Es ist, als würde ein Name endlich das dazugehörige Gesicht verliehen bekommen: die Denisovaner – stammesgeschichtlich die Geschwister des Neandertalers –, sie wurden vor fünfzehn Jahren durch Funde in Sibirien berühmt und sind doch unsichtbar geblieben wie ein Phantom. Man fand lediglich Knochen und Fragmente, auch DNA-Schnipsel, und aufgrund immer neuer Funde gab es die berechtigte Vermutung: Denisovaner, das waren die Neandertaler-Verwandten des Ostens. Genetisch abweichend, aber womöglich ebenso erfolgreich. Zumindest so lange, bis sie ähnlich wie der Neandertaler im Westen von Homo sapiens verdrängt wurden. Nun haben die Denisovaner mit der Beschreibung eines fast vollständigen, auf 146.000 Jahre datierten Schädels aus der ostchinesischen Provinz Harbin und den dazugehörigen molekularen Nachweisen ihr Gesicht bekommen.
Den Namen Homo longi – „Drachen-Mann“ – hat der Schädel aus Fernost schon 2021 bei der Erstbeschreibung des Schädels erhalten. Die in den Journals „Science“ und „Cell“ publizierten molekularen Analysen lassen nun auch darauf hoffen, dass einige weitere, teils ältere – aber bisher noch nicht klassifizierte – Hominiden-Funde ebenfalls der Denisova-Verwandtschaft zugeschrieben werden können. Ein wichtiges Kapitel der asiatischen Menschheitsgeschichte wird damit neu aufgeschlagen.
Die gemeinsamen Wurzeln von Neandertaler und Denisovaner werden auf mehr als 400.000 Jahre vor unserer Zeit geschätzt. So alt sind in etwa die frühesten Neandertaler-Beschreibungen. Gut halb so alt sind die bisherigen Denisova-Funde. Irgendwann trennten sich die Wege vom Neandertaler. Der Neandertaler breitete sich im westlichen Teil Europas weit aus, nachweisbare Funde gibt es im äußersten Westen des heutigen Europas bis zu der Zeit vor einigen Zehntausend Jahren. Verglichen mit ihm blieb allerdings die in der sibirischen Denisova-Höhle im Altai-Gebirge 2008 entdeckte Schwesterart fast vollständig ein Rätsel. Bis jetzt.

Der schwedische Nobelpreispräger Svante Pääbo und sein Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hatten die ersten Denisovaner kurze Zeit später nach DNA-Analysen erstmals beschrieben. Und Pääbo, der die wegweisenden Methoden zur molekularen Entschlüsselung von paläontologischen Knochen- und Zahnfunden entwickelte, ist auch an den neuen, von Wissenschaftlern der chinesischen Akademie geleiteten Denisovaner-Untersuchungen beteiligt. Dabei ging es diesmal gar nicht um die DNA aus alten Knochenzellen oder Zahnmaterial, die Pääbo und viele seiner Kollegen mittlerweile aus teils mehrere Hunderttausend Jahre alten Neandertalerproben extrahieren und untersuchen konnten. Denn brauchbare, normale DNA wurde im Schläfenbein des Harbin-Schädels und auch im Kiefer nicht gefunden. Stattdessen entdeckte man an einem der Zähne vielversprechende Plaques – Zahnstein-Reste –, die sich schon bei früheren Frühmenschen-Untersuchungen als mögliche Quelle für DNA-Material erwiesen. Der Vorteil: Im Zahnstein ist das zelluläre Urmaterial regelrecht eingekapselt, es finden sich neben der Zell-DNA mitunter auch Reste der Mundmikroflora und sogar Essensreste. Im Harbin-Schädel waren es winzige 0,3 Milligramm Zahnstein, die an einem der Backenzähne herausgekratzt wurden, aber das reichte schon für die Analysen.
Allerdings war es nicht die DNA aus dem Zellkern des Denisovaners, sondern DNA-Material der für Verwandtschaftsanalysen besonders wertvollen Mitochondrien. Diese Zellorganellen besitzen ein eigenes kleines Genom mit speziellen, unter anderem für die Energiegewinnung wichtigen Erbanlagen. Mit diesem besonderen DNA-Material konnten die Forscher charakteristische Gensequenzen identifizieren, die eine direkte Verwandtschaft der Harbin-Hominiden mit den Denisovanern aus Sibirien nahelegen. Die Mitochondrien-Analysen waren aber keineswegs die einzigen außergewöhnlichen molekularen Zugänge in die Denisovaner-Urwelt: Mit einem eigens entwickelten Verfahren zu der Proteinzusammensetzung im Knochen- und Zahnmaterial haben die chinesischen Forscher zudem ein für Denisovaner beziehungsweise für Neandertaler typisches Proteinmuster identifiziert. Über die Abweichungen in der chemischen Zusammensetzung der Proteinbausteine, ermittelt im Massenspektrometer, lässt sich wiederum rückschließen auf die genetisch kodierten Unterschiede der jeweiligen Funde. Im Falle des Harbin-Schädels wurden Zehntausende Proteinschnipsel entziffert. In 122 einzelnen molekularen Abweichungen ließ sich der Nachweis der Homo-Zugehörigkeit erbringen, drei der im Harbin-Schädel identifizierten Proteinbaustein-Unterschiede konnten als typisch Denisovaner identifiziert werden.
Für die Wissenschaftler schließt sich damit ein Kreis. Bei vielen der gut zwanzig chinesischen paläoanthropologischen Funde aus dem mittleren Pleistozän, die in den vergangenen Jahren entdeckt worden waren, hatte man nur spekulieren können. Mit diesem ersten gut erhaltenen Denisova-Nachweis ganz im Osten Asiens liegt nun die Vermutung nahe, dass auch die anderen asiatischen Funde größtenteils der Denisova-Verwandtschaft zuzuschreiben sind. Sicher ist das noch keineswegs, das betonen auch die chinesischen Forscher. Doch mit den neuen Methoden ist zumindest die Hoffnung gewachsen, auch im Hinblick auf die Verbreitung und die Lebensweise der Denisovaner bald noch mehr Klarheit zu bekommen.