Einmal im Jahr ziehen sich Europas Notenbanker an einem besonders malerischen Ort zurück: Im portugiesischen Städtchen Sintra erholten sich einst die portugiesischen Könige von den Mühen des Regierens. Heute ist die Stadt ein Anziehungspunkt für Touristen. Seit 2014 kommt dort der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) für mehrere Tage zusammen, um sich fernab des Frankfurter Tagesgeschäfts mit Ökonomen und Geldpolitikern aus aller Welt auszutauschen. Es ist gleichsam das europäische Gegenstück zu einer traditionsreichen amerikanischen Veranstaltung in Jackson Hole.
Der Titel des diesjährigen EZB-Forums, das am Montag beginnt und bis Mittwoch dauert, lautet „Anpassung an den Wandel: makroökonomische Verschiebungen und geldpolitische Reaktionen“. Angekündigt ist gleichsam als Stargast der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed), Jerome Powell. Er soll zusammen mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde, dem britischen Notenbankchef Andrew Bailey, dem Gouverneur der japanischen Notenbank, Kazuo Ueda und dem koreanischen Notenbankchef Chang Yong Rhee über Geldpolitik diskutieren.
Powell und Lagarde auf der Bühne
Spannend könnte werden: Äußert Powell sich zum Konflikt mit Donald Trump? Der Dauerstreit hat schließlich die Notenbankwelt in Unruhe versetzt, wie es international um ihre Unabhängigkeit bestellt sein möge. Während die EZB jetzt achtmal die Zinsen gesenkt hat, beließ die Fed ihre seit Trumps Amtsantritt im Januar dieses Jahres unverändert. Sehr zum Unwillen des US-Präsidenten, der Powell abwechselnd als „Mr. zu spät“ oder „Schwachkopf“ bezeichnete und ihm gerade die EZB als leuchtendes Beispiel vorhielt.
Es dürfte vermutlich Powells letzter Sintra-Auftritt werden, schließlich endet seine Amtszeit im Mai 2026. Trump hatte mehrfach angedeutet, er könnte sogar eine vorzeitige Ablösung versuchen, nahm das aber wieder zurück. Lagarde jedenfalls hatte ihrem „geschätzten Freund und Kollegen“ von Frankfurt aus ihre Loyalität in diesem Konflikt versichert.
Die eher wissenschaftlichen Diskussionsrunden befassen sich mit den Umbrüchen, auf die Geldpolitiker eine Antwort finden müssen. Wie reagieren die Notenbanken, wenn in Zukunft häufiger geopolitische Schocks auftreten, die den Ölpreis plötzlich hochtreiben, wie unlängst der Angriff Israels auf Iran? Auch die Folgen der Alterung der westlichen Gesellschaften für Arbeitsmarkt, Konsum und Inflation sollen diskutiert werden. Zudem stehen die Risiken durch Nichtbanken aus dem Finanzsektor wie Hedgefonds für die Finanzstabilität auf der Agenda. Und natürlich darf das Thema Welthandel nicht fehlen. Neben Wissenschaftlern aus aller Welt steht auch der Freiburger Ökonom Lars Feld auf der Rednerliste: Er hatte zuletzt Christian Lindner (FDP) beraten. In Sintra soll er über Möglichkeiten sprechen, Europas Wachstumspotential zu heben.
