Herr Blatt, wie lange halten die Kranken- und die Pflegeversicherung noch durch?
Beide Sozialversicherungssysteme werden noch lange durchhalten, sie haben schon viele Stürme überstanden. Sie sind Garanten für eine gute Versorgung, für Demokratie, Solidarität und sozialen Frieden. Ich arbeite seit 30 Jahren in dem System und bin sicher, dass es sich weiter tragen wird.
Obwohl die Gesundheitsausgaben steigen und die Wirtschaft schwächelt?
Die Kasseneinnahmen aus Arbeit hängen vom Beitragssatz ab, von der Beschäftigung und der Lohnhöhe. Da die Tarifentwicklung sehr positiv ist, wachsen auch die beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassenmitglieder und damit die Einnahmen der Krankenkassen. In diesem Jahr erwarten wir einen Anstieg der beitragspflichtigen Einkommen um 5,1 Prozent, das ist allerhand. Die Ausgaben wachsen allerdings noch viel stärker, im ersten Quartal bereits um 7,8 Prozent – dadurch entsteht die gewaltige Finanzierungslücke, und die Zusatzbeiträge müssen steigen. Wir haben nicht zu geringe Einnahmen, sondern zu hohe Ausgaben.
Die Versorgung ist also besonders kostspielig. Ist sie auch besonders gut?
Wir haben eine gute Versorgung: Wer schwer krank ist, wird medizinisch gut betreut, die Behandlungsqualität hat ein gutes Niveau. Ich lebe gern in diesem solidarischen System und halte es für sehr verlässlich. Aber wir haben leider kein Topniveau mehr. Dieses Jahr wird die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) voraussichtlich 340 Milliarden Euro ausgeben, womit wir uns eines der teuersten Gesundheitswesen leisten. Aber die Lebenserwartung ist geringer als in vergleichbaren Ländern, und wir liegen bei der Versorgung nur im Mittelfeld.
Wie bewusst ist das der Politik?
Gesundheit und Pflege sind für die Bevölkerung zentral wichtig. Wirtschaftlich reden wir über eine der größten Branchen des Landes. Außerdem stützt eine funktionierende Versorgung den Zusammenhalt und die Demokratie. Die politische Wertschätzung spiegelt dies aber nicht wider, wie sich in den Koalitionsverhandlungen und gerade noch mal bei den Haushaltseckpunkten für 2026 gezeigt hat. Die Gesundheit ist in Berlin nur ein B- oder C-Thema, müsste aber ein A-Thema sein.
Ministerin Warken (CDU) ist nicht vom Fach. Macht sie einen guten Job?
Ehrlich gesagt war sie für mich ein unbeschriebenes Blatt, ich habe aber den Eindruck, dass sie die Themen mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Überzeugung angeht. Wir sollten Frau Warken in jedem Fall die berühmten hundert Tage Zeit geben, sich einzuarbeiten. Am Ende wird sie daran gemessen werden, ob sie die Finanzmisere der GKV und der Pflege in den Griff bekommt.
Frau Warken hat sich für höhere Zahlungen des Bundes an die Kranken- und Pflegeversicherung ausgesprochen. Dabei geht es um versicherungsfremde Leistung, etwa den Ausgleich von Corona-Kosten oder die Kostenübernahme für Bürgergeldempfänger. Im Haushaltsentwurf steht dazu nichts, stattdessen wird es Darlehen geben. Reicht das?
Wir sind ziemlich zusammengezuckt, als wir davon erfahren haben. Erstens reichen die Darlehen nicht einmal als Sofortmaßnahmen. Zweitens verschieben sie die Probleme in die Zukunft, denn womit sollen die Krankenkassen die Kredite zurückzahlen? Ein altes Darlehen hat der Bund gerade verlängert, weil uns das Geld fehlt. Der Etatentwurf ist für das Gesundheitswesen sehr enttäuschend, die Darlehen sind politische Augenwischerei.
