In der ersten Woche des Sommersemesters 1947 war es dann so weit, dass der neue Professor sich vorstellte. Etwa dreihundert Studenten saßen in dem Hörsaal, der heute „Eiermann-Hörsaal“ heißt. In diesen Saal waren im Krieg ein paar Brandbomben gefallen. Als ich 1946 nach Karlsruhe kam, hatte ich im „Studentischen Aufbaudienst“ mitgeholfen, den Raum wieder instandzusetzen. Die Bänke lagen damals kreuz und quer herum, waren verkohlt und teilweise verbrannt. Auf den Stufen war das Parkett zum Teil versengt und hatte sich durch die Nässe, die durch das Dach eingedrungen war, geworfen und abgelöst. So mussten wir den Raum erst einmal ausräumen und das Parkett entfernen. Dann beorderte Bauinspektor Zippel, der in einer Baracke neben dem Aulabau eine Art kleines Hochschulbauamt, eine Außenstelle des Staatlichen Hochbauamts, leitete, die Schreiner in den Saal, die die Stufen reparierten und neues Parkett verlegten. Ein neues Gestühl war wohl zu teuer – außerdem unpraktisch, weil es für die vielen Studenten der Unterstufensemester nicht ausgereicht hätte. So wurden einfach dreihundert quadratische Schemel aus ungestrichenem Fichtenholz in den Saal gestellt, immer zwei Reihen auf jede Stufe. Darauf saßen wir dicht gedrängt. Schreiben oder skizzieren musste man auf den Knien.
So warteten wir auf den neuen Professor. Draußen war der Himmel grau, und es regnete seit dem frühen Morgen. Die meisten von uns hatten ihre grauen Militärmäntel an. Manche hatten sie umgefärbt, um sich ein zivileres Aussehen zu geben. Die Luft war feucht, es roch nach Schweiß und Tabakrauch. Die Fenster waren von innen beschlagen, nur vorn brannte die Tafelbeleuchtung.
Aus einer anderen Welt
Dann kam er herein. Er trug ein einfach geschnittenes Jackett aus hellem, naturfarbenem Tweed, das kein Revers hatte. Darunter ein Seidenhemd in gleicher Farbe und dazu eine Hose aus grauem Flanell. Wie er da stand vor unserer grauen Masse, im Licht der Tafelbeleuchtung, schien er ein Wesen aus einer anderen Welt. Er schien direkt aus dem eleganten Berlin der Vorkriegszeit zu kommen. Damals in Berlin hatte meine Mutter manchmal „Die neue Linie“ gekauft, in der ich diese edle, sehr einfache Herrenmode gesehen hatte. Mittelgroß, leicht athletisch, mit etwas schütterem, dunkelblondem Haar wirkte er jünger als die ältesten von uns.
Mit einem charmanten Lächeln, das eine kleine Unsicherheit verriet ob der vielen Studenten, die er vor sich hatte, stellte er sich vor: „Ich heiße Egon Eiermann, war bis zum Ende des Krieges Architekt in Berlin und soll jetzt hier die Lehre für Baugestaltung und Entwerfen vertreten. Sie sind ja sehr viele und wollen alle Architekten werden. Das ist gut so. Denn in den nächsten zehn Jahren müssen in Deutschland (er sagte Deutschland, obwohl es damals nur die vier Besatzungszonen gab und man nicht wusste, welche Art Staat sich daraus entwickeln würde) zehn Millionen Wohnungen gebaut werden. Und Schulen, Krankenhäuser, Hotels, Verwaltungsgebäude, Fabriken und Werkstätten. Da werden Sie alle gebraucht.“ Wir hatten oft etwas trübsinnig darüber diskutiert, was aus uns werden würde, wo es doch in Karlsruhe damals mehr Architekturstudenten als Maurer gab.

Dann fing Eiermann an zu fragen: „Welche Architekten kennen Sie denn?“ Einer sagte: „Schmitthenner.“ Sein Blick verdüsterte sich: „Den schätze ich gar nicht!“ Paul Schmitthenner war einer der Stararchitekten während des Dritten Reiches. Er baute Einfamilienhäuser mit symmetrischen, gegliederten Fassaden und hohen Walmdächern, von denen einige an Goethes Gartenhaus im Park von Weimar erinnerten. Als Hochschullehrer in Stuttgart hatte er sich zu dem Problem der „deutschen Baukunst“ immer wieder geäußert und die Architekten der Stuttgarter Weißenhofsiedlung wiederholt öffentlich angegriffen. Ein anderer nannte Paul Bonatz, der wie Schmitthenner Lehrer in Stuttgart war. Er hatte 1943 aus Gründen, die nicht bekannt waren, Deutschland verlassen und war Hochschullehrer in Ankara geworden. Ihn goutierte Eiermann schon eher.
