Wovon Klingbeil seine SPD überzeugen will

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Lars Klingbeil erzählte kürzlich eine Anekdote über einen Späti um die Ecke seiner Berliner Wohnung und die zwei jungen Männer, die ihn führen. Die beiden stünden hinterm Tresen um sieben Uhr morgens und um 23 Uhr abends. Sie kämen nicht aus Deutschland, hätten eine Migrationsgeschichte. Neulich habe Klingbeil ein Paket in dem Späti abholen wollen, aber er habe seinen Ausweis vergessen. Da hätten ihm die beiden Inhaber gesagt: Herr Klingbeil, Sie müssen Ihren Ausweis mitbringen, sonst können wir Ihnen das Paket nicht geben. Klingbeil ging also nach Hause und holte seinen Ausweis.

„Ich bewundere die“, fasste Klingbeil die kleine Geschichte in einem Podcast der „Zeit“ zusammen. Das seien tolle Menschen. Hochfleißig. Und an dem Punkt wurde die Anekdote zum politischen Konzept. Denn die beiden Späti-Betreiber repräsentierten vielleicht eine neue Arbeiterklasse, sagte Klingbeil. „Denen muss ich aber mit Bürgergeld nicht kommen.“ Stattdessen müsse die SPD diesen Leuten ein Angebot machen, das nicht aus Sozialleistungen bestehe. Es gehe um Gerechtigkeit. Die Pflegekraft schaue beim Lohn nach oben – aber auch nach unten. „Um die kümmern wir uns.“

Ist das tatsächlich so? Passen die Worte von Klingbeil, der inzwischen SPD-Vorsitzender, Bundesfinanzminister und auch noch Vizekanzler ist, zu seinen Taten und denen seiner Partei? Um beim Beispiel Bürgergeld zu bleiben: Noch hat die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas keinen Gesetzentwurf für ein strengeres Regime vorgelegt, obwohl es so im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Und im Haushaltsentwurf für das laufende Jahr sieht sie keine Einsparmöglichkeiten bei der Sozialleistung.

Auch bei anderen Themen stellt sich die SPD auf die Hinterbeine, obwohl ihr Vorsitzender versprochen hat, dass die Partei nicht linker und nicht polarisierter werden wird: Sei es die europäische Lieferkettenrichtlinie, die Flexibilisierung der Arbeitszeit oder die Festlegung beim Mindestlohn.

Höchste Priorität: Arbeitsplätze sichern

Mancher Widerspruch ergibt sich aus den vielen Hüten, die Klingbeil auf seinem Kopf hat: Ein Vizekanzler redet anders als ein SPD-Vorsitzender. Es hat aber auch damit zu tun, dass die SPD eine mitunter widerspenstige Partei ist. Klingbeil hat im Hauruckverfahren fast das gesamte Spitzenpersonal ausgetauscht und nahezu alle Entscheidungsgewalt bei sich selbst gebündelt. Die Partei machte mit, aber die Unruhe ist groß. Klingbeil wird auf dem Parteitag, der an diesem Freitag in Berlin beginnt, den Frust zu spüren bekommen. Klingbeils Umfeld rechnet für seine Wiederwahl mit einem mäßigen bis schlechten Ergebnis. In allgemeinen Umfragen steigt Klingbeils Beliebtheit hingegen.

Alle in der Partei empfinden die 16,4 Prozent für die SPD bei der Bundestagswahl im Februar als Katastrophe, alle finden, es müsse sich etwas grundlegend ändern. Aber was? Da gehen die Meinungen auseinander. Klingbeil hat eine klare Vorstellung vom Umbau der SPD, womöglich hat er nur jetzt die Möglichkeit, diese in die Realität umzusetzen. Aber schafft Klingbeil nach dem personellen Umbau auch den inhaltlichen?

Erkundigt man sich in Klingbeils Umfeld, was für ihn politisch die höchste Priorität hat, dann heißt es ganz im Sinne seiner Späti-Anekdote: Arbeitsplätze sichern. Die Wirtschaft wieder ins Laufen bringen. Außerdem müssten die strauchelnden Sozialversicherungssysteme gesichert werden. Klingbeil will als jemand gelten, der pragmatische Alltagspolitik für die Fleißigen macht. Nur so kann man Wahlen und Wahlkreise gewinnen, glaubt er. Nicht mit der Addition von Nischenthemen. Klingbeil will Leute, die Mehrheiten hinter sich vereinen können. Nicht Minderheit plus Minderheit. Er selbst hat seinen Wahlkreis im ländlichen Heidekreis mehrfach direkt gewonnen. Als größtes Lob empfindet er es, wenn ihm CDU-Wähler sagen, sie fühlten sich von ihm gut repräsentiert.

