Erklärt Benjamin Netanjahu bald das Ende des Gazakriegs?

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Der wichtigste innenpolitische Moment für Israel war in dieser Woche nicht der Waffenstillstand mit Iran, der den zwölftägigen Krieg am Dienstag beendete. Der wichtigste Moment hatte sich am Tag zuvor ereignet: als Benjamin Netanjahu Falafel essen ging.

Der Ministerpräsident hatte den Ort eines Raketeneinschlags in der Stadt Rishon LeZion besucht, bei dem eine Woche zuvor zwei Menschen getötet worden waren. Dort sagte er ein paar Sätze darüber, dass man den betroffenen Menschen unbürokratisch helfen wolle, und verkündete, er sei stolz auf das israelische Volk. Anschließend ging er in Begleitung des Bürgermeisters zu „Shoshanas Falafel“, einem Imbiss in einem nahe gelegenen Viertel – einer Hochburg seiner Likud-Partei. Dort war alles abgesperrt. Fotos zeigen ihn mit einem Sandwich in der Hand, auf einem Video ist zu hören, wie in einer Menschenmenge „Bibi, König von Israel“ gerufen wird.

Viele Beobachter waren sich einig: Mit dem volkstümlichen Besuch inmitten der militärischen Auseinandersetzung mit Iran signalisierte Benjamin „Bibi“ Netanjahu, dass er sich jetzt wieder der Innenpolitik zuwenden wird. Manche spekulieren sogar, dass in nicht allzu ferner Zukunft gewählt wird. „Netanjahu ist bereits im Wahlkampf“, sagte der Oppositionspolitiker Avigdor Lieberman der Zeitung „Maariv“ und fügte hinzu: „Woher ich das weiß? Diese Woche hat er schon in Rishon LeZion Falafel gegessen und dafür bezahlt.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Der Krieg und sein Ende haben in Israel und Palästina verschiedene Prozesse in Gang gesetzt, wie ein ins Wasser geworfener Stein, der Kreise zieht. Da ist zum einen die Innenpolitik. Kurz vor dem Beginn der israelischen Angriffe auf Iran war Netanjahus Koalition wieder einmal in der Krise, und wie meistens zuletzt ging es um die Wehrpflicht für ul­tra­orthodoxe Religionsstudenten.

Das Thema ist ein Dauerbrenner in der israelischen Politik, regelmäßig verursacht es kleine Feuer, die Netanjahu löschen muss. Es handelt sich für Netanjahu um ein fast unlösbares Problem. Die Ultraorthodoxen fordern, dass jüdische Religionsstudenten auch in Zukunft vom Wehrdienst ausgenommen werden. Das Oberste Gericht und weite Teile der israelischen Bevölkerung verlangen dagegen, dass auch dieser Teil der Gesellschaft endlich seinen Beitrag leistet angesichts der militärischen Belastungen für die Bevölkerung.

Der Krieg hat Netanjahu politisch geholfen

Netanjahu schiebt den Konflikt seit Langem vor sich her. Dieses Mal half ihm der Krieg dabei, dass das Thema vorerst von der Bildfläche verschwand. Aber es wird mit Sicherheit wieder auftauchen, denn für die beiden ultraorthodoxen Parteien in der Koalition gehört es zu den wichtigsten Programmpunkten. Immer wieder drohen sie damit, die Koalition deswegen platzen zu lassen.

Israelis schlafen in den Tiefgaragen von Tel Aviv, um sich vor iranischen Raketenangriffen zu schützen.
Israelis schlafen in den Tiefgaragen von Tel Aviv, um sich vor iranischen Raketenangriffen zu schützen.AP

Bislang waren das leere Drohungen, und im Grunde möchte Netanjahu gerne mit seiner Koalition weiterregieren bis zur nächsten Wahl, die regulär im Herbst 2026 stattfinden wird. Aber wenn sich ein günstiger Augenblick ergibt, könnte er auch eine vorgezogene Wahl provozieren – etwa indem er verhindert, dass ein Haushalt verabschiedet wird.

