Verteidigungsbranche: Rüstungsindustrie droht ein Stahlengpass

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Anfang des Jahres war Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zu Besuch in einem Werk des Rüstungsherstellers KNDS Deutschland. Es ist eine besonders traditionsreiche Fabrik, auch wenn sie noch gar nicht so lange zu dem Panzerhersteller gehört. Seit 1848 und für viele Jahre wurde in der Friedrich-Wilhelms-Hütte (FWH) in Mülheim an der Ruhr in einem Hochofen Rohstahl hergestellt, später wurde die Fabrik mit dem Niedergang der Montanindustrie zu einer reinen Gießerei. Das Werk gehörte einst zu Thyssen und seit Anfang des Jahrtausends und für mehr als 20 Jahre zum Unternehmen Georgsmarienhütte.

Richtig glücklich wurden die Stahlhersteller mit ihrer Fabrik aber nicht, die Hütte ging insolvent: Doch während die Stahlbranche an internationaler Überproduktion und daraus resultierenden Preiskämpfen leidet, sollte die lange Zeit schlecht ausgelastete Friedrich-Wilhelms-Hütte nicht das Schicksal erleiden, vor dem sich so viele Gießereien und Stahlwerke in Deutschland fürchten – eine Abwicklung. Vielmehr ist das Werk nun wieder ein Zukunftsprojekt. KNDS hat es im Jahr 2023 übernommen, und wohl auch deswegen, um nicht einen wichtigen Zulieferer für gepanzerte Fahrzeuge wie den Boxer, den Kampfpanzer Leopard 2 und den Schützenpanzer Puma zu verlieren.

Pistorius freut das. Denn: „Panzerstahl ist nationale Schlüsseltechnologie“, befand der Verteidigungsminister schon damals: „Mit der Übernahme leistet KNDS einen ganz wichtigen Schritt zur Absicherung der Lieferketten.“ Es werde wichtiger, unabhängig zu werden, und dazu gehöre auch der Panzerstahl. „Damit sorgen Sie für eine stärkere Bundeswehr und damit für mehr Sicherheit für uns alle.“ Planungssicherheit ist gegeben. Die Aufträge dürften auf Sicht nicht abreißen, denn die Militärs rüsten angesichts der angespannten Sicherheitslage auf. „Und hier wird der mit Abstand beste Panzerstahl in der Welt hergestellt“, sagte Pistorius.

„Hochprofitabler“ aber kleiner Markt

Doch ist so ein Werk allein nicht genug. Derzeit, so schätzt Nils Naujok, Stahlfachmann der Unternehmensberatung Oliver Wyman, werden in ganz Europa rund 600.000 Tonnen Panzerstahl gebraucht. Panzerstahl – darunter zählt der Experte hochfeste Sicherheitsstähle aus Grobblech von sechs Millimetern Dicke oder mehr. „Das ist im Vergleich zum gesamten Flachstahlmarkt in der Summe zwar ein kleines Segment“, sagt Naujok: „Aber nach unserer Einschätzung kann dieser Bereich mit den zusätzlichen Aufträgen, die aufgrund der angepassten NATO-Ziele voraussichtlich entstehen werden, bis zum Jahr 2030 auf insgesamt 1,5 Millionen Tonnen wachsen, bis 2032 sogar auf mehr als zwei Millionen Tonnen.“ Das sei dann immer noch ein relativ kleiner Markt, „aber ein hochprofitabler“.

Auch die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) sieht momentan ein Wachstumspotential von rund sieben Prozent, allerdings mit der Einschränkung, dass nur bestimmte Anwendungsszenarien untersucht wurden, die für BCG-Kunden interessant sein könnten.

Ein Mitarbeiter von KNDS prüft eine Munitionspatrone vom Kaliber 155 Millimeter.
Ein Mitarbeiter von KNDS prüft eine Munitionspatrone vom Kaliber 155 Millimeter.AFP

Das Geschäft mit Rüstungsstählen ist anspruchsvoll, weil die Produkte hohen Anforderungen gerecht werden müssen. Stahl für militärische Anwendungsgebiete sollte extrem belastbar, zäh, schweißgeeignet und gleichzeitig korrosions- und splitterfrei sein, zählen Fachleute die Kriterien auf. Kleine Mengen auf großen Anlagen herzustellen, ist schwierig und auf den ersten Blick nicht besonders lukrativ. Daran mag es auch liegen, dass der allermeiste Panzerstahl derzeit aus Schweden nach Deutschland und in die EU geliefert wird – vom darauf spezialisierten Hersteller SSAB.

