Treffens war.

Spahn beherrscht viele Tonlagen – welche ist authentisch?

Natürlich kennt Spahn diese Kritik, und natürlich kontert er sie mit einer guten Geschichte. Er erzählt, wie nach der Bundestagswahl eine SPD-Abgeordnete zu ihm kam und sagte: „Jens, ich mag Dich ja, aber für die bei uns, die Dich noch nie gesprochen haben, bist Du geradezu eine Hassfigur!“ Dabei wüssten „selbst die Grünen“, dass man mit ihm gute und verlässliche Absprachen machen könne, sagt Spahn. Dann noch eine Geschichte, neulich hat er bei einer Veranstaltung Jan van Aken von der Linken getroffen. Die normalen Vorbehalte, Atmosphäre leicht unterkühlt bis frostig, bis van Aken irgendwann sagte: „Sie sind ja doch ganz nett!“

Respekt vor seinem großen Talent, aber grundiert von einem latenten Misstrauen: So geht es vielen mit Spahn, auch in seiner eigenen Partei. Das liegt auch daran, dass er der Öffentlichkeit über die Jahre schon etliche Spahn-Versionen präsentiert hat. Er beherrscht viele Tonlagen, vom Anheizer bis zum Beschwichtiger, und selbst jene, die ihn lange kennen, tun sich mitunter schwer damit zu sagen, welche Tonlage authentisch ist.

Spahn war mal ein Vordenker von Schwarz-Grün, 2013 organisierte er zusammen mit Omid Nouripour die Neuauflage der „Pizza-Connection“. Heute teilt er gegen die Grünen mitunter fast so aus wie Söder. Er kandidierte 2020 im Team mit Armin Laschet um den Parteivorsitz, als der noch vielversprechend war, um ihn später, als der Kanzlerkandidat Laschet strauchelte, umso schärfer zu kritisieren. Er war Finanzfachmann und Staatssekretär bei Wolfgang Schäuble und hatte sich in der Migrationspolitik noch nicht besonders hervorgetan, bis er sie im Flüchtlingssommer von 2015 als vielversprechendes Leitthema entdeckte und sich fortan als einer der schärfsten Merkel-Kritiker profilierte.

Spahn, Bundeskanzler Merz: Wie loyal ist Spahn im Ernstfall?
Spahn, Bundeskanzler Merz: Wie loyal ist Spahn im Ernstfall?dpa

Es ist nicht so, dass Spahn plump provoziert, er betreibt ein wohldosiertes Empörungsmanagement. Vieles, womit er regelmäßig die Debatte aufmischt, kommt im Kleid des gesunden Menschenverstandes daher, wie nach dem Handbuch des Populismus: Man kann doch nicht! Es ist ja klar, warum! Jeder weiß doch, dass! Die Methode Spahn funktioniert seit Jahren gleich, ob es um Berliner Cafés geht, in denen die Kellner angeblich nur Englisch sprechen, um die Anhebung des Rentenalters, überirdische Stromleitungen oder die Abschaffung des Heizungsgesetzes: Er zettelt eine Debatte an, indem er einen langen Gastbeitrag schreibt oder auch nur, scheinbar beiläufig, einen kurzen Halbsatz in einem Interview fallen lässt. Es folgen: große Schlagzeilen und noch größere Empörung beim politischen Gegner, schnelle Replik-Haken, gern über die „Bild“-Zeitung, schließlich die finale Konfrontation in einer Talkshow. Da argumentiert Spahn die Kritik dann lächelnd weg, mit der für ihn typischen Selbstsicherheit, die leicht ins Schneidende und Überhebliche kippen kann: Verstehen Sie diese Aufregung? Man wird doch noch Selbstverständlichkeiten formulieren dürfen!

So wie im April, bei der Debatte über die Ausschussvorsitzenden im Bundestag. In einem „Bild“-Interview hatte Spahn den Eindruck erweckt, er wolle das Verhältnis zur AfD normalisieren – zumindest wurde er von jenen so verstanden, die ihn schon immer so verstanden haben. Großer Aufschrei, Abgrenzungstendenzen, ein paar Tage später Aussprache bei Lanz mit Bärbel Bas von der SPD, Tenor: Hat die künftige Koalition schon ihre erste Krise? Spahn sagte der F.A.S., er habe in dem „Bild“-Interview gar nicht explizit über Ausschussvorsitzende gesprochen, sondern „lediglich hergeleitet“, warum es normal sei, dass ein Vizepräsident das Parlament nicht vertreten könne, wenn er keine Mehrheit habe. Und dann habe er hinterhergeschoben, dass man die AfD in den parlamentarischen Abläufen ansonsten behandeln solle wie andere Parteien auch. „Das war’s, wir sind da rausgegangen und hätten nie gedacht, dass daraus eine vierwöchige Debatte wird.“ Treuherziger Augenaufschlag. So als sei er, der Medienprofi, wirklich überrascht, dass solche Sätze eine Welle auslösen.