Staunen über Frank Lloyd Wright
Ich war vor dem Krieg in der Gartenstadt in Karlsruhe aufgewachsen und kannte die von Gropius geplante Dammerstocksiedlung. Auf einer Bahnfahrt von Hannover nach Göttingen hatte mir meine Mutter aus dem Zugfenster die Schuhleistenfabrik Fagus-Werk in Alfeld von Walter Gropius gezeigt. So sagte ich: „Gropius.“ Ein anderer nannte Le Corbusier. Jetzt strahlte Eiermann.
Margarete Faust, eine Studentin aus der Oberstufe, nannte Frank Lloyd Wright, was Eiermann mit freundlichem Staunen quittierte. Margarete hatte schon während des Krieges studiert und erzählte mir später, dass sie in der französischen Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui zum ersten Mal Bauten dieses berühmten Amerikaners gesehen hatte. Damals studierte auch Elsässer in Karlsruhe. Sie hatte die Zeitschrift mitgebracht.

Dann fragte Eiermann: „Hat einer von Ihnen schon einmal den Namen Mies van der Rohe gehört?“ Schweigen im Saal – es meldete sich niemand. „Mein Gott“, stöhnte er, „von dreihundert künftigen Architekten kennt keiner den Mies.“ – Jetzt, wo ich dies schreibe, kann ich es kaum fassen, dass damals keiner von uns diesen Namen auch nur gehört hatte. Das zeigte, in welcher Isolierung wir in Deutschland während der Nazizeit gelebt hatten. Selbst Wolf Wetterer, der 1930, als der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona als Meisterwerk gefeiert wurde, schon achtzehn Jahre alt war, hatte von Mies van der Rohe nie gehört.
Die schlechteste Zeitschrift
Eiermann erzählte uns von ihm. Dass er bei seinem Vater Steinmetz gelernt hatte und aus eigener Kraft, ohne ein Studium, Architekt geworden war. Sein Pavillon in Barcelona und das Haus Tugendhat in Brünn zeigen als erste die völlige Trennung von Tragkonstruktion und raumbildenden Flächen – das Prinzip des freien, nicht von Traggliedern eingeschränkten Grundrisses. Mies war der letzte Direktor des Bauhauses und 1937 nach Amerika gegangen, wo er in Chicago die Bauten des Illinois Institute of Technology entworfen hatte. Dann wollte Eiermann wissen, wie wir uns über Architektur informieren. „Was lesen Sie denn für Zeitschriften?“ Als Erstes sagte einer: „Baumeister“. Heftiges Missfallen bei Eiermann: „Das ist die schlechteste.“ Beim „Baumeister“ war während der NS-Zeit und in den ersten Jahren nach dem Krieg der sehr konservative Rudolf Pfister Chefredakteur. Er verehrte Paul Schmitthenner. Und er unterstützte ihn, als darum gestritten wurde, ob Schmitthenner mit der Lehre, die er vertrat und nach der öffentlichen Diffamierung Andersdenkender wieder auf einen Lehrstuhl in Stuttgart berufen werden könne.
Dann kamen die „Bauwelt“ und die gerade neu gegründete deutsch-schweizerische Zeitschrift „Bauen und Wohnen“. „Es ist schwer für Sie, sich über das, was jetzt in der Architektur vor sich geht, zu informieren“, meinte Eiermann. „Hier bei uns wird noch immer fast nichts gebaut. Und die Projekte, die in den Zeitschriften veröffentlicht werden, zeigen nicht nur unsere materielle Armut, sondern auch den Rückstand, in den wir gegenüber der internationalen Entwicklung während des ‚Tausendjährigen Reiches‘ geraten sind. Es gibt aber zwei amerikanische Hefte, ‚Architectural Forum‘ und ‚Architectural Record‘. Die finden Sie im Amerika-Haus. Die sollten Sie sich ansehen. Sie finden in diesen Heften nicht nur die Bauten der besten Architekten in den USA, sondern auch die der emigrierten Europäer: Marcel Breuer, Walter Gropius, Mies, Richard Neutra.“
Heiter gestimmt ging ich nach Hause, durch die Ruinen der zerbombten Stadt. Vom Wiederaufbau merkte man zwei Jahre nach Kriegsende noch immer nichts, und die Lebensmittelrationen wurden eher kleiner als größer. Aber hier hatte einer mit Elan und Zuversicht von der Zukunft gesprochen, und von den Aufgaben, die vor uns lagen. Er gewann unsere Zuneigung, noch bevor wir erfahren konnten, was für ein guter Lehrer er war.
Buchvorstellung am 19. Juni
Vorabdruck aus Erich Rossmann: „Im Dammerstock habe ich mich immer verirrt.“ Aus einem Karlsruher Architektenleben. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Andreas Rossmann, mit 22 Fotos von Barbara Klemm u. a. Das im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erscheinende Buch wird am 19. Juni in der Lukaskirche in Karlsruhe vorgestellt.