Geburtenraten und Bevölkerungsprognosen: Bald schrumpft die Menschheit

6

An der koreanischen Universität Daegu, in der viertgrößten Stadt des Landes, kann man von diesem an Jahr kein Studium in Soziologie mehr beginnen. Die Fakultät hielt eine Trauerfeier ab, Soziologen anderer Universitäten schickten Kränze, wie die Zeitung „Korea Times“ berichtet. Auch die Studiengänge in Jura, Elektroingenieurwesen und Künstlicher Intelligenz werden gestrichen.

Andere Hochschulen in Südkorea haben ihre Tore schon ganz geschlossen. Sie sind der demographischen Krise zum Opfer gefallen, die das Land erfasst hat. Denn Korea gehen die Studenten aus. In keinem Land der Welt werden so wenige Kinder je Frau geboren, 0,72 waren es zuletzt im Durchschnitt. Die Bevölkerung wird nach Prognosen der koreanischen Statistikbehörde bis 2072 von 52 auf 36 Millionen Menschen fallen.

Was in Korea schon heute Realität ist, könnte bald die ganze Welt erfassen: Ein nie da gewesener Kollaps der Bevölkerungszahlen mit dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen bahnt sich an – und das in viel näherer Zukunft als bisher gedacht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Die Vereinten Nationen prognostizierten im vergangenen Jahr noch, dass die Menschheit bis zum Jahr 2084 wachsen wird, auf dann 10,3 Milliarden Menschen. Immer wieder hat die UN in den vergangenen Jahren diesen Wert nach unten korrigieren müssen. Noch 2019 rechnete sie damit, dass die Menschheit bis ins 22. Jahrhundert weiter wachsen würde.

Ökonomen wecken nun Zweifel selbst an der neuen Schätzung. Der spanische Volkswirt Jesús Fernández-Villaverde, der an der University of Pennsylvania lehrt, hat sich die Schätzungen der UN gemeinsam mit einem Kollegen genauer angesehen und einige Ungereimtheiten festgestellt. Er glaubt: Die UN überschätzt massiv, wie stark die Bevölkerung noch wächst. Etwa ab dem Jahr 2055, also schon in 30 Jahren, werde die Menschheit beginnen zu schrumpfen.

Unrealistische Erwartungen der UN

Wer das verstehen will, kommt um ein wenig simple Mathematik nicht herum. Entscheidend für das Bevölkerungswachstum ist die Fertilitätsrate, vereinfacht gesagt: wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens durchschnittlich zur Welt bringt. In den Sechzigerjahren lag dieser Wert weltweit noch bei mehr als fünf Kindern. Dann fiel er stetig auf 2,25 Kinder im Jahr 2023.

Üblicherweise geht man davon aus, dass eine Fertilitätsrate von 2,1 nötig ist, um die Bevölkerung konstant zu halten. Diese sogenannte Ersatzrate ergibt allerdings nur für reiche Länder wie Deutschland Sinn. Weil insbesondere in den bevölkerungsreichsten Ländern China und Indien weibliche Föten öfter abgetrieben werden als männliche (wenn auch nicht mehr so häufig wie noch vor einigen Jahren) und weil in ärmeren Ländern außerdem ein größerer Anteil an jungen Frauen stirbt, sei für diese Gegenden ein Wert von 2,33 realistischer, sagt Fernández-Villaverde, und für die gesamte Welt einer von 2,2.

Es gibt ihm zufolge weitere fragwürdige Details in den UN-Projektionen. Darin machen rapide fallende Geburtenraten eine unerklärte Kehrtwende. Die chinesische Fertilitätsrate etwa ist allein seit 2017 von 1,8 auf 1 gefallen. Die UN rechnet damit, dass sie ab dem kommenden Jahr schlagartig zu steigen beginnt und bis zum Ende des Jahrhunderts wieder auf 1,35 klettert. In Deutschland lag die Fertilitätsrate zuletzt bei 1,44, Tendenz fallend. Die UN projiziert, dass sie bis zum Jahr 2100 wieder auf 1,6 steigt.

