Bevor sich der Vorstand der Bundestagsfraktion der Grünen am Montag zur Klausur getroffen hat, konnten seine Mitglieder die offensive Einschätzung lesen, zuletzt „zu leise, zu vorsichtig und manchmal zu defensiv“ gewesen zu sein. So steht es in einem Strategiepapier, das die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge vorgelegt haben. Darin schauen sie zurück auf die Bundestagswahl, stellen fest, dass es „in Deutschland aktuell keine Mehrheit für eine progressive Politik“ gebe, und bilanzieren, die Regierungszeit in der Ampel habe „Vertrauen gekostet“.
All das soll kein Grund für Pessimismus sein, finden Dröge und Haßelmann. Dabei wissen auch sie, „dass Optimismus es derzeit schwer hat in diesem Land“. Es gebe aber genug verzagte Kräfte in der Politik, die sich von den Krisen der Zeit lähmen ließen. Und gelähmt, das ist das Letzte, was die Partei sein soll. Die Grünen, schreiben die beiden Fraktionschefinnen, sollen wieder mehr wollen. Einen „Klimaschäden-Hilfsfonds – finanziert durch Übergewinnsteuern oder Abgaben auf fossile Börsengeschäfte“ zum Beispiel. Überhaupt soll Klimaschutz wieder im Mittelpunkt der Politik stehen, fordern sie. Raum dafür sehen beide genug: „Der Union ist Klimaschutz offensichtlich völlig egal. Sie beteiligt sich an Medien-Kampagnen, in denen Unwahrheiten über klimafreundliche Technologie verbreitet werden, die allein den Gewinninteressen von Gas-Unternehmen dienen.“
Auch die Parteichefs Franziska Brantner und Felix Banaszak hatten in den vergangenen Wochen über Lehren aus der Wahlniederlage im Februar gesprochen. Dröge und Haßelmann verschärfen nun den Ton, nachdem die Partei den Winterwahlkampf damit verbracht hatte, für einen „Bündniskanzler“ Robert Habeck zu werben, der anschlussfähig sein wollte an die Union. Im aktuellen Strategiepapier ist nun weniger von Brücken zu anderen politischen Kräften die Rede. Selbst wo es noch um eine kooperative Haltung geht, setzen Haßelmann und Dröge eine Attacke. Einer Reform der Schuldenbremse werde man zustimmen – „auch wenn Friedrich Merz das als Oppositionsführer niemals für Robert Habeck als Wirtschaftsminister gemacht hätte“.
„Zu viele Entschuldigungen“
Die Kritik zielt nicht nur nach außen. Der eigenen Partei bescheinigen Dröge und Haßelmann, gelegentlich falsch gelegen zu haben. Noch häufiger sei der Fehler aber gewesen, auf Kritik aus anderen Parteien zu defensiv reagiert zu haben. Zu viel „defensive Kommunikation“, zu viele „Rechtfertigungen und Entschuldigungen“ habe man gemacht. Dabei gewinne man Debatten nicht, „indem man sagt, dass Gendern gar nicht so wichtig ist, oder das Gebäude-Energie-Gesetz viele verschiedene Heizungsarten ermöglicht und nicht nur eine“. Gegenwind auf den vorgeschlagenen angespitzten Ton erwarten Dröge und Haßelmann durchaus. „Einen gesellschaftlichen Aufbruch wird es nicht ohne Kontroversen geben“, schreiben sie. Und: Wer für etwas kämpfe, müsse dann eben auch zu sich stehen. Dazu gehöre auch, zuzugeben, dass es durch Klimapolitik „nicht nur Gewinner“ gebe.
Die beiden Fraktionsvorsitzenden skizzieren eine grüne Partei, die sich mehr, lauter und konsequenter für Klimaschutz einsetzt, einerseits. Andererseits müssten sich die Grünen mit dem Alltag der Menschen beschäftigen, mit „miesen Schulklos“ und damit, dass „Oma von ihrer Rente nicht leben kann“, der Bus auf dem Dorf nicht kommt, die Kita wegen Personalmangels geschlossen ist. „Unser Ziel ist es, dass es 2029 eine progressive Mehrheit gibt, die eine progressive Regierung trägt.“
Die neue Klarheit und Lust auf Attacken soll langfristig aber dann doch wieder dorthin führen, wo die Grünen auch mit ihrem Führungsduo aus Habeck und Annalena Baerbock standen: in eine Koalition, die Kompromisse aushandelt. Ihre Vorschläge sollen nur übergangsweise an eine Oppositionspartei gerichtet sein. Das letzte Wort des Strategiepapiers lautet: „Regierung“.