Kann Deutschland sich diese Neuverschuldung leisten?

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Diese Zahlen sollen manch gestandenem Abgeordneten von CDU und CSU einen Schreck in die Glieder getrieben haben: In nur fünf Jahren wird der Schuldenberg des Bundes um 50 Prozent in die Höhe schießen. In den 75 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik hat der Bund eine Kreditlast von rund 1700 Milliarden Euro angehäuft. Nach den Plänen, die Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) Anfang der Woche vorgelegt hat, kommen nun bis Ende 2029 rund 850 Milliarden Euro hinzu.

Kann Deutschland sich diese Neuverschuldung leisten? Der Bund hat eine im internationalen Vergleich überschaubare Altlast. Er ist einer der besten Schuldner. Doch manche Ökonomen warnen. „Die exzellente Bonität des deutschen Staates an den Finanzmärkten war bislang ein Stabilitätsfaktor“, sagt Stefan Kooths, Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel: „Dieser Standortfaktor schwindet, wenn demnächst bis zu fünf Prozent der Wirtschaftsleistung in die erweiterte Sicherheit fließen und die Finanzpolitik die dafür möglichen Kreditspielräume voll ausschöpft.“

Das Verhältnis von Schulden zu gesamtwirtschaftlicher Leistung, die Schuldenquote, lag in Deutschland zuletzt auf 62,5 Prozent oder knapp über der europäischen Obergrenze von 60 Prozent, aber weit unter dem Durchschnitt der Euro-Staaten. Bisher war die Schuldenbremse im Grundgesetz so streng, dass Deutschland gleichsam automatisch die europäischen Fiskalregeln einhielt. Ein moderates jährliches Defizit sorgte im Zusammenspiel mit der Geldentwertung selbst bei einer real kaum wachsenden Wirtschaft dafür, dass die Schulden im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt sanken. Ausreißer in Notlagenjahren konnten regelmäßig „verdaut“ werden.

Schuldenquote weit über 60 Prozent

Das ändert sich nun. Das Finanzministerium hat bislang keine Berechnung vorgelegt, wie sehr die erhöhten Ausgaben für Infrastruktur und Verteidigung die Schuldenquote in den kommenden Jahren treiben werden. Sicher ist, dass sich Deutschland deutlich von der Marke von 60 Prozent des BIP entfernt. Vor allem die Steigerung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP dürfte die Staatsverschuldung drastisch anschieben.

Das zeigen Berechnungen, die das Institut für Weltwirtschaft in Kiel für die F.A.Z. erstellt hat. Der Schuldenstand könnte danach bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2029 auf mehr als 70 bis 80 Prozent steigen. Angenommen ist dabei, dass die Bundesregierung die Verteidigungsausgaben von 2027 an auf drei beziehungsweise fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigert.

Im Szenario mit Verteidigungsausgaben von fünf Prozent – davon vier Prozent kreditfinanziert, könnte der Schuldenstand bis 2029, je nach Wirtschaftswachstum, auf 75 bis 81 Prozent steigen. „Mit den steigenden Schuldenständen, werden in den 2030er Jahren mehr Staatsausgaben für Zinslast gebunden sein“, sagt Kooths vom IfW. Die Zinsausgabenquote dürfte sich bereits in wenigen Jahren verdoppeln. „Die Flucht in die Defizite löst auf Dauer kein Problem, sondern reicht sie nur in geballter Form an die Nachfolger weiter“, sagt Kooths.

Mit den erhöhten Verteidigungsausgaben könnten die deutschen Schulden längerfristig in eine Dynamik hineinwachsen, die bislang nur aus fiskalpolitisch unsolideren Staaten des Euroraums bekannt ist. Im Jahr 2040, also in nur 15 Jahren, dürfte der Schuldenstand sich unter den genannten Annahmen im schlechtesten Fall fast verdoppelt haben. Je nach Stärke des Wirtschaftswachstums zeigen die Rechnungen des IfW für das Jahr 2040 eine Schuldenquote von 90 bis 118 Prozent des BIP.

Bald amerikanische Verhältnisse?

Die obere Grenze ist die Größenordnung, die im Euroraum bislang nur von Ländern wie Spanien und Portugal, Belgien und Frankreich erreicht wird. Für Frankreich erwartet die Europäische Kommission in diesem Jahr einen Schuldenstand von 116 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland wäre nach den Kieler Berechnungen nicht mehr weit vom jetzigen Schuldenstand der Vereinigten Staaten von etwa 125 Prozent des BIP entfernt, der derzeit die Anleger an den Anleihenmärkten beunruhigt und der zur Herabstufung der Kreditwürdigkeit der Regierung in Washington geführt hat.

Die Neuverschuldung soll auf der jüngsten Sitzung des geschäftsführenden Vorstands der Unionsfraktion am Montag kurz behandelt worden sein, heißt es in Berlin. Im größeren Kreis haben die Abgeordneten von CDU und CSU diese Woche nicht über Klingbeils Kreditplan diskutiert, weil der Bundeshaushalt 2025 erst später auf der Tagesordnung des Bundestags stehen wird. Das Zahlenwerk des Finanzministers kaschiert die ganze Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben. Denn der SPD-Politiker arbeitet mit einem „Handlungsbedarf“.Er beträgt insgesamt 144 Milliarden Euro für die Jahre 2027 bis 2029. Trotz gelockerter Schuldenregel müssen dann entweder Ausgaben gekürzt oder Einnahmen erhöht werden.

Das am Donnerstag vom Bundestag beschlossene erste Steuerpaket der schwarz-roten Koalition, mit dem private Investitionen angekurbelt soll, verstärkt kurzfristig die Finanzprobleme des Bundes – zumindest bis das Wachstum der Wirtschaft wie erhofft anspringt. Es sorgt für Mindereinnahmen von rund 46 Milliarden Euro bis 2029. Von diesen trägt der Bund nach der üblichen Steuerverteilung zwar „nur“ 17,9 Milliarden Euro. Aber damit die Länder das Gesetz im Bundesrat nicht aufhalten, hat die Bundesregierung den Ministerpräsidenten weitreichende Zugeständnisse gemacht. Den Kommunen will sie ihre Steuerausfälle komplett ausgleichen (je nach Rechnung 11,5 bis 13,5 Milliarden Euro bis 2029). Die Länder bekommen nochmals acht Milliarden Euro aus dem Bundesanteil des Sondervermögens für Infrastruktur und Klimaneutralität.

Zudem erhalten die Länder einen größeren Spielraum, was die Verwendung „ihrer“ 100 Milliarden Euro aus dem Sondertopf betrifft. Daraus finanzierte Investitionen müssen nicht länger zusätzlich sein. Auch können sie das Geld für weitere Zwecke nutzen wie Sport, Kultur, Innere Sicherheit, Wasserwirtschaft und Wohnungsbau. Dass von den Finanzministern der Länder keine lauten Jubelschreie zu hören waren, könnte damit zusammenhängen, dass die abermals in Aussicht gestellte Beteiligung des Bundes an der Entschuldung der Kommunen kein Datum trägt. In den Ländern gibt es daher die Sorge, dass dies auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden könnte.