Die Vereinten Nationen begründen diese Kehrtwende mit der „Erwartung anhaltenden Fortschritts in der Geschlechtergleichstellung und der Stärkung der Rolle der Frau sowie mit verbesserten sozialen und wirtschaftlichen Chancen für junge Menschen und Familien“. Ist das plausibel?

In Schwellenländern führt eine Stärkung der Frauen bisher eher zu niedrigeren Geburtenraten. Andererseits sind es unter den reichen Mitgliedstaaten der OECD durchaus diejenigen mit hoher Erwerbsbeteiligung von Frauen, die auch höhere Geburtenraten haben. Hier spielt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zunehmende Rolle. Unwahrscheinlich scheint in jedem Fall, dass die Fertilitätsraten quasi über Nacht in die andere Richtung kippen.

Eine Lösung hat noch kein Land gefunden

Aktuelle Bevölkerungszahlen und Geburtenraten setze die UN außerdem im Vergleich zu nationalen Statistikbehörden zu hoch an, sagt Fernández-Villaverde: „Ich glaube, dass die UN immer noch einen relativ optimistischen Blick auf die Geburtenzahlen hat.“ Der Ökonom schätzt, dass die globale Fertilitätsrate schon im vergangenen Jahr bei 2,17 lag, nicht bei 2,25. Schon heute würden also nicht mehr genug Kinder auf der Welt geboren, um die Bevölkerung langfristig konstant zu halten. Fernández-Villaverde rechnet mit einem Höhepunkt der Weltbevölkerung Mitte der Fünfzigerjahre. Es ist ein Zeitpunkt, den auch die UN für möglich erachtet, allerdings nur in einem Extremszenario.

Besonders dramatisch ist der Rückgang der Geburten nicht mehr nur in den reichen Ländern, die schon lange vor der Herausforderung des demographischen Wandels stehen, sondern in den Ländern mit mittleren Einkommen. In Thailand liegt die Fertilitätsrate nationalen Statistiken zufolge heute bei 0,98, in Kolumbien bei 1,06, in Bosnien bei 1,2, in Sri Lanka bei 1,37. Die alte Regel, dass die Geburtenraten umso niedriger sind, je reicher ein Land ist, und das demographische Problem erst bekommt, wer schon in Wohlstand lebt, gilt nicht mehr. Mexiko hat heute eine niedrigere Rate als sein viel reicheres Nachbarland im Norden, die USA.

Eine politische Lösung für den Geburtenkollaps hat bisher kein Land gefunden. Die Gründe sind vielfältig und nicht immer klar. Geburten gehen in Großstädten mit teuren Wohnungen ebenso zurück wie in ländlichen Gegenden, in denen Wohnraum für Familien weniger ein Problem ist; in Ländern mit wachsender Autonomie der Frauen ebenso wie in streng patriarchalen Ländern wie Saudi-Arabien. In reichen Ländern ist der Rückgang gar größer unter Frauen mit weniger Bildung. Gleichzeitig beschleunigt der Zugang zum Internet in Schwellenländern die Verbreitung neuer Geschlechterrollen. Überspitzt gesagt: Die Frauen in Thailand schauen feministische Videos auf Tiktok – und fordern auch in ihrem Land mehr Gleichberechtigung.

„Das letzte, um das sich die Menschen scheren, wird die Umwelt sein“

Vielerorts ist allerdings das Kinderkriegen keine Frage des Wollens, sondern des Könnens. Die Vereinten Nationen sprechen in einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht von einer „Fruchtbarkeitskrise“. In einer Umfrage in vierzehn Ländern gaben zwei von fünf Befragten an, dass finanzielle Erwägungen ihre Familienplanung beeinflussten. In Marokko, Indien und Südafrika ist der Anteil derjenigen, die nicht zum gewünschten Zeitpunkt ein Kind bekommen konnten, weit höher als in den reichen Ländern mit niedriger Geburtenrate wie Deutschland und Südkorea.

