NATO-Mitglieder: Fünf-Prozent-Ziel in weiter Ferne

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Am vergangenen Mittwoch haben die NATO-Mitgliedstaaten beschlossen, spätestens von 2035 an jährlich fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Tags darauf erklärte das französische Statistikamt Insee, dass Frankreichs Staatsverschuldung 114 Prozent der Wirtschaftsleistung erreicht habe. Und der Schuldenstand der zweitgrößten EU-Volkswirtschaft droht angesichts eines laufenden Haushaltsdefizits von deutlich mehr als fünf Prozent weiter zu wachsen, wohingegen ihre Rüstungsausgaben aktuell nur rund zwei Prozent betragen.

Die Koinzidenz aus NATO-Beschluss und Insee-Publikation mag Zufall sein. Kein Zufall ist jedoch, dass Frankreich zu den EU-Staaten gehört, die auf gemeinsame EU-Schulden für Rüstungsausgaben drängen, Verteidigungsbonds genannt. Für viele Beobachter ist klar: Aus eigenen Kräften ist Frankreich Stand jetzt nicht in der Lage, auch nur in die Nähe des Fünf-Prozent-Ziels zu kommen. Laut dem laufenden, siebenjährigen Militärprogrammgesetz legen die Rüstungsausgaben bis 2030 nur leicht auf 2,3 Prozent zu.

Allein für einen Anstieg auf 3,5 Prozent wären im Jahr 2030 in konstanten Preisen 110 Milliarden Euro an Ausgaben nötig, hat eine Gruppe um den früheren Minister Clément Beaune für die staatliche Denkfabrik France Stratégie errechnet, während das Militärprogrammgesetz „nur“ 73 Milliarden Euro vorsieht. Ein solcher Anstieg erscheint mit Blick auf die Haushaltslage illusorisch, zumal sich die Wirtschaftslage zuletzt stärker eingetrübt hat als erwartet. Neue Spielräume sind nicht in Sicht. Im Gegenteil – statt Mehrausgaben plant die Regierung in Paris im neuen Haushalt 40 Milliarden Euro an Einsparungen, um das Defizit zu senken und so Ratingagenturen und Anleihemärkte zu besänftigen.

Frankreích will sich nicht festlegen

Im französischen Finanz- und Wirtschaftsministerium will man sich nicht ausführlich dazu äußern, ob und inwieweit in der Zukunft liegenden Ziele erreicht werden könnten. Die Priorität liege auf der Defizitsenkung bei gleichzeitiger Erhöhung der Rüstungsausgaben. An den Mittelanstieg im Militärprogrammgesetz halte man sich, heißt es aus dem Umfeld von Finanz- und Wirtschaftsminister Éric Lombard. Und die Diskussion über Verteidigungsbonds könnte sich schnell ändern.

Mitte Juli ist ein Besuch Lombards bei Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) in Berlin geplant. „Die Idee einer europäischen Verschuldung zur Finanzierung von Rüstungsgütern sollte nicht aus Prinzip abgelehnt werden“, hatte der Franzose im Mai der F.A.Z. gesagt. Man müsse „wirklich ehrgeizige Ziele verfolgen, um die Voraussetzungen für unsere strategische Autonomie zu schaffen“, und in diesem Zusammenhang „alle relevanten Finanzierungsinstrumente prüfen“.

Dies zeichnet sich derzeit aber nicht ab. In der Schlusserklärung des EU-Gipfeltreffens vom Donnerstag in Brüssel ist von einer neuen gemeinsamen Verschuldung für Verteidigungszwecke keine Rede. Vielmehr erinnern die Staats- und Regierungschefs an schon getroffene Entscheidungen und Absichtserklärungen. Diese laufen vor allem darauf hinaus, zur Verfügung stehendes Geld effizienter einzusetzen.

Finanzmittel aus der EU?

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sagte nach dem Gipfel, die EU müsse jetzt „die drei großen S“ verwirklichen: „Simplifizierung, Standardisierung und Stückzahl“. Es gebe in Europa „viel zu viele und viel zu komplizierte Systeme“, und es würden zu geringe Stückzahlen bestellt oder hergestellt. Wenn die EU dies ändere, „dann haben wir die Chance, aus den bestehenden Mittel erheblich mehr zu machen“. Auch erinnerte Merz daran, dass die EU schon zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten auf den Weg gebracht habe. Zu diesen zählt das SAFE-Programm, das eine Art Vorstufe zu Verteidigungsbonds darstellt, weil die EU-Kommission die darin enthaltenen Mittel von 150 Milliarden Euro als Kredite an den Kapitalmärkten aufnehmen und als zinsgünstige Darlehen an die Mitgliedstaaten weiterreichen soll.

