Viele alte Menschen haben chronische Erkrankungen. Das könne man verhindern, sagen Fachleute – es seien enorme Fortschritte gemacht worden. Sie fordern ein Umdenken in Medizin, Gesellschaft und Politik.
“Wir altern sehr wahrscheinlich ab der ersten Zellteilung.” Das sagt Andrea Maier. Sie ist Professorin an der NUS Akademie für gesundes Altern an der Nationalen Universität in Singapur. “Das heißt, der Prozess beginnt schon vor der Geburt.”
In den meisten Fällen gehe die spürbare Alterung aber erst mit Mitte 20 los – ab da würden die Körperfunktionen immer weniger effizient. Aber das ist nicht bei allen Menschen gleich, so Maier: “Ab einem Alter von 30 bis 40 Jahren sieht man deutlich, dass Menschen ganz unterschiedlich altern”, so die Ärztin für Innere Medizin.
Herausforderung für das Gesundheitssystem
Sie ist eine von 13 Autoren und Autorinnen eines Diskussionspapiers der Nationalen Akademie der Wissenschaften, das jetzt veröffentlicht wurde. Es brauche eine neue Medizin in einer alternden Gesellschaft, so die Fachleute. Denn es werde in Zukunft sehr viele Menschen über 65 Jahren geben – viele von ihnen mit mehreren chronischen Erkrankungen. Das sei eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem und die medizinische Versorgung.
Die Gene, Ernährung, Lebensstil: Vieles kommt zusammen, wenn es darum geht, wer lange gesund bleibt, also langsam altert. Und wer alterstypische Erkrankungen bekommt, wie Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs.
Nicht nur immer älter – gesund altern ist das Ziel
Und damit wird es interessant für das noch recht junge Forschungsfeld: die Alternsmedizin oder Geromedizin. Sie will verstehen, wie Alterung abläuft und eingreifen, bevor es zu den typischen Erkrankungen im Alter kommt.
Theoretisch könnten Menschen wahrscheinlich mehr als 120 Jahre alt werden, sagt Oliver Tüscher, Forschungsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. Aber darum gehe es ihnen als Alternsforscher gar nicht: “Wir sehen, dass wir gerade in den letzten Lebensjahren ganz besonders betroffen sind von Einschränkungen durch Krankheit und darunter leiden.” In der Alternsmedizin gehe es darum, diese Lebensphase zu erleichtern. “Es wird auch in Zukunft nicht so sein, dass durch bestimmte Maßnahmen auf einmal alle 125 Jahre alt werden.“
Altern ohne Krankheiten – das klingt toll, aber wie lässt sich das umsetzen? Die Gruppe von Alternsforschern und -forscherinnen hat jetzt in dem Diskussionspapier mehrere Handlungsempfehlungen veröffentlicht.
Da ist zum einen die Forschung: In den letzten zehn Jahren habe es auf dem Feld der Alternsforschung enorme Fortschritte gegeben, sagt Andrea Maier. Zum Beispiel sei man mittlerweile in der Lage die sogenannte biologische Uhr eines Menschen, sogar der einzelnen Organe, zu bestimmen: Wie alt ist er oder sie biologisch gesehen, wie schnell altert die Lunge, das Herz, das Gehirn aktuell?
Präzise bestimmen, wie stark jemand altert
Schon vor zehn Jahren wollte Andrea Maier die Alternsmedizin in einem Krankenhaus etablieren. “Aber damals hatten wir einfach diese Messungen noch gar nicht. Jetzt können wir präzise sagen, wie alt jemand ist.” Und wenn ein 40-Jähriger biologisch gesehen bereits 45 ist, dann sei das kein gutes Zeichen: “Dann hat er ein sehr erhöhtes Risiko, in fünf bis zehn Jahren die ersten Alterungserkrankungen zu entwickeln”, so Maier. In so einem Fall könne man aktiv werden und die biologische Uhr verlangsamen oder sogar zurückstellen – zum Beispiel mit Ernährungsanpassungen und anderen Veränderungen im Lebensstil.
Ein weiterer großer Fortschritt sei, dass man heute viel besser versteht, wie die Reparaturmechanismen in der Zelle funktionieren. Wenn die nicht mehr so effizient arbeiten, führt das in vielen Fällen im Alter zu Krebs.
Grundlagenforschung sehr gut, Austausch noch nicht
Deutschland sei gut aufgestellt, was die Grundlagenforschung in diesem Bereich angeht, so Oliver Tüscher, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Halle. Doch es brauche bessere Strukturen, die wissenschaftlichen Austausch ermöglichen.