Wozu brauchen Sie frisches Geld? Die GKV hat im ersten Quartal ein Plus von 1,8 Milliarden Euro erwirtschaftet.
Damit müssen wir die Rücklagen auffüllen für die schwankenden Geldflüsse. Gesetzlich vorgeschrieben sind 20 Prozent einer Monatsausgabe. Weil die Politik diesen Finanzpuffer aber zur Beitragsstabilisierung genutzt hat, lagen wir Ende 2024 nur noch bei sechs Prozent. Wir können also keine Entwarnung geben, im Gegenteil.
Sie haben Geldnöte, obwohl die Zusatzbeiträge am Jahresanfang auf ein Rekordhoch geschnellt sind?
Ja, denn ohne politische Reformen bekommen sie die Ausgabendynamik nicht in den Griff. Seit Jahresbeginn mussten acht Kassen ihre Beiträge sogar unterjährig noch weiter heraufsetzen, das wollten wir eigentlich unbedingt vermeiden. Es liegen auf Bundesebene noch sechs weitere Anträge auf Beitragserhöhung vor. Die Spirale dreht sich also immer weiter.
An den starken Ausgabensteigerungen. Jeder dritte Euro der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler fließt in die Krankenhäuser. Hier legen die Kosten aktuell um fast zehn Prozent zu, auch bei den Arzneimitteln sind es mehr als sechs Prozent. In der ambulanten Versorgung mit plus sieben Prozent haben wir die höchste Steigerungsrate in einem ersten Quartal seit zehn Jahren. Die Ausgabendynamik ist ungebrochen. Wenn sie so hoch bleibt, dann steigen die Zusatzbeiträge zum Jahreswechsel erstmals auf drei Prozent. Trotz des angekündigten Darlehens. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder handelt die Politik entschlossener als bisher oder die Beiträge steigen immer weiter.
Heißt das, die Regierung kann ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nicht erfüllen, die Beiträge stabil zu halten?
Wir fragen uns jedenfalls, wie das gehen soll, die Darlehen reichen dafür nie und nimmer aus. Interessanterweise bleibt der gesetzlich festgelegte allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent tatsächlich unverändert, aber die Zusatzbeiträge der einzelnen Kassen steigen weiter.
Der offizielle durchschnittliche Zusatzbeitrag beträgt 2,5 Prozent, tatsächlich ist er aber jetzt schon höher.
Ja, damit schiebt die Politik die Verantwortung der Selbstverwaltung in die Schuhe. Prinzip Hoffnung. Dass ein Aufschwung die Sozialversicherungen retten werde, reicht mir nicht. Zwar sehen die Institute für das kommende Jahr ein zartes Wachstum voraus, aber darauf ist in der gegenwärtigen Weltlage kein Verlass. Die Zuversicht der Politik, es werde schon irgendwie gut gehen, ist mehr als gewagt. Statt Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung brauchen wir entschlossenes und rasches Handeln.
Wir fordern ein Ausgabenmoratorium. Die Leistungserbringer, etwa die Krankenhäuser, dürften dann nur noch Mehrkosten in Höhe der wachsenden GKV-Einnahmen verursachen. Das ließe sich über Paragraph 71 im Sozialgesetzbuch V regeln. Das heißt nicht, dass es Nullrunden geben wird. Nähme man das laufende Jahr als Beispiel, könnten die Gesamtausgaben unter den Bedingungen des Moratoriums im Jahr 2025 orientiert am Einnahmenzuwachs bei den GKV-Mitgliedern um 5,1 Prozent steigen. Das wäre deutlich über der aktuellen Inflationsrate von 2,1 Prozent. Wichtig ist, dass die Gesamtausgaben nicht stärker steigen als die Einnahmen der Krankenkassen, sonst müssen die Zusatzbeitragssätze weiter steigen. Der Deckel wäre aber zum Beispiel wichtig für die Verhandlungen oder für Entscheidungen der Schiedsstellen, die teils zweistellige Vergütungssteigerungen beschließen. Das wäre dann nicht mehr möglich.
