Shakira Wafulas Gesicht ist immer noch überlebensgroß auf einem Wandgemälde an einem Rasenstück in Nairobi zu sehen. Die Kenianerin hatte sich vor einem Jahr unerschrocken einem Polizisten entgegengestellt. Sie trug eine Kappe über ihrem Kopftuch, er einen Helm. Er war bewaffnet, sie hatte ein Handy und eine Fahne bei sich. „Ich bin für Kenia hier, ich bin für mein Volk hier, ich bin für deine Rechte hier“, rief sie. Sichtbar verblüfft wandte sich der Polizist einige Sekunden später ab. Das Video der kurzen Konfrontation wurde in den sozialen Medien unzählige Male geteilt. Die Muslimin wurde zu einem der berühmten Gesichter der sogenannten Generation-Z-Proteste in Kenia. Ein Jahr später kam es am Mittwoch wieder Protesten und Gedenkmärschen im ganzen Land.
Tausende Kenianerinnen und Kenianer hatten im vergangenen Juni gegen die Regierung demonstriert – dann kam es zur Eskalation. Als eine kleine Gruppe das Parlament stürmte, schoss die Polizei mit scharfer Munition. Mindestens zehn Menschen wurden getötet. Der kenianische Präsident William Ruto kündigte infolge der Proteste an, ein umstrittenes Finanzgesetz mit zahlreichen Steuererhöhungen nicht zu unterschreiben. Dieses Gesetz war der Auslöser der Demonstrationen, wobei die Details schnell in den Hintergrund gerieten. Sie wurden überlagert von Frustration und ohnmächtigem Ärger der jungen Generation, die sich von der Regierung verraten und missachtet fühlte.
Insgesamt kamen bei Kenias „Gen-Z-Protesten“ nach Schätzung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International mehr als 60 Menschen ums Leben. Kurz vor dem Jahrestag wurden nun Fotos ihrer Gesichter in den sozialen Medien veröffentlicht, die meisten blicken voll Lebensfreude in die Kamera. Hunderte Demonstranten wurden außerdem verletzt, Tausende festgenommen. Amnesty International berichtete im September von 130 vermissten und vermutlich verschleppten Personen – von einigen fehlt bis heute jede Spur.
Angehörige fordern Entschädigung
Die 31 Jahre alte Shakira Wafula ist am Leben. Einmal wurde sie von einem Tränengaskanister getroffen, blieb ansonsten aber unverletzt. Seit der Konfrontation mit dem Polizisten, die auf der Mauer von einem Künstler verewigt wurde, sei kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht dafür eingesetzt habe, dass die junge Generation in Kenia Gehör findet und die Opfer der Proteste nicht in Vergessenheit geraten, sagt sie der F.A.Z. Am Mittwoch wollte sie wieder losziehen, um „Solidarität mit den Familien der Betroffenen zu zeigen und irgendeine Form von Gerechtigkeit zu verlangen“. Ihre Gruppe wollte dem Parlament eine Petition der Eltern getöteter Kinder übergeben. Ihre Kinder hätten ihr Recht auf Protest ausgeübt, dabei seien sie „kaltblütig“ getötet worden, manche mit Schüssen in den Rücken. Die Familien fordern Ermittlungen, Gerichtsprozesse und Entschädigungen. Keiner der Täter sei bisher zur Verantwortung gezogen worden, sagt Wafula.
Die „Gen-Z-Proteste“ haben zwischenzeitlich an Wucht verloren, aufgehört aber haben sie nicht. Hinter den über die sozialen Medien koordinierten Protesten steckt weiterhin keine erkennbare einzelne Persönlichkeit, Organisation oder Partei. Das habe es früher in Kenia nicht gegeben, sagt Stefan Schott, Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Nairobi. „Menschen im ganzen Land waren stolz auf diese junge Generation. Das Gefühl, wir erheben uns gemeinsam, wir gehen auf die Straßen, wir kriegen das hin, war überwältigend.“ Kurzzeitig schien es, als hätten die Demonstranten tatsächlich einen Wandel herbeigeführt. Kenias Präsident entließ fast das gesamte Kabinett, stellte sich auf der Plattform X den Fragen der Nutzer. Doch die Hoffnungen verpufften schnell, als die meisten entlassenen Minister nach kurzer Zeit in die Regierung zurückkehrten.