Auch wenn das Hauptprogramm der Veranstaltung eher dem hintergründigen Austausch unter Fachleuten dient, erhoffen sich Finanzmarktteilnehmer Signale, wie es mit der Zinspolitik beiderseits des Atlantik weitergeht. Die nächste Zinsentscheidung der Fed steht am 30. Juli an, die EZB befindet schon am 24. Juli über ihre Leitzinsen. Marco Wagner, EZB-Beobachter der Commerzbank, rechnet für Juli mit einer Zinspause im Euroraum. Im September könnten die Leitzinsen dann um 0,25 Prozentpunkte auf 1,75 Prozent für den Einlagensatz gesenkt werden, meint er: „In den Monaten danach dürfte die EZB diesen Satz erst einmal halten.“
Für die Fed scheint die Entwicklung schwerer prognostizierbar. Es ist die Rede davon, in der Juli-Sitzung komme für die amerikanische Notenbank „die Stunde der Wahrheit“. Die Commerzbank jedenfalls rechnet damit, dass Powell sich nicht von Trump beeindrucken lassen wird und auch im Juli die Füße stillhält. Powell hatte zuletzt nochmals bekräftigt, dass es keine Eile für Zinssenkungen gebe, solange die inflationären Wirkungen der reziproken Zölle unklar seien. „Die Fed dürfte von September an im Vierteljahrestakt ihre Zinssenkungen wieder aufnehmen“, prognostiziert Wagner: „Insgesamt rechnen wir mit drei weiteren Zinssenkungen um jeweils 25 Basispunkte im September, Dezember und März.“
Ergebnisse der Strategieüberprüfung
Zuletzt drang aus der EZB nach außen, dass die Notenbank in Sintra auch schon mit Ergebnissen ihrer Strategieüberprüfung für Gesprächsstoff sorgen könnte. Ein Bericht war für die zweite Jahreshälfte 2025 avisiert gewesen. Ganz große Überraschungen dürften aber wohl nicht zu erwarten sein: Eine Neuformulierung des EZB-Inflationsziels wie bei der Strategieüberprüfung im Jahr 2021, als man von „unter, aber nahe zwei Prozent“ auf „zwei Prozent“ wechselte, steht wohl nicht an. Bundesbankpräsident Joachim Nagel hatte schon durchblicken lassen, mit dem jetzigen Inflationsziel sei man gut gefahren.
EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel hatte ins Gespräch gebracht, die Notenbank könnte eine Neubewertung der Anleihekäufe als geldpolitisches Instrument vornehmen. Sie hatte argumentiert, der Ankauf von Anleihen sei ein wirksames Instrument zur Stabilisierung der Finanzmärkte in Krisenzeiten. Weniger klar sei die Einschätzung bei den Ankäufen im Rahmen der quantitativen Lockerung, kurz QE. Bei der kauften die Zentralbanken Anleihen, um die langfristigen Zinssätze zu senken und die Wirtschaft anzukurbeln. Die zurückliegenden Jahre hätten gezeigt, dass solche Schritte mit erheblichen Kosten verbunden sein könnten. Nach allem, was man hört, dürften die Anleihekäufe aber wohl Bestandteil des EZB-Instrumentenkastens bleiben.
Die Commerzbank schreibt in einem Marktbericht, als ein Kernelement der geldpolitischen Strategie dürfte die EZB umfassende Analysen neuer Rahmenbedingungen und Schocks nennen. Während die Strategieüberprüfung 2020/21 auf eine jahrelang zu niedrige Inflation zurückgeblickt habe, sei die Welt mittlerweile deutlich weniger vorhersagbar geworden. Dies dürfte auch in den kommenden Jahren gelten. Insofern dürfte die Strategie-Revision einen Schwerpunkt darauf legen, die Effekte beispielsweise von politischer Unsicherheit, Handelskonflikten, Verteidigungspolitik und Klimawandel auf die Inflation zu untersuchen.
In der Kommunikation der Notenbank könnten künftig zudem Szenario-Untersuchungen eine größere Rolle spielen, heißt es weiter. Zu sogenannten Dot Plot, Charts mit kleinen Punkten, an denen man die unterschiedlichen Zinserwartungen der einzelnen Mitglieder des Notenbankrats erkennen kann, konnte sich die EZB offenbar nicht durchringen. Die Fed veröffentlicht so etwas regelmäßig.
Die Commerzbank hält es immerhin für möglich, dass die Strategieüberprüfung dazu führt, das kleine Abweichungen vom Inflationsziel künftig von der EZB stärker toleriert würden. „Dafür sprechen Lagardes Ausführungen, dass die EZB agil auf neue Schocks reagieren sollte, allerdings innerhalb eines wohldefinierten Rahmens, der kurzsichtige Reaktionen begrenzt.“ Die Bank kommt zu dem Schluss: Alles in allem dürfte es mit der Strategie-Revision „nicht zu grundlegenden Änderungen kommen“.