“Was wir fordern, ist letztlich zu versuchen, die sehr gute Forschung, die wir bereits haben, zusammenzuführen und diese Daten verfügbar zu machen für alle Alternsforscher”, sagt Tüscher. “Das gibt es so noch nicht. So kann es passieren, dass manche Dinge zweimal gemacht werden, einfach, weil das Wissen und die Daten nicht gut genug verfügbar sind”, so der Alternsforscher.
Deshalb fordern die Fachleute in ihrem Diskussionspapier, dass ein interdisziplinäres Konsortium eingerichtet werden müsse – eine Möglichkeit für Fachleute sich zu vernetzen.
Außerdem solle eine große Sammlung medizinischer Daten eine effizientere Forschung ermöglichen, beispielsweise eine Biobank wie in Großbritannien. Auch die rechtlichen Regelungen für die Durchführung von notwendigen Tierversuchen müssten reformiert werden.
Forderung: Mehr Forschung und Anwendung in Unikliniken
Doch neben der Forschung gibt es noch eine zweite große Frage: Wie bekommt man all diese Erkenntnisse in die Praxis? Wie kommen sie bei der alternden Bevölkerung an?
Hier sei man in Deutschland noch etwas zurückhaltend, sagt Andrea Maier. Die Universitätskliniken müssten mehr Augenmerk auf die Alternsforschung legen: “Wir müssen Forschung und Lehre verbinden. In den Universitätskliniken und in den größeren Krankenhäusern können wir dann zeigen: Was ist wirklich effizient und ergibt auch wirtschaftlich Sinn, um es dann in der Breite zu etablieren?”
Es sei wichtig, mit hohem wissenschaftlichen Anspruch zu zeigen, welche Behandlungen wirklich wirken. “Es ist ganz wichtig, dass die Untersuchungen und Therapien evidenzbasiert sind und nicht nur einen ‘Anti-Aging-Hype’ darstellen”, so Maier.
Aufwändige Untersuchungen – wer zahlt’s?
2023 wurde in Singapur eine Ambulanz für Alternsmedizin eröffnet. “In der Klinik machen wir sehr ausführliche biologische Messungen. Wir untersuchen die Gene, das Mikrobiom und alle wichtigen Organe”, so die Alternsmedizinerin Maier. “Und dann gibt es eine sehr präzise Intervention, die auf den einzelnen Menschen angepasst wird.” Das könnten Veränderungen des Lebensstils sein, zum Teil auch die Gabe von Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln.
Aktuell müssten die meisten Menschen diese Untersuchungen selbst zahlen, sagt Maier. “Aber wir arbeiten auch mit Krankenkassen zusammen. Und das ist sicher eine wichtige Frage in der Zukunft: Wer bezahlt das?” Wenn diese Art der Medizin für eine breite Masse verfügbar sein soll, müssten die Untersuchungen und Behandlungen zum Beispiel von den Krankenkassen, Lebensversicherungen oder Arbeitgebern bezahlt werden. “Aber an diesem Punkt sind wir noch nicht.”
Medikamente, die das Altern aufhalten
Ein weiterer Schritt, um die Alternsmedizin voranzubringen, sei die verstärkte Suche nach Medikamenten, die den Alterungsprozess verlangsamen oder sogar aufhalten könnten. Das ist eine weitere Forderung in dem jetzt veröffentlichten Diskussionspapier. Auch die Möglichkeit, bereits vorhandene Medikamente für einen solchen Zweck umzuwidmen, sollte weiter gefördert werden.
Denn es gebe bereits Medikamente, die Alterungsprozesse verzögern, sagt Oliver Tüscher: “Zum Beispiel bestimmte Medikamente, die man zur Behandlung von Diabetes einsetzt, die neueren GLP-Rezeptor-Inhibitoren. Hier hat man interessanterweise gesehen, dass sie im Tiermodell, aber auch beim Menschen, einen solchen Effekt zeigten.” Auch Langzeit-Beobachtungen von Menschen, die diese Mittel zur Behandlung ihres Diabetes nutzten, wiesen in diese Richtung.
Umdenken in der Medizin: Verhindern statt behandeln
Insgesamt geht es den Fachleuten der Leopoldina um einen Perspektivwechsel in der Medizin: Weg von der reinen Behandlung der alterstypischen Erkrankung, hin zur deren Vermeidung durch gesundes Altern.
Dafür brauche es aber einen politischen Willen, das habe man bereits in anderen Ländern wie Singapur gesehen. Und es brauche ein Bewusstsein bei den Menschen. Das könne Leben durchaus um einige gesunde Jahre verlängern.