Wäre die Phase nach einem aus israelischer Sicht erfolgreich verlaufenen Krieg möglicherweise ein solcher Zeitpunkt? Mit großem Interesse blicken Politiker und politische Analysten in diesen Tagen auf die Ergebnisse der Meinungsumfragen, die seit Kriegsbeginn gemacht wurden. Tatsächlich hat der Likud um mehrere Sitze zugelegt, auf 26 oder 27. Das ist allerdings immer noch weniger als die 31 Sitze, die er bei der Wahl Ende 2022 errungen hatte. Die jetzige Koalition liegt in den zuletzt veröffentlichten Umfragen auch immer noch deutlich unter 61 Sitzen, der absoluten Mehrheit in der Knesset.

Die Koalition hat vor allem aufgrund zweier Themen einen Einbruch in der Wählergunst erlitten: durch die umstrittene „Justizreform“, die sie kurz nach dem Beginn ihrer Amtszeit in Angriff genommen hatte, und durch den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 sowie den dadurch ausgelösten Gazakrieg. Bevor es zu einer vorgezogenen Wahl kommt, müsste Netanjahu auch auf diesen Feldern Erfolge vorweisen können; vor allem auf dem zweiten.

Viele Israelis sind unzufrieden

Die Justizreform wird zwar von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung abgelehnt, von vielen Anhängern der Regierungsparteien aber auch energisch unterstützt. Der Krieg im Gazastreifen dagegen sorgt in der gesamten Bevölkerung für Verdruss: Immer noch befinden sich dort fünfzig Geiseln – von denen wohl nur noch etwa zwanzig am Leben sind. Gleichzeitig kommen ungeachtet Israels militärischer Überlegenheit immer wieder Soldaten ums Leben. Erst am Dienstag wurden sieben Soldaten im Süden des Gazastreifens getötet, als ein Sprengsatz explodierte, der an ihrem Mannschaftstransportwagen angebracht worden war. Mit anderen Worten: Sowohl diejenigen, die eine Waffenruhe befürworten, um die Geiseln freizubekommen, als auch diejenigen, die fortgesetzten militärischen Druck für den besseren Weg halten, sind unzufrieden. Das wird Netanjahu angelastet, der offensichtlich keinen klaren Plan hat – außer immer weiter Krieg zu führen.

Ministerpräsident Netanjahu besichtigt einen Raketeneinschlag am Weizmann Institut in Rehovot.
Ministerpräsident Netanjahu besichtigt einen Raketeneinschlag am Weizmann Institut in Rehovot.Imago

Der Krieg gegen Iran beeinflusste auch dieses Thema. Kaum hatte der amerikanische Präsident Donald Trump am Montagabend die Waffenruhe verkündet, die nach Startschwierigkeiten dann auch zu halten schien, wurde in Israel wieder verstärkt über den Gazastreifen diskutiert. Die gegensätzlichen Positionen, die es dazu in der israelischen Gesellschaft gibt, wurden dabei ein weiteres Mal deutlich.

Aus den Reihen der Opposition sowie von den Geiselfamilien kamen umgehend Rufe nach einem Kriegsende. „Jetzt auch in Gaza“, forderte Oppositionsführer Yair Lapid mit Blick auf den Waffenstillstand mit Iran. Der Vorsitzende der zentristischen Partei „Es gibt eine Zukunft“ sagte weiter: „Bringt die Geiseln zurück, beendet den Krieg. Israel muss mit dem Wiederaufbau beginnen.“ Yair Golan von den linken „Demokraten“ sekundierte. Der Krieg gegen Iran habe mit einem klaren Erfolg geendet, teilte er auf der Plattform X mit und schrieb weiter: „Und jetzt ist es an der Zeit, die Mission zu vollenden: alle Geiseln zurückbringen, den Krieg in Gaza beenden und ein für alle Mal den Putsch stoppen, der Israel zu schwächen, zu spalten und verwundbar zu machen droht.“ Der letzte Teil bezog sich auf die Justizreform.