Fachleuten zufolge verfügen derzeit in Deutschland nur noch zwei der großen Stahlkocher über die nötigen Kompetenzen, Panzerstähle herzustellen: die Dillinger Hütte im Saarland und Salzgitter in Niedersachsen. Ob das eine abschließende Liste ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Markt ist durch hohe Vertraulichkeit und abgeschirmte Lieferketten geprägt. Nils Naujok von Oliver Wyman ist sich jedenfalls in einem Punkt recht sicher: „Durch die Übersichtlichkeit der Lieferanten und die steigenden Bedarfe steuern wir auf eine Versorgungslücke zu.“ Andererseits sei aber auch klar: „Die benötigten Mengen sind nicht in einer Größenordnung, dass sich dadurch ein notleidendes Stahlwerk retten ließe.“

Schwieriger Weg zur Zulassung für Rüstungsstahl

Dass da viel dran ist, zeigt das derzeitige Schicksal der in die Jahre gekommenen Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM) im Duisburger Süden, die zur Hälfte Thyssenkrupp Steel, zu 30 Prozent Salzgitter und zu 20 Prozent dem französischen Rohrhersteller Vallourec gehören. Um HKM vor dem Aus zu retten, hatte eine Unternehmensberatung ein Zukunftskonzept für den Standort erdacht. Es sah vor, HKM als unabhängiges Stahlwerk aufzustellen und Grobblech-Walzwerke mit seinen Produkten zu beliefern – diese Grobblech-Walzwerke könnten dann wiederum die Rüstungsindustrie ausstatten. Bislang jedoch haben Gespräche mit potentiellen Investoren zu keinen Ergebnissen geführt.

Was das Thema Rüstungsstahl noch komplexer macht: Dass Unternehmen für Verteidigungszwecke geeigneten Stahl produzieren können, bedeutet nicht automatisch, dass sie auch Rüstungszulassungen dafür haben. Diese sind oft an aufwendige und langwierige Zertifizierungsverfahren geknüpft. Die Anforderungen und Zertifizierungen unterscheiden sich in Europa von Land zu Land. Nicole Voigt, Stahlexpertin der Boston Consulting Group , sagt, es müssten spezifische Testprozesse zum Nachweis von Härte, Beschussfähigkeit und Zusammensetzungen implementiert sein, zudem brauche es vor Ort bei dem Stahlhersteller Anlagen für Beschusstests. Wer Rüstungsstahl herstellen wolle, müsse also sehr eng mit Behörden und der Bundeswehr zusammenarbeiten. Reputation sei wichtig. So verfüge SSAB in Schweden mit „Armox“ über eine starke Marke, die schon am Markt bekannt sei. Wer neu einsteigen wollte, müsste sich ein ähnliches „Standing“ erst erarbeiten.

Rheinmetall bezieht viel Stahl aus Indien und China

Einer der wichtigsten Kunden von SSAB aus Deutschland ist der Rüstungshersteller Rheinmetall . Dabei soll es aber nicht bleiben. „Im Interesse der Sicherheitsvorsorge für unser Land sehen wir es als unseren Auftrag und Verpflichtung, einseitige Abhängigkeiten bei den Lieferketten aufzulösen und zusätzliche Bezugsquellen zu erschließen“, teilt der Dax-Konzern auf F.A.Z.-Anfrage mit: „Aus sicherheitsstrategischen Gründen wird inländischen Bezugsquellen, wo dies möglich ist, der Vorzug gegeben.“

Bislang sehen diese Bezugsquellen aber noch mau aus. Doch sieht auch der größte Rüstungshersteller im Land neue Chancen: „Im Markt für Panzerstahl beobachten wir den Wandel von einem Monopolmarkt zu einem Oligopolmarkt, in dem sich neue Anbieter – auch aus Deutschland – zunehmend in Position bringen“, heißt es von Rheinmetall gegenüber der F.A.Z.: „Diese Entwicklung begrüßen und unterstützen wir.“ Auch im Bezug von klassischen Stahlprodukten wolle sich Rheinmetall zukünftig verstärkt auf dem Heimatmarkt umsehen, kündigte der Vorstandsvorsitzende Armin Papperger auf der diesjährigen Bilanzpressekonferenz an. Solchen Stahl beziehe das Unternehmen heute vor allem aus Indien und China – auch hierbei gehe es künftig stärker darum, die Lieferketten abzusichern.