Auch die Glaubwürdigkeit großer Teile der parlamentarischen Opposition litt nach einem Pakt des Oppositionsveteranen Raila Odinga mit dem Präsidenten. Mitglieder seines Parteienverbundes schlossen sich einer „breit aufgestellten Regierung“ an, weil sie nach Odingas Worten dort mehr bewegen können als in der Opposition. Auch in der eigenen Partei stieß dieser Schachzug des heute 80 Jahre alten Politikers, der fünfmal vergeblich für die Präsidentschaft kandidiert hatte, auf Kritik. In der jüngeren Bevölkerung habe sich viel Wut auf nahezu das gesamte politische Establishment aufgestaut, sagt Schott. Immer neue Fälle von Polizeibrutalität heizen die Stimmung zusätzlich an und drängen frühere Streitthemen wie steigende Lebenshaltungskosten oder Steuererhöhungen in den Hintergrund.
Tod eines Bloggers heizt Proteste neu an
Wenige Wochen vor dem Jahrestag war es die Tötung eines Internet-Bloggers in Polizeigewahrsam, die für großes Entsetzen sorgte. Der 31 Jahre alte Albert Ojwang war festgenommen worden, nachdem ihm Kenias stellvertretender Polizeichef vorgeworfen hatte, ihn in den sozialen Medien beleidigt zu haben. In einem Polizeibericht hieß es zunächst, Ojwang sei im Gefängnis an Verletzungen gestorben, die er sich selbst zugefügt habe, indem er den Kopf gegen die Wand geschlagen habe. Der spätere Autopsie-Bericht enthielt klare Hinweise auf Fremdeinwirkung. Der Vize-Polizeichef musste zurücktreten, drei Polizisten erschienen Anfang dieser Woche vor Gericht. Dann folgte nur kurze Zeit später die Veröffentlichung eines Videos, auf dem Polizisten zu sehen sind, die einen Straßenhändler aus nächster Nähe in den Kopf schießen. Der Mann hatte am Rande der Proteste Gesichtsmasken verkauft.
Die Demonstrationen und Gedenkmärsche hatten am Mittwoch friedlich begonnen, lokalen Medienberichten zufolge brach jedoch im Laufe des Tages vielerorts Gewalt aus. Demonstranten warfen demnach mit Steinen auf Polizeibeamte, die Polizei reagierte ihrerseits mit dem Einsatz von Tränengas. Nach Angaben zweier Krankenhäuser wurden zwei Demonstranten durch Schüsse getötet. Kenianische Medien berichteten, die Polizei habe auf Demonstranten geschossen. Einige Demonstranten wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Die Regierung wies Radio- und Fernsehsender an, die Live-Berichterstattung einzustellen.
In Onlinekampagnen hatten einige Aktivisten dazu aufgerufen, bei den Protesten am Mittwoch „alles zu besetzen“, auch wichtige staatliche Institutionen wie die offizielle Residenz des Präsidenten. Amnesty International wiederum hatte an die Polizei appelliert, sich an Recht und Gesetz zu halten, Zurückhaltung zu üben und die Teilnehmer an den Demonstrationen zu schützen. Die Menschenrechtsorganisation reagierte auf Medienberichte, denen zufolge Regierungsbeamte in Pläne verwickelt seien, friedliche Versammlungen zu unterwandern und zur Gewalt anzustiften. Bei früheren Protesten gab es Vorwürfe, bezahlte Schlägertrupps hätten die Sicherheitskräfte dabei unterstützt, gegen Demonstranten vorzugehen.
Shakira Wafula und ihre Mitstreiter haben über den Jahrestag hinaus die Parlamentswahl 2027 im Blick. „Wir können uns nicht auf die gegenwärtigen Politiker verlassen“, sagt sie. Vor allem jungen Menschen müsse der Weg in politische Ämter geebnet werden. Die Hälfte der kenianischen Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre. Viele seien der Überzeugung, Politik habe mit ihrem eigenen täglichen Leben wenig zu tun. Über andere Formen der Regierungsführung müsse nachgedacht werden. Einige technikaffine Aktivisten arbeiten im Hintergrund an Internet-Plattformen, um Bürgern mehr Eigeninitiative und Unabhängigkeit von staatlichen Stellen zu ermöglichen oder um junge Menschen in Jobs zu bringen. Es gebe so viel zu tun, sagt Wafula, aber „leider hat man das Gefühl, immer wieder auf die Straße ziehen zu müssen. Immer wieder müssen neue Feuer gelöscht werden.“