„Wer einen Waffenstillstand mit Iran erreichen kann, kann auch den Krieg in Gaza beenden“

Das „Familienforum“, in dem die meisten Geiselfamilien zusammengeschlossen sind, versuchte auf ähnliche Art, den Erfolg gegenüber Iran für seine Zwecke zu nutzen: „Wer einen Waffenstillstand mit Iran erreichen kann, kann auch den Krieg in Gaza beenden“, hieß es in einer Stellungnahme. Während des zwölftägigen Waffengangs war das Thema der Geiseln weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden – auch weil es erhebliche Einschränkungen für Versammlungen gab. Seither versucht das Familienforum mit ganzer Kraft, es zurück auf die Tagesordnung zu bringen.

Eine Werbewand in Tel Aviv, auf der steht: „Eine Zeit, um Krieg zu führen, und eine Zeit, um eine Einigung zu erzielen. Jetzt ist die Zeit für den ‚Bund Abrahams‘.“
Eine Werbewand in Tel Aviv, auf der steht: „Eine Zeit, um Krieg zu führen, und eine Zeit, um eine Einigung zu erzielen. Jetzt ist die Zeit für den ‚Bund Abrahams‘.“AP

Den entgegengesetzten Schluss zogen rechte Politiker wie Bezalel Smotrich. Der Finanz- und Siedlungsminister von der Partei „Religiöser Zionismus“ ist einer der einflussreichsten Politiker in der Koalition und einer der lautesten Befürworter eines harten militärischen Kurses, wenn es um Gaza geht. Er plädiert immer wieder dafür, in dem Gebiet wieder jüdische Siedlungen zu errichten – und will die palästinensische Bevölkerung nach Möglichkeit loswerden. Smotrich brauchte nicht lange, um sich zu Wort zu melden. Nach dem Sieg über Iran müsse Israel auch in Gaza „die Sache vollenden“, forderte er: die Hamas vernichten, die Geiseln zurückholen und aus einer Position der Stärke heraus „Sicherheit und Wachstum“ für das Volk Israel gewährleisten. Eine Waffenruhe lehnt er ab.

Netanjahu wirkt unentschieden. Denn nicht nur die Geiselfamilien und die Opposition werben für einen (weiteren) Gaza-Deal, auch Politiker wie Aryeh Deri von der ultraorthodoxen Schas-Partei, einer von Netanjahus wichtigsten politischen Verbündeten. Deri wirbt laut einem Bericht in der Zeitung „Israel Hayom“ dafür, einen Ausstieg aus dem Gazakrieg zu finden – natürlich nur zu Israels Bedingungen. Dabei geht es im Grunde um den Vorschlag, den Trumps Nahost-Sondergesandter Steve Witkoff ins Spiel gebracht hat. Er sieht eine weitere mehrwöchige Waffenruhe vor. In dieser Zeit soll die Hamas etwa die Hälfte der Geiseln freilassen, während Israel palästinensische Häftlinge entlässt, Truppen abzieht und Hilfslieferungen wieder ermöglicht. Smotrich hält den Witkoff-Plan für einen „großen Fehler“, weil die Waffenruhe es der Hamas erlauben würde, wieder zu Kräften zu kommen.

Ein Vertrauter Trumps sprach mit der Hamas

Ohnehin zeichnet sich keine Einigung ab: Seit Monaten wird über diesen Vorschlag, in unterschiedlicher Ausgestaltung, ergebnislos verhandelt. Zuletzt warteten die Vermittler wieder auf eine Antwort der Hamas. Bishara Bahbah, ein Geschäftsmann und Vertrauter Trumps, hat offenbar in Kairo informelle Gespräche mit Vertretern der Hamas sowie Israels geführt.