Hinzu kommt in westlichen Ländern, dass immer weniger Menschen überhaupt einen Partner haben. Die Soziologin ­Alice Evans vermutet hinter dem Boom des Single-Daseins einen Hauptgrund für weniger Geburten. Der Anteil an jungen Erwachsenen, die mit einem Partner zusammenleben, ist seit den Neunzigerjahren in allen Weltregionen rapide gefallen.

Die Befürchtungen aus den Achtzigerjahren, die Welt stehe vor einer katastrophalen Bevölkerungsexplosion, haben sich längst als falsch erwiesen. Stattdessen stellt nun die abnehmende Bevölkerung die Staaten der Welt vor enorme Probleme. Warum, zeigt ein Blick nach Japan. Das Land erlebte in den Neunzigerjahren einen Einbruch des Wirtschaftswachstums. Dabei hat sich die Wirtschaftsleistung je Erwachsenem im erwerbsfähigen Alter in dieser Zeit nur geringfügig schlechter entwickelt als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wie Jesús Fernández-Villaverde mit zwei anderen Ökonomen untersucht hat. Japans verlorenes Jahrzehnt war zum großen Teil das Resultat seiner schrumpfenden Erwerbsbevölkerung.

Das alles wäre zu verkraften, wenn die Bevölkerung langsam abnähme. Schließlich ist für den Wohlstand der Menschen die Wirtschaftsleistung pro Kopf wichtiger als der absolute Wert. Manche Pro­bleme werden sogar einfacher zu lösen: die Verteilung knapper Ressourcen, Umwelt- und Klimaschutz.

„Wenn die Fertilitätsrate bei 1,8 oder 1,7 liegt, stimmt das alles“, sagt Fernández-Villaverde – aber nicht bei einer Rate von unter 1. „Das stellt die Gesellschaft vor so viele Schwierigkeiten, dass das Letzte, um das sich Leute scheren werden, die Umwelt ist.“ In Deutschland kennt man die Diskussion über die Sozialsysteme, die in einer alternden Gesellschaft aus den Fugen geraten. Bisher hat die Zuwanderung dieses Problem gedämpft, doch wenn auf der ganzen Welt die Bevölkerung schrumpft, kann auch sie kein Allheilmittel sein.

Entvölkerung wird zur gesellschaftlichen Zerreißprobe

Auch die Staatsverschuldung wird schwieriger zu schultern, wenn zukünftige Generationen kleiner sind. Aber es geht auch um die fundamentalen Strukturen einer Gesellschaft. „Angenommen, ein Schuljahrgang hat 100 Schüler“, sagt Fernández-Villaverde. „Bei einer Fertilitätsrate von 1 sind davon in zwei Generationen nur noch 25 übrig. Dann müssen Sie Schulen schließen, Dutzende Universitäten. Das wird ein Drama für viele Städte, die von ihren Unis abhängen. Und Supermärkte werden dichtmachen, weil nicht mehr genug Menschen dort einkaufen.“ Welche gesellschaftliche Zerreißprobe sich daraus ergibt, kann man heute schon in Deutschland beobachten. Die AfD ist besonders stark in ­einigen entvölkerten Gegenden Ostdeutschlands. Der Ökonom Thiemo Fetzer und der Politikwissenschaftler Jacob Edenhofer haben vor Kurzem analysiert, dass in Großbritannien dort besonders viele Menschen für die rechtspopulistische UK Independence Party stimmten, wo viele Geschäfte an der Hauptstraße leer standen.

Nur eine Weltregion hat nach wie vor sehr hohe Geburtenraten: der afrikanische Kontinent. In einigen der ärmsten Länder der Welt, in Tschad, Niger und Somalia, schätzt die UN noch eine Geburtenrate von über 6. Doch wenn die Ökonomen richtig liegen, werden auch in Afrika schon heute weniger Kinder geboren, als die Statistik zeigt. „Es gibt vieles, das wir über Afrika nicht verstehen, aber die Dinge könnten in 30 Jahren sehr anders aussehen“, sagt Fernández-Villaverde. Es sei gut möglich, dass der Kontinent dann ebenfalls unter der Ersatzrate liegt. Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Bevölkerung Afrikas schrumpft.