Deutsche Brennelemente von Putins Gnaden

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In Lingen sieht man das Geschäft als große Chance: Mit Brennelementen aus Deutschland könnten die vielen Atomkraftwerke russischer Bauart in Osteuropa von Russland unabhängiger werden. So lautet die Geschichte, wie man sie am Standort der Brennelemente-Fabrik von ANF (Advanced Nuclear Fuels) im Emsland erzählt. Gut 400 Beschäftigte hat das Unternehmen dort trotz des deutschen Atomausstieg noch, und sie hoffen auf langfristig sichere Arbeitsplätze durch die Aufträge für Osteuropa. Mit vier EU-Ländern habe man Lieferverträge von 2026 an geschlossen, berichtet Mario Leberig, der in der französischen ANF-Muttergesellschaft Framatome für die strategische Ausrichtung des Brennelementegeschäfts in Deutschland verantwortlich ist. Mit einem fünften Land sei man in Verhandlungen.

Doch eine Erfolgsgeschichte ist das bisher nicht. Noch ist nicht absehbar, ob ANF die Lieferverträge jemals wird erfüllen können, denn weder ANF noch Framatome haben bisher jene sechseckigen Brennelemente im Portfolio, wie sie für den Osteuropa-Markt nötig wären. Seit 2018 wird daran gearbeitet, mit Hochdruck, wie Leberig sagt: „Der Markt ist interessant.“ Trotzdem ist vor 2030 nicht mit dem Abschluss der Eigenentwicklung zu rechnen. „Die Brennelemente stehen über viele Jahre im Reaktor und müssen Strahlung und Wasserdruck widerstehen. Das muss alles bis aufs letzte Detail kon­trolliert werden, bevor neue Brennelemente-Designs genutzt werden können. Der Prozess ist entsprechend gründlich“, sagt Leberig im Gespräch mit der F.A.Z. Es dauert also.

Ein Geschäft wird zum Politikum

Einstweilen, so der Plan von ANF, könnte man eine Lizenz von Rosatom verwenden, um die Brennelemente zu bauen. Ein Vertrag mit Rosatom wurde schon 2021 geschlossen. Der Antrag auf atomrechtliche Genehmigung wurde im März 2022 beim niedersächsischen Umwelt- und Energieministerium eingereicht, wenige Wochen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Doch Rosatom ist kein Geschäftspartner wie jeder andere. Es ist jene russische Staatsholding für Atomenergie, die direkt dem russischen Präsidenten unterstellt ist und als strategisches Instrument und für militärische Zwecke eingesetzt wird. Was bei ANF in Lingen als Befreiungsschlag für die osteuropäische Energiewirtschaft betrachtet wird, ist vielmehr ein Politikum. „Geschäfte mit dem Kriegstreiber Putin sollten generell und gerade auch im sensiblen Atomsektor unterbleiben“, kommentiert Niedersachsens Umwelt- und Energieminister Christian Meyer den Vorgang. Es sei naiv zu glauben, Putin wolle der ANF mit der engen Kooperation mit Rosatom „nur helfen“, greift der Grünen-Politiker das Narrativ des Unternehmens auf, dass es darum gehe, der Unabhängigkeit osteuropäischer Kraftwerke den Weg zu bereiten. Wünschenswert wäre es, wenn ANF passende Brennelemente ohne russische Beteiligung erzeugen würde, sagt Meyer – und verweist darauf, dass Atomkraftwerke in der Ukraine und Tschechien sich schon beim amerikanischen Hersteller Westinghouse eindeckten.

Droht eine Unterwanderung?

