„Kein Folterer darf sich der Straflosigkeit gewiss sein“

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Als Christoph Koller, Vorsitzender Richter des 5. Strafsenats am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, am Montagvormittag das Urteil gegen den syrischen Arzt Alaa M. verkündete, drückten sich die drei zum Abschluss des Verfahrens angereisten Nebenkläger die Übersetzungstechnik ins Ohr, um bloß kein Wort zu verpassen. Sie vernahmen das, was sie sich gewünscht haben dürften: Der Senat verurteilte den 40 Jahre alten Unfallchirurgen und Orthopäden Alaa M. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zudem stellte er die Schwere der Schuld fest und ordnete Sicherungsverwahrung an.

Der Senat sah es als erwiesen an, dass M. in den Jahren 2011 und 2012 in seiner Funktion als ziviler Assistenzarzt im Militärkrankenhaus Nr. 608 und im Gefängnis der Abteilung 261 des syrischen militärischen Geheimdienstes in Homs sowie im Militärkrankenhaus Nr. 601 in Damaskus inhaftierte Oppositionelle gefoltert und in zwei Fällen auch zu ihrem Tod beigetragen hatte. Koller bescheinigte M. eine sadistische Neigung und sagte: „Der Angeklagte hat neun Menschen schwer an Leib und Seele verletzt und zwei Menschen getötet.“ Die fünf Richter folgten damit den Anträgen, die die Bundesanwaltschaft in ihren Schlussvorträgen Ende Mai gestellt hatte. M. nahm das Urteil mit gesenktem Haupt entgegen.

Die drei Nebenkläger waren im Jahr 2022 vom Senat auch als Opferzeugen angehört worden. Dieses Mal mussten sie sich im Frankfurter Gerichtsgebäude nicht der Strapaze einer tagelangen Vernehmung aussetzen. Emotional herausfordernd war der Tag gleichwohl. In der zweieinhalbstündigen Urteilsbegründung zollte Koller ihnen Respekt für ihren Mut und griff auch ihre Leidensgeschichte auf. So beschrieb er unter anderem, wie der eine, heute Anfang 30 und in Deutschland beheimatet, im Sommer 2012 von M. gemeinsam mit anderen Bediensteten des Militärkrankenhauses in Homs unter anderem mit den Händen an der Decke aufgehängt und geschlagen wurde. Als er danach fast bewusstlos am Boden lag, übergoss M. seine Hand mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete sie an. Das Anzünden von Körperteilen, davon zeigten sich die Richter überzeugt, war eine Foltermethode, die M. immer wieder anwendete, auch im Genitalbereich. Bis zuletzt stritt dieser alle Vorwürfe ab, sagte, er werde zu Unrecht beschuldigt.

„Extrem mühevolles“ Verfahren

Mit dem Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, beschloss der Senat am 188. Verhandlungstag die fast Dreieinhalbjahre währende Hauptverhandlung. Nicht nur wegen der Dauer war es für den Staatsschutzsenat ein, so Koller, „extrem mühevolles“ Verfahren: Immer wieder wurden Zeugen bedroht (einer der Nebenkläger erschien auch zur Urteilsverkündung in Begleitung von Beamten des Bundeskriminalamts); der Zugang zu Beweismitteln gestaltete sich schwierig; auch die zeitraubenden Übersetzungen zerrten an den Nerven. Koller sagte in der Urteilsverkündung, dass allen Widrigkeiten zum Trotz von einem Verfahren wie diesem das Signal ausgehe: „Kein Folterer kann sich seiner Straflosigkeit gewiss sein.“

Dass ein solches Verfahren überhaupt in Frankfurt stattfinden konnte, liegt an dem sogenannten Weltrechtsprinzip, verankert in Paragraph 1 des Völkerstrafgesetzbuches. Demnach können schwerste internationale Verbrechen von einem Staat verfolgt werden, auch wenn sie keinen Bezug zum Inland haben. So soll verhindert werden, dass Täter Straflosigkeit erfahren, beispielsweise weil das Land, in dem die Straftaten erfolgten, kein Interesse an ihrer Verfolgung hat. Als Alaa M. im Juni 2020 in Nordhessen festgenommen wurde, war nicht absehbar, dass das Assad-Regime in absehbarer Zeit ins Wanken geraten könnte. Auch nicht, als der Prozess gegen ihn im Januar 2022 begann.

Auf den Prozess hatte der Sturz von Machthaber Assad keinen Einfluss

Heute stellt sich die Lage bekanntlich anders da. Auf das Frankfurter Verfahren hatte der Sturz von Machthaber Baschar al-Assad keinen Einfluss mehr. In Syrien hingegen hatte Ahmed al-Scharaa, der neue Übergangspräsident, im Dezember 2024 verkündet, hochrangige Vertreter des früheren Regimes für Morde, Folter und Erniedrigungen zur Verantwortung ziehen zu wollen. Als einer der ersten wurde Mohammed Kanjou al-Hassan festgenommen, unter Assad Leiter der Militärjustiz. Er soll für das Foltersystem im berüchtigten Sednaja-Gefängnis verantwortlich gewesen sein.