Rettungskräfte am Ort eines Raketeneinschlags in Be’er Sheva am 24. Juni
Rettungskräfte am Ort eines Raketeneinschlags in Be’er Sheva am 24. JuniReuters

Auch in diesen Verhandlungen macht sich der Krieg zwischen Israel und Iran bemerkbar. Nach dem militärischen Aderlass des Teheraner Regimes stellten viele Beobachter die Frage, ob dies den Druck auf die Hamas verstärken wird, Zugeständnisse zu machen. Die Islamisten geben sich auch nach zwanzig Monaten massiver israelischer Angriffe im Gazastreifen nicht geschlagen, und sie verfügen immer noch über viele Kämpfer. Aber sie haben zahlreiche erfahrene Kommandeure verloren, zuletzt im Mai ihren neuen militärischen Anführer Muhammad Sinwar. Der Hamas gehe zudem langsam das Geld aus, hieß es kürzlich in der französischen Zeitung „Le Figaro“, und auch ihr Raketenarsenal gehe zur Neige.

Angesichts dessen habe Israels Angriff auf Iran die Hamas zweifellos besorgt gemacht, sagt Michael Milshtein, der Leiter des Forums für Palästinastudien an der Universität Tel Aviv. Immerhin habe Teheran die palästinensischen Islamisten militärisch und finanziell unterstützt. „Aber Iran ist nicht der Pate der Hamas – sie hat nicht so enge Beziehungen nach Teheran wie etwa die Hizbullah“, sagt Milshtein. Aus diesem Grund kann er in den Reihen der Hamas gerade auch „keine Hysterie feststellen“.

Eine temporäre Waffenruhe lehnt die Hamas ab

Vor wenigen Tagen bekräftigten die Islamisten noch einmal ihre Forderungen für ein Abkommen mit Israel. Zu diesen gehört, dass die israelische Armee sich vollständig zurückzieht und dass Hilfsgüter ungehindert in den Gazastreifen gelangen – vor allem aber, dass der Grundstein für ein dauerhaftes Ende des Krieges gelegt wird. Eine weitere temporäre Waffenruhe ohne klare Garantien lehnt die Hamas ab.

Nach Ansicht Ibrahim Dalalshas „deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die Hamas weiterhin nach einem Ausweg aus dem Krieg sucht – wobei ihr Hauptaugenmerk auf dem politischen Überleben liegt“. An dieser „strategischen Perspektive“ der Islamisten habe auch die Eskalation zwischen Iran und Israel nichts geändert, glaubt der Leiter der Denkfabrik Horizon Center in Ramallah. Im Gegenteil: Dieser Konflikt könne die Hamas sogar darin bestärken, auf festen Garantien für die Beendigung des Krieges zu bestehen – „gerade weil sie diese Frage als existenziell betrachtet“.

Milshtein weist auf einen weiteren Aspekt hin: Die Hamas verfolge den israelischen Diskurs genau. „Sie wissen von den Aufrufen an Netanjahu, nach dem historischen Erfolg in Iran den Krieg in Gaza zu beenden, abzuziehen und die Geiseln zurückzubringen – anstatt das Gebiet komplett zu besetzen, wie Smotrich es fordert.“ Aus diesem Grund halte er weitere Zugeständnisse der Hamas im Augenblick für wenig wahrscheinlich, sagt Milshtein. Die Hamas hoffe jetzt sogar auf mehr Flexibilität Netanjahus – weil der erfolgreiche Krieg gegen Iran „ihm eine Leiter zur Verfügung gestellt hat, um von dem Baum herunterzuklettern, auf dem er sitzt“.

Wird er das tun? Netanjahu dürfte vor einer Entscheidung alle Aspekte berücksichtigen: die Dynamik innerhalb der Koalition, die Stimmung in der Bevölkerung – und schließlich äußere Faktoren, etwa was Trump sagt. Auch der amerikanische Präsident will offenbar, dass der Gazakrieg endet. In manchen Medienberichten heißt es jetzt, er habe Netanjahu schon darauf verpflichtet, dass die Offensive nur noch zwei Wochen dauert. Wenn das stimmt, wäre es für Netanjahu ein weiterer Grund, schon einmal mit dem Falafel-Essen zu beginnen.