Die Staats- und Regierungschefs unterstützen zudem das Vorhaben, über Umschichtungen im aktuellen EU-Haushalt und zusätzliche Finanzierungen der Europäischen Investitionsbank weitere Mittel für Rüstungsvorhaben zu aktivieren. Darüber hinaus eröffnet die EU-Kommission den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Verteidigungsausgaben über eine „nationale Ausnahmeklausel“ vom EU-Stabilitätspakt auszunehmen. Doch Frankreich will diese Möglichkeit anders als Deutschland nicht nutzen, weil es um seine Schuldentragfähigkeit besorgt ist.

Keine höheren Schulden, aber auch nicht weniger Ausgaben in Italien

Dies gilt auch für das mit rund 135 Prozent der Wirtschaftsleistung noch höher verschuldete Italien. Dessen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat das Fünf-Prozent-Ziel der NATO akzeptiert, obwohl es in der weitgehend pazifistisch eingestellten Bevölkerung erhebliche Bedenken gibt. Die rechtsnationale Regierungspartei Lega zeigt sich inzwischen konzilianter mit Blick auf höhere Rüstungsausgaben. Als ein Grund gilt die mögliche Akzeptanz der geplanten Brücke über die Meeresenge von Messina, die Kalabrien mit Sizilien verbinden soll. Dieses in der Vergangenheit mehrfach gescheiterte Herzensprojekt des Vize-Regierungschefs und Lega-Vorsitzenden Matteo Salvini könnte als Infrastrukturprojekt mit militärischem Nutzen anerkannt werden, hofft die Regierung in Rom.

Wie sie das NATO-Ziel zu erreichen gedenke, sagt sie indes noch unkonkreter als Paris. Meloni hat klargemacht, dass sie keine staatlichen Ausgabenkürzungen vorsieht. Die Staatsschulden will Finanzminister Giancarlo Giorgetti aber auch nicht erhöhen. Meloni meinte in Brüssel, die Verteidigungsausgaben kurbelten auch das Wirtschaftswachstum an, wodurch die Steuereinnahmen stiegen. Doch dies wird allenfalls einen Teil abdecken.

Italiens Verteidigungsausgaben beliefen sich 2024 auf 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Unter Einrechnung von Posten wie Küstenwache, Finanzpolizei, Cybersicherheit und Soldatenrenten komme das Land in diesem Jahr auf zwei Prozent, sagt Giorgetti.

Alles blickt auf die zukünftige Finanzplanung der EU

Zusätzliches Geld, das über neue Gemeinschaftsschulden finanziert werden könnte, wird die EU kurzfristig nicht beschließen. Offen ist, ob sich das mittelfristig – konkret mit dem Beginn des nächsten mittelfristigen Finanzrahmens (MFR) von 2028 an – ändern wird. Schon die erste große gemeinsame Schuldenaufnahme für den Corona-Aufbaufonds war 2020 mit der Entscheidung über den MFR 2021 bis 2027 einhergegangen.

Die EU-Kommission wird ihren ersten Vorschlag für den neuen MFR Mitte Juli vorstellen. Erwartet wird, dass die Behörde die Ausgabenstruktur des EU-Haushalts erheblich korrigieren und erstmals eine Art Verteidigungsbudget auflegen will. Es ist nicht gesagt, dass ein solcher Vorschlag mit einem Vorstoß für Eurobonds einhergehen wird. Merz hält an der deutschen Position fest, dass der schuldenfinanzierte Corona-Fonds etwas Einmaliges in einer Sondersituation gewesen sei. Wichtig sei nun eine „Repriorisierung“ der EU-Ausgaben, hieß es in Regierungskreisen. Damit ist gemeint, dass Haushaltsposten wie die Ausgaben für Landwirtschaft und Kohäsionspolitik reduziert werden sollen. Auch jene Mitgliedstaaten, die höhere Verteidigungsausgaben nicht aus eigenen Schulden finanzieren könnten, müssten in ihren Budgets umschichten. Das Papier, das Berlin vor zwei Wochen zur Eröffnung der MFR-Verhandlungen an die EU-Partner geschickt hatte, bleibe gültig.

Darin hatte es geheißen, der neue Finanzrahmen müsse „unserem Anspruch an eine geopolitisch handlungsfähige EU Rechnung tragen“ und dürfe sich nicht am Status quo orientieren. Größer dürfe das EU-Budget nicht werden, weil die finanziellen Spielräume der Mitgliedstaaten gering seien. Im neuen MFR müsse von 2028 an die Rückzahlung der Schulden für den Corona-Fonds beginnen. „Eine Verstetigung dieses außerordentlichen und temporären Instruments lehnt die Bundesregierung ab.“ Auch die Niederlande und Österreich sind gegen neue Gemeinschaftsschulden. Eine Gruppe „sparsamer“ Staaten hatte diese Position auch vor den Schlussverhandlungen über den derzeitigen MFR eingenommen, sie aber am Ende aufgegeben. Insofern ist durchaus offen, ob die Ablehnung neuer EU-Schulden nun das letzte Wort aus Berlin ist.