Wie wäre es mit Leistungskürzungen?
Davon halte ich nichts. Was die Menschen für eine gute, qualitativ hochwertige Versorgung brauchen, muss auch in Zukunft ohne jeden Zweifel GKV-Leistung sein. Trotzdem kann es nötig sein, auf Liebgewordenes zu verzichten. Zum Beispiel auf ein Krankenhaus nebenan, weil es medizinisch nicht auf der Höhe ist. Es darf auch nicht sein, dass Menschen ohne akute Notlage die Rettungstransporte und die Notaufnahmen blockieren. Solche Fehlallokationen führen zu Geldverschwendung, sind unsozial und gefährlich. Es muss möglich sein, die Patienten besser zu steuern. Das erhöht die Versorgungsqualität, spart Geld und bedeutet eben gerade keine Leistungskürzung.
Plant die Koalition zu Recht ein Primärarztsystem als erste Anlaufstelle?
Der Ansatz stimmt, wir brauchen ein Primärversorgungssystem. Dafür bedarf es aber einer unabhängigen Terminvermittlung, die nach Dringlichkeit entscheidet und nicht danach, ob man gesetzlich oder privat versichert ist. Kommt der Primärarzt, also meist der Hausarzt, zu dem Schluss, dass der Facharzttermin noch etwas Zeit hat, ist das zumutbar und lässt sich dem Patienten erklären. Das Problem ist, dass Zugang und Zuweisung bisher nicht funktionieren. Zum Beispiel haben wir so viele Psychotherapeuten wie nirgendwo sonst, trotzdem warten zu viele zu lange auf einen Termin.
Hausärzte als Primärärzte würden zusätzlich Geld kosten, das verträgt sich mit Ihrem Kostenmoratorium nicht. Außerdem fehlen jetzt schon 5000 Hausärzte, jeder dritte ist älter als 60 Jahre . . .
Es geht darum, Effizienzen zu heben, durch Digitalisierung und mehr Kooperation. Neue Berufsbilder wie die Physician Assistants agieren zwischen Pflegekraft und Arzt. Auch kann man sich mehr kooperierende Strukturen oder medizinische Versorgungszentren vorstellen. Das Einzelkämpfertum ist kein Zukunftsmodell, im Team lässt sich viel mehr erreichen.
Die Deutschen besuchen zu oft zu viele Ärzte. Wäre eine Praxisgebühr sinnvoll?
Die hatten wir schon einmal. Sie besaß keine große Steuerungswirkung, war aber ein riesengroßes Ärgernis für alle Beteiligten und wirft soziale Fragen auf. Besser wäre es, die Gesundheitskompetenz auch mithilfe eines Ersteinschätzungsverfahrens zu stärken und den Patientinnen und Patienten die Hand zu reichen. Andere Systeme werden immer sehr gelobt, zum Beispiel das der Schweiz, aber da sollte man genau hinsehen. Meine Mutter war früher in Deutschland versichert, jetzt in der Schweiz. Dort muss sie beim Arzt rund 100 Franken aus eigener Tasche zahlen, was ich für Deutschland selbstverständlich ausschließe. Auch das Zuweisungssystem ist sehr streng. Dadurch gibt es aber tatsächlich keinerlei Wartezeiten und eine sehr gute Versorgung.
Frau Warken will Reformkommissionen bilden: für die Pflege noch 2025, für die GKV nun schon 2026. Eine gute Idee?
Ich habe interessiert zugehört, dass Frau Warken da jetzt terminlich Druck macht. Das ist gut, das Datum 2027 aus dem Koalitionsvertrag war ein Irrweg. Trotzdem kann man sich fragen, was solche Kommissionen bringen. Es mangelt nicht an Erkenntnis, sondern an der Umsetzung. Wenn es aber diese Gremien schon geben soll, dann müssen wir als Selbstverwaltung beteiligt werden. In der Krankenhaus-Regierungskommission des ehemaligen Ministers Karl Lauterbach durften wir nur am Katzentisch mitreden. So fehlten wichtige Impulse von uns, aber auch von der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
Die Reform ist da. Ist sie so schlecht?