Auf Überrumpelungsmanöver vorbereitet

Klingbeil ist damit nach vergleichsweise kurzer Zeit dort angekommen, wo alle Spitzen-Sozialdemokraten irgendwann landen: beim Pragmatismus, mit mal einer größeren oder kleineren Portion Zukunftsversprechen. Und Klingbeil spürt jetzt das, was auch Schmidt, Schröder, Müntefering und Gabriel erlebten: Der Partei reicht das nicht. Sie ist zwar meist loyal, aber die sozialdemokratische Seele verlangt nach mehr. Ausdruck findet das meist in Papieren, die dem Pragmatismus der Regierungsmaschine SPD einen theoretischen Überbau geben wollen. Was dann sofort zu Konflikten führt.

Jüngstes Beispiel ist das Manifest einiger Friedensbewegter. In ihm wird eine Wiederannäherung an Russland gefordert, außerdem Deutschland und anderen westlichen Ländern unterstellt, eine Konfrontationsstrategie zu verfolgen, flankiert von Milliardeninvestitionen in Aufrüstung. Prominenteste Unterzeichner des „Manifests“ sind der frühere Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich und der Außenpolitiker Ralf Stegner.

Für den Parteitag ist kein Antrag eingereicht worden, der sich in dieser Form mit den Fragen von Krieg und Frieden beschäftigen würde. Was zunächst verwundern mag, ist aus Sicht der Friedenspolitiker taktisch sinnvoll: Lieber einen Initiativantrag während des Parteitreffens stellen, anstatt schon vorher alles von der Antragskommission abräumen lassen.

Die Antragskommission bereitet sich auf ein solches Überrumpelungsmanöver vor, um nicht überrumpelt zu werden. Dass das Thema hitzig diskutiert werden wird, ist zu erwarten. Klingbeil will die Debatte zulassen, verweist aber gleichzeitig auf die Beschlusslage der Partei: Russland ist der Aggressor, die Bundeswehr muss aufgerüstet werden. Das sei die vorherrschende Meinung, auch auf dem Parteitag, heißt es in der SPD.

Klingbeil muss „ehrliches Ergebnis“ befürchten

Gleichzeitig weiß Klingbeil, dass es in der SPD eine kritische Masse an Leuten gibt, die sich vor dem Verlust des Siegels „Friedenspartei“ fürchten. Je härter die Zeiten, desto dichter drängen sich Sozialdemokraten um das warme Feuer der folkloristischen Selbstzuschreibungen. Und die Zeiten sind hart. Das Thema ist außerdem der Punkt, an dem sich die eher diffuse Kritik an Klingbeil materialisiert. Nach dem Motto: Der will nicht nur immer mehr Macht, sondern verrät auch noch das Erbe der deutschen Sozialdemokratie. Die Jusos haben in Klingbeil ihren neuen Lieblingsgegner gefunden. Aber auch jenseits der Jungsozialisten gibt es Leute in der Partei, die Klingbeil grundsätzlich unterstützen, weil er und seine Machtfülle gerade unvermeidlich erscheinen. Die aber auch finden, dass er nur in kurzen Linien denke und handle.

Die Parteitagsdelegierten werden sich mindestens ein Ventil suchen: Sei es die Debatte über das 3,5-Prozent-Ziel der NATO für Kernverteidigungsaufgaben, das Klingbeil durchdrückte. Dabei hatte die SPD noch vor wenigen Jahren Wahlkampf gegen das Zwei-Prozent-Ziel gemacht. Oder sei es die Debatte über die Wehrpflicht. Oder die über die Höhe des Mindestlohns, über die die zuständige Kommission unmittelbar vor dem Parteitag entscheiden will.

Generalsekretär Tim Klüssendorf erwartet ein „ehrliches Ergebnis“ für Klingbeil bei seiner Wiederwahl an diesem Freitagabend. Mit mehr als 80 Prozent rechnet niemand in der Partei. Bei Bärbel Bas, die ebenfalls gewählt werden soll, ist das anders. Sie gilt als frische Person und ohne Ballast, obwohl sie als Bundestagspräsidentin schon das zweithöchste Amt im Staate innehatte.

Nach der Wahl stehen den Vorsitzenden dann noch zwei Tage mit komplizierten Debatten bevor: Am Samstag geht es vermutlich um Krieg und Frieden, Israel und Gaza. Am Sonntag dann zum Abschluss des Parteitags um den Umgang mit der AfD. Vorbereitet ist ein Antrag zur Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, um Material über die AfD zu sammeln, um im Fall der Fälle bereit zu sein für ein Verbotsverfahren.

Nicht nur bei diesem Thema wird der Abstand zum Koalitionspartner auf dem Parteitag deutlich werden. Nach dem Verlust des Kanzleramts ist die SPD wieder im Große-Koalitions-Blues angekommen: frustriert von der Union, erschöpft vom Regieren. Von einer Parteilinken war dieser Tage zu hören: „Nichts ist gut mit Friedrich Merz.“ Aber sie schob hinterher: Alles andere wäre noch schlechter.