Als Carl Tillessen 1997 zusammen mit Daniela Biesenbach die Berliner Modemarke Firma ins Leben rief, ging für ihn ein Traum in Erfüllung: „Mode ist meine größte Schwäche“, sagt der heute 57 Jahre alte Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts (DMI). Zu Beginn nur mit einer Männerlinie, expandierte das Label bald – und gewann mehrere Auszeichnungen. 2015 war dann plötzlich Schluss, aber nicht wegen Insolvenz, wie er betont: „Unter diesen Rahmenbedingungen haben wir keine Perspektive mehr gesehen.“
Was genau er damit meint, verschriftlichte er im Jahr 2020 in dem Buch „Konsum – warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ – eine radikale Abrechnung mit der Mode- und Konsumwelt. Darin prangert er ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in den Fabriken an, umwelt- und klimaschädliche Produktionsbedingungen sowie die Strategien von Unternehmen, die Menschen dazu verleiten, ständig neue Dinge zu kaufen. Warum stellt jemand, der seit Jahrzehnten Teil der Konsum- und Modewelt ist, diese so grundsätzlich infrage?
Tillessen gibt im Gespräch mit der F.A.Z. zu, dass seine Kritik und die Motivation für sein Buch mit dem Scheitern seiner Marke zusammenhängen. Das Schreiben sei eine Art „therapeutischer Aufarbeitungsprozess“ gewesen. Großkonzerne wie H&M übernehmen zunehmend von der Produktentwicklung bis zum Endverkauf möglichst viele Prozesse selbst. Deswegen verschwanden seiner Meinung nach viele Multimarkengeschäfte, die als Mittler zwischen einem Label wie seiner ehemaligen Marke und dem Konsumenten stehen.
Entweder Shein oder Louis Vuitton
Mit der Digitalisierung habe sich dieser Prozess noch weiter radikalisiert. Die Großkonzerne seien noch größer geworden: „Die derzeitige Konzentration von Marktmacht verhindert fairen Wettbewerb.“ Was er ebenfalls als fatal ansieht: Das Mittelpreissegment habe kaum noch Chancen – nicht nur in der Modebranche, sondern in der gesamten Konsumwelt. „Es besteht entweder vor allem Nachfrage für extrem billige Produkte oder für extrem teure“, sagt Tillessen, der in Hamburg BWL und Kunstgeschichte studiert hat. Entweder Shein oder Louis Vuitton.
Verantwortlich für diese Entwicklung macht Tillessen die Phase der Globalisierung in den Neunzigerjahren. Noch mehr Modeunternehmen verlagerten ihre Produktion in Billiglohnländer, und die Ware verlor aus seiner Sicht in vielen Fällen an Qualität. So konnten die Preissteigerungen für Kleidung und Schuhe deutlich hinter jenen der meisten anderen Produkte zurückbleiben.
Dass der Anteil von Kleidung und Schuhen an den Konsumausgaben mit der Zeit stark gesunken ist und heute weniger als fünf Prozent ausmacht, sei kein Grund zur Freude: „Viele Menschen haben die Wertschätzung für Mode verloren.“ Die Folgen: hohe Belastungen für die Umwelt und das Klima – etwa durch den Verbrauch von Materialien, Landfläche und Wasser sowie durch Mikroplastik, Treibhausgasemissionen und Chemikalien. Konsumierte jeder Mensch so wie ein Durchschnittsdeutscher, bräuchte es mindestens die Ressourcen von drei Erden. Die Ausbeutung von Mensch und Natur sei aber nicht allein das Problem der Billig- und Fast-Fashion-Anbieter. Leider habe der Preis eines Produkts an Bedeutung verloren. Ob Temu und Shein , H&M oder Zara, Adidas und Nike oder Gucci und Prada.
Süchtig nach Kaufen
„Die Gewährleistung von fairen Arbeitsbedingungen und damit die Achtung der Menschenrechte ist schrecklicherweise eher die Ausnahme als die Regel“, sagt er. Seine Überzeugung ist deshalb: Unser Wohlstand beruhe auf moderner Sklaverei. Bei einem Preis von deutlich weniger als zwei Euro für ein T-Shirt könne man relativ sicher davon ausgehen, dass die Arbeitsbedingungen ausbeuterisch seien. Ein hoher Preis hingegen sei zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für faire Arbeitsverhältnisse.
Allein Konsumenten dafür verantwortlich zu machen, findet Tillessen aber nicht sinnvoll. Dass Menschen sich durch Konsum von anderen abheben wollen, ihren Selbstwert stärken oder sich für harte Arbeit belohnen, sei ein Stück weit schon immer der Fall gewesen. Aber die Digitalisierung und vor allem soziale Medien hätten dazu beigetragen, dass viele Kunden aus dem Kaufrausch gar nicht mehr herauskämen. Alltagskonsum vergleicht er mit Drogenkonsum. „Wenn wir etwas kaufen, wird unser Gehirn mit Dopamin geflutet – das nutzen viele Unternehmen aus“, sagt er: „Wir kaufen Dinge, die wir nicht zwingend benötigen, weil wir Angst haben, sonst nicht mehr dazuzugehören.“
Doch wenn Tillessen all das so schrecklich findet: Warum ist er dann immer noch als Berater in der Branche tätig und nicht längst ausgestiegen? „Ich will innerhalb der Branche für Verbesserungen kämpfen“, sagt er. Er versuche so gut wie möglich, im Privaten seinen Überzeugungen nachzukommen – auch wenn das in seinem Berufsalltag nicht immer möglich sei. „Wir müssen lernen, mit dem auszukommen, was uns wirklich etwas bedeutet.“ Ihm selbst falle das oft nicht leicht. Zwar achte er auf Langlebigkeit und werfe kaum etwas weg, aber die Zahl der Kleidungsstücke in seinem Schrank liege wohl weit über der des Durchschnittsdeutschen.
Lieferkettengesetz ist wichtiger Schritt zu mehr Verantwortung
Die Frage, die sich dabei aufdrängt: Wenn Menschen wirklich nur noch essenzielle Dinge kaufen und zu Preisen, die mit Klima- und Umweltschutzzielen sowie fairen Arbeitsbedingungen vereinbar sind, kommt es dann nicht zu erheblichen wirtschaftlichen Problemen? Konkrete wirtschaftspolitische Antworten auf diese Frage hat er nicht. Der Modefachmann räumt zugleich ein, dass es politische Reformen brauche. Sein Buch habe er aber vor allem für Konsumenten geschrieben.
Was aus seiner Sicht ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist: das Lieferkettengesetz der EU, das Unternehmen verpflichtet, für die Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards zu sorgen: „Die freiwillige Selbstkontrolle der Industrie funktioniert überhaupt nicht.“ Je freier der Markt, desto schlimmer werde es, ist er überzeugt. Dass die damit verbundene zusätzliche Bürokratie Unternehmen überfordert, hält er für eine schlechte Ausrede: „Wir müssen endlich Verantwortung für unseren Konsum übernehmen.“