Spahn müsse Vorbehalte abbauen, gibt ein früherer CDU-Grande zu

Viele nehmen solche Momente als Beleg, wie kalkuliert Spahn provoziere, weil er sich im Gespräch halten und die Meinungshoheit erringen wolle. Andere vermuten dahinter mehr als nur Profilierungslust, nämlich einen Masterplan. Spahns Ziel sei „eine Art MAGA-Union“, sagt einer aus der Unionsfraktion, der sich noch gut an Spahns Nähe zum amerikanischen Krawall-Botschafter Richard Grenell und zum libertären Tech-Unternehmer Peter Thiel erinnert und bei Spahn eine gewisse Sympathie für disruptive Machertypen vermutet. „Er glaubt, damit könne er die AfD obsolet machen. Aber damit wird er das Gegenteil erreichen.“

Spahn wird ungehalten, wenn ihm vorgeworfen wird, mit der Migration populistisch Stimmung zu machen oder die Brandmauer schleifen zu wollen. „Ich mache das mit der Migrationspolitik wegen der Sache, nicht wegen irgendwelchen Stimmungen.“ Er wolle einfach nicht, dass jeden Tag „Hunderte Männer, nicht selten mit Gewalterfahrung, fast immer mit einer anderen kulturellen Prägung“, Deutschland ohne Kontrolle beträten. „Da brauche ich die AfD nicht für.“ Bei Lanz sagte er neulich, er erlebe persönlich seit Jahren „Hass und Hetze, teilweise schwulenfeindliche Sprüche“, wenn er im Bundestag an der AfD vorbeigehe. „Mir muss echt keiner erzählen, was für Typen in deren Reihen sitzen.“

Trotzdem bleiben bei manchen in der Unionsfraktion erhebliche Vorbehalte gegen ihren neuen Vorsitzenden. Dieses Misstrauen müsse Spahn jetzt abbauen, gibt ein früherer CDU-Grande zu, der Spahn schon lange kennt. Als Politiker sei Spahn eigentlich komplett, er könne schon alles. Aber jetzt müsse er in der Fraktion beweisen, dass er nicht nur polarisieren, sondern auch integrieren könne. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner sagt: Spahn könne das. Und er wisse, dass die Fraktion nicht nur ein „Kanzlerwahlverein“ sein wolle, sondern „eigenes Selbstbewusstsein“ habe. In der Fraktion sehen das nicht alle so. Wer Kontra gebe, werde „ausgesiebt“, sagt ein CDU-Mann. Schon seit Merz Fraktionsvorsitzender war, sei die Fraktion so „eingeschüchtert“, dass sie gar nicht mehr aufmucke.

Spahns Erfolg hängt jetzt an dem des Kanzlers

Auch zum Koalitionspartner muss Spahn einen Draht aufbauen. Seit er Fraktionschef ist, trifft er in jeder Sitzungswoche Matthias Miersch, sein Gegenüber von der SPD, dazu die Parlamentarischen Geschäftsführer und CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann zu einem Frühstück. Das sei eine vertrauensbildende Maßnahme, sagt Spahn, wenn man sich oft sehe, könne man bei Problemen besser mal anrufen.

Manchen Unionsleuten graut aber gar nicht vor Rangeleien mit der SPD, sondern vor denen, die dem Kanzler mit seinem Fraktionsvorsitzenden vielleicht bevorstehen. Viele Wertkonservative haben sich von Merz eine geistig-moralische Wende erhofft und bekommen jetzt Schnappatmung, wenn er mit Klingbeil kumpelt. Einige glauben deshalb, Spahn werde der Versuchung nur schwer widerstehen können, sich als bessere Alternative zu Merz zu inszenieren. Spahn findet das absurd. „Friedrich Merz vertraut mir und ich vertraue ihm. Anders kann es auch nicht funktionieren.“ Auch früher, als er gegen ihn für den Parteivorsitz antrat, habe es „kein Misstrauen zwischen uns“ gegeben. Da erinnern sich viele anders, vor allem im Merz-Lager. Merz und Spahn hätten „unterschiedliche Interessen“ gehabt, in den vergangenen drei Jahren aber „sehr gut zueinander gefunden“, sagt der frühere CDU-Grande, der beide gut kennt. Spahn wisse, dass sein Erfolg jetzt an dem des Kanzlers hänge.

Trotzdem gibt es manche CDU-Leute, die glauben: Spahns Drang zur Macht ist so groß, dass er Merz herausfordern würde, wenn der in Schwierigkeiten käme. Eigentlich. Denn die Maskenaffäre könnte ihn in Bedrängnis bringen; noch ist nicht ausgemacht, wie sehr. Die Koalition hält den Untersuchungsbericht vorerst unter Verschluss – aber wie lange noch? Womöglich erlebt Spahn, der ewige Gipfelstürmer, nach der verlorenen Wahl 2021 bald zum zweiten Mal, wie das ist: tief zu fallen. Andererseits: Die Menschen sind vergesslich, und er ist erst 45. Er hat noch Zeit.