Dass Westinghouse zunehmend Geschäfte in Osteuropa macht, während ANF auf Genehmigung für die russisch lizenzierten Brennelemente wartet, wurmt den Framatome-Manager. Es gehe eigentlich nur darum, russische Maschinen in die Brennelementefabrik einzubringen, sagt Leberig. So gering seien die Umbauarbeiten, dass man sogar überlegt habe, ob es überhaupt eine atomrechtliche Genehmigung brauche, erinnert er sich. Ein Antrag sei eigentlich nur nötig gewesen, weil man auch eine Grube habe umbauen müssen, um die Vier-Meter-Brennelemente auf dieselbe Weise verladen zu können, wie das in Russland gemacht werde, nämlich stehend. „Wir halten uns an alle Gesetze und Sanktionen und erfüllen alle Auflagen mit Blick auf die Sicherheit der Anlage sowie auf die Abwehr von Sabotage und Spionage“, sagt Leberig. Angesichts von Spekulationen über eine Unterwanderung des Unternehmens in Lingen, versichert er, es werde auch keinerlei russisches Personal mehr nötig sein. Die Maschinen sind schon da, die eigenen Mitarbeiter eingearbeitet: „Im April 2024 waren etwa zwanzig russische Fachkräfte in Lingen, um in einer Halle außerhalb des Werksgeländes die wenigen Lizenzmaschinen an ANF-Mitarbeiter zu übergeben.“

Die Unsicherheit, wie es weitergeht, zermürbt inzwischen auch die Belegschaft. Es gehe darum, wie sich das Unternehmen in Zukunft weiter entwickeln könne, wenn sich das Verfahren weiter in die Länge ziehe, berichtet Philipp Hering, Bezirksleiter der zuständigen Chemie- und Bergbau-Gewerkschaft IGBCE Ibbenbüren. Ohnehin verstehe niemand, warum der Genehmigungsprozess so lange dauere. Schon den öffentlichen dreitägigen Erörterungstermin, den das Ministerium im vorigen November anberaumt habe, hätte es aus rechtlichen Gründen gar nicht gebraucht, gibt Hering die Meinung einiger ANF-Mitarbeiter wieder.

Im Ministerium in Hannover sieht man das ganz anders, nicht nur weil mehr als 11.000 Einwendungen eingegangen seien. Bei der Veranstaltung habe man auch neue Erkenntnisse gewonnen. So sei beispielsweise die Möglichkeit diskutiert worden, dass trotz der bisher getroffenen Sicherheitsvorkehrungen ein Risiko bestehe, dass die Lizenzprodukte zu ganz anderen Zwecken als der Stromerzeugung missbraucht werden könnten. Weil in Lingen im Falle einer genehmigten Kooperation von Rosatom fertig befüllte und verschweißte Brennstäbe zur Weiterverarbeitung benutzt würden, könnten etwa Minibrennstoffladungen in den Hohlräumen der Brennelemente verbracht werden, lautet eine bei der Erörterung geäußerte Befürchtung.

Jetzt soll der Bund helfen

Wie groß die Gefahr mit Blick auf die innere und äußere Sicherheit ist, will Hannover durch den Bund abschätzen lassen. Zwar habe es schon einmal im Jahr 2024 vertrauliche Einschätzungen durch die Sicherheitsbehörden gegeben. „Da sich die Warnungen vor gezielter Sabotage, Spionage und Desinformation durch Russland aber verstärken, haben wir den Bund um eine erneute Abfrage und Bewertung gegeben, auch unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse“, teilt das niedersächsische Ministerium mit: „Darum können wir nach wie vor keine Prognose abgeben, wann eine Entscheidung fallen wird.“ Bestärkt fühlt man sich in der eigenen Zurückhaltung durch die Tatsache, dass die EU-Kommission neue Sanktionen gegen Russlands Energiesektor und erstmals auch zum Atombereich angekündigt habe.

Gewerkschafter Philipp Hering kann dieses Zaudern nicht verstehen. „Das ist ein behördliches Genehmigungsverfahren. Dabei geht es um atomrechtliche Fragestellungen und nicht um die politische Haltung der Landesregierung. Wir erwarten, dass Niedersachsen eine Entscheidung trifft.“ Was die Gewerkschaft vorhat, sofern das nicht passiert, mag er nicht näher beschreiben. Das Gleiche gilt für Framatome-Manager Mario Leberig, der zwar eine „zeitnahe Entscheidung“ fordert, aber nur vage in den Raum stellt, dass ANF und Framatome rechtliche Möglichkeiten prüfen könnten. Es wäre nicht der erste Fall, in dem ein Unternehmen per Gericht eine Entscheidung erzwingt. Im Ringen um die Erdgasförderung vor der Küste Borkums hat das niederländische Unternehmen One-Dyas den niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz wegen Untätigkeit verklagt.