Im Mai erließ Übergangspräsident al-Scharaa Dekrete, die die Gründung der „Nationalen Kommission für Übergangsjustiz“ sowie der „Nationalen Kommission für die Vermissten“ vorsehen. Der in Syrien geborene deutsche Staats- und Verfassungsrechtler Naseef Naeem, sagt, die Regierung habe mehrfach geäußert, dass sie den Weg ebnen wolle, damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden können. Die erste Stufe sei verfassungsrechtlich beschritten, nun müsse man die Implementierung abwarten. Aufgabe der gegründeten Kommissionen sei es, einen Weg aufzuzeigen, wie Maßnahmen der Übergangsjustiz überhaupt angewendet werden könnten: durch Kommissionen der Wahrheit, durch Strafrechtsprozesse, durch Entschädigungen der Opfer. Diese Zukunftsfragen müssten nach und nach abgearbeitet werden. Seiner Beobachtung nach hätten in Damaskus momentan jedoch andere Aufgaben eine höhere Priorität.

Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg, sagt, der Regimewechsel in Syrien lasse sie hoffen, dass Prozesse künftig möglicherweise auch in Syrien selbst geführt werden könnten. Die große Herausforderung sei, das unter rechtsstaatlichen Menschenrechtsstandards hinzubekommen. Statt Vergeltungsaktionen müssten faire Verfahren gewährleistet werden. Naseef Naeem ergänzt, Justizminister Mazhar al-Wais habe Richter, die an Militärgerichten beschäftigt waren, entlassen und gleichzeitig Richter, die vom Assad-Regime entlassen worden waren, wieder eingesetzt. 

„Wahrscheinlich werden sie trotzdem auch Richter aus dem alten System beschäftigen müssen“

Zudem wären Juristen, die nach 2011 aus Syrien geflüchtet waren, bereit, zurückzukehren. „Wahrscheinlich werden sie trotzdem auch Richter aus dem alten System beschäftigen müssen“, sagt Naeem. Er appelliert, Deutschland und auch andere europäische Staaten mit Erfahrung in entsprechenden Verfahren sollten jetzt ihre Hand ausstrecken und die syrische Justiz unter anderem mit richterlichen Qualifizierungsmaßnahmen für die Strafverfolgung nach dem Völkerstrafrecht unterstützen. „Daran kommen wir nicht vorbei, wenn wir dafür sorgen möchten, dass in Syrien irgendwann Prozesse geführt werden, die Hand und Fuß haben.“

Teresa Quadt vom Syria Justice and Accountability Center (SJAC), einer syrischen Menschenrechtsorganisation, die den Frankfurter Prozess dokumentierte und Protokolle jedes einzelnen Prozesstages im Internet veröffentlichte, geht davon aus, dass die Verfahren in Europa erleichtert und daher ansteigen werden. Dafür könnten spezialisierte Verfahrenskammern eingerichtet werden, da es sich um ein sehr spezielles Rechtsgebiet handelt. „Der Zugang zu Beweismitteln ist jetzt einfacher, Zeugen haben nicht mehr so viel Angst auszusagen“, sagt Quadt. 

Ob Täter in den vergangenen Monaten nach Deutschland geflohen sind, sei unklar, sie könnten aber durch die Bundespolizei festgenommen und strafverfolgt werden. Mit der syrischen Übergangsregierung sollte ein Protokoll zum Austausch von Beweismitteln vereinbart werden. Quadt berichtet, Mitarbeiter von SJAC hätten nach der Flucht Assads Tausende Dokumente aus verlassenen Geheimdienstbüros gesichert, die nun ausgewertet werden müssen. Das Urteil gegen Alaa M. sei wichtig. „Es zeigt: Mit der Unterstützung mutiger Zeugen und Zeuginnen wird die rechtsstaatliche Aufarbeitung internationaler Verbrechen in Europa konsequent fortgeführt.“

Und Baschar al-Assad selbst? Viele seiner Landsleute, die unter seinem Regime gelitten haben, sähen ihn gerne in Syrien vor Gericht. Professorin Bock sagt, die Übergangsregierung könnte auch dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beitreten und Strafverfolgung auf internationaler Ebene ermöglichen. Zudem hatte Frankreich noch zu Assads Regierungszeiten einen Haftbefehl gegen den Diktator erlassen. Nun, wo dieser nicht mehr Präsident ist, könnte der Haftbefehl auch vollstreckt werden und Assad in Frankreich der Prozess gemacht werden – sollte Putin ihn fallen lassen.