Die Grundzüge der Krankenhausreform unterstützen wir. Die stationäre Versorgung zu konzentrieren und so die Qualität zu erhöhen, ist richtig. Wir brauchen nicht jede Klinik in Deutschland. Ich befürchte aber, dass die Reform verwässert wird, wenn Frau Warken sie wieder aufschnürt. Ein Problem wird es, wenn die Länder Regionalpolitik über die Qualität der Versorgung stellen. Von einheitlichen Leistungsgruppen zur Qualitätssicherung dürfen wir nicht abweichen, und die Vorhaltepauschalen dürfen keinesfalls mit der Gießkanne fließen, sondern müssen sich am tatsächlichen Versorgungsbedarf orientieren.
Die Kliniken wollen mehr Geld.
Sie erhalten von den Beitragszahlenden mehr als 100 Milliarden Euro im Jahr, das muss reichen. Für das Pflegebudget existiert gar keine Begrenzung mehr, wir bezahlen jede Kraft und jede Tariferhöhung. Demnächst fließen über zehn Jahre hinweg auch noch 50 Milliarden Euro von Bund und Ländern für die Neuordnung der Krankenhäuser. Und 2025 und 2026 gibt es zusammen vier Milliarden Euro als Sofort-Transformationskosten. Viele dieser Milliarden stammen aus dem neuen Sondervermögen. Wir müssen aufpassen, dass dieses Füllhorn nicht unkontrolliert über den Kliniken ausgeschüttet wird, denn dann werden die alten Strukturen konserviert, statt Veränderungen voranzutreiben.
Wie hält man die Pflegekosten stabil?
Ein Ansatz wäre, dass die Länder endlich ihren gesetzlichen Zahlungspflichten für die Investitionskosten nachkommen. Die Eigenanteile von Heimbewohnern sind auch deshalb so hoch, weil sie die Investitionen stemmen müssen. Kämen die Länder ihrer Pflicht nach, müsste jeder vollstationär Pflegebedürftige 500 Euro im Monat weniger bezahlen. Aber da machen sich die Länder genauso einen schlanken Fuß wie bei den Investitionskosten der Kliniken, die daher aus GKV-Beiträgen subventioniert werden müssen. Was die Pflege angeht, wird auch ein Finanzausgleich mit der privaten Pflegepflichtversicherung diskutiert. Sie bezahlt die gleichen Leistungen, hat aber die geringeren Risiken. Damit würde die soziale Pflegeversicherung um einige Milliarden gestärkt werden. Aber ob das gewollt ist oder nicht, muss politisch entschieden werden.
Teile der SPD fordern zur Sanierung der Kassenfinanzen eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, bis zu der auf Arbeitseinkommen Sozialabgaben fällig sind. Wie stehen Sie dazu?
Letztlich springt der Ansatz doch zu kurz, denn das wäre eine Beitragssatzerhöhung für bestimmte Einkommensgruppen. Wir sollten aber eben nicht immer nur darauf schauen, wie wir neues Geld zulasten der Beitragszahler ins System pumpen. Es ist genug Geld da. Kommen wir damit nicht aus, müssen wir die Kosten senken.
Ja, viele patentgeschützte Arzneimittel sind zu teuer. Wir wissen, dass die Hersteller ihre Forschungskosten einspielen müssen, und sie sollen auch Geld verdienen. Aber in Deutschland läuft das aus dem Ruder, die Gewinne sind die höchsten in Europa. Wir müssen zum Augenmaß zurück. Die Unternehmen würden Deutschland auch mit weniger Profit die Treue halten, denn wir sind einer der größten Märkte der Welt.