Noch wichtiger ist aber der Panzerstahl. Jedes Jahr braucht allein Rheinmetall „mehrere Tausend Tonnen“ davon – schon in den vergangenen zwei Jahren habe sich der Bedarf verdoppelt. „Der wachsende Bedarf gibt uns die Möglichkeit, sukzessive zusätzliche neue Lieferquellen in unser Netzwerk einzubinden“, sagt ein Rheinmetall-Sprecher: „Mit Blick auf anspruchsvolle Kundenspezifikationen kommt es beim Einkauf – neben Preis und Verfügbarkeit – vor allem auf die Qualität an.“ Rheinmetall begrüße es, „dass sich nun auch wieder inländische Bezugsquellen auftun, von denen wir bereits erste Tranchen bezogen haben“.

Interesse an Rüstungsstahl war lange Zeit gering

Die aktuelle Lage hängt auch damit zusammen, dass einige Stahlproduzenten, bevor die „Zeitenwende“ das Thema wieder in den Fokus rückte, das Interesse an der Herstellung von Rüstungsstahl verloren hatten. Thyssenkrupp Steel hatte einst mit „Secure“ eine in der Szene bekannte Marke, aber jahrelang mit dem Geschäft kaum Geld verdienen können. Die Duisburger haben sich deshalb aus ihren einstigen Panzerstahlaktivitäten vor Jahren zurückgezogen. Die Marke „Secure“ gehört heute Salzgitter. Thyssenkrupps Stahlchef Dennis Grimm versicherte kürzlich auf dem Podium einer Branchentagung, dass das Unternehmen an der Herstellung von Rüstungsstahl weiterhin kein Interesse habe.

Auch Arcelor Mittal teilt gegenüber der F.A.Z. auf Anfrage mit, keinen Stahl für die Verteidigung in Deutschland herzustellen, dies sei auch „nicht geplant“. Allerdings stellt das international agierende Unternehmen unter der Marke „Mars Protections Steels“ durchaus Sicherheitsstahl her – bloß offenbar nicht hierzulande.

„Wir haben eine Taskforce gegründet, um unser Defence-Portfolio unter einem Dach zu bündeln“, sagt dagegen ein Salzgitter-Sprecher. Deutschlands zweitgrößter Stahlkocher könne sich die Verwendung seiner Stähle für verschiedene Anwendungen vorstellen, die Liste ist lang: Panzer, Mannschaftstransportwagen, Kampffahrzeuge, gepanzerte Lkw und Nutzfahrzeuge, U-Boote, Kriegsschiffe, Bunker, Basislager, Container, Artillerie, Geschütze und nicht zuletzt die Sicherung des Cockpits und wichtiger anderer Bereiche von Flugzeugen und Hubschraubern. „In einigen Segmenten liefern wir bereits an Kunden, werden dies aber weiter ausbauen“, sagt der Salzgitter-Sprecher. Für Hoffnung auf neue Geschäfte hat die Aufrüstung auch im Saarland gesorgt. Der Stahlkonzern Dillinger Hütte – nach eigener Einschätzung Europas größter Hersteller von Grobblechen – hat für seine Spezialbleche von der Bundeswehr schon die begehrte Zulassung als Panzerstahl.

Infrastruktur profitiert von leistungsfähiger Stahlproduktion

Ebenfalls mehr Aufträge erhofft sich das Schwesterunternehmen Saarstahl , dessen „Langstähle“ etwa für Granathülsen genutzt werden können. Die Mengen seien zwar noch klein, verglichen mit dem Einsatz in Stahlbauten, Rohrleitungen oder in der Autoindus­trie, aber die Nachfrage steige, heißt es aus dem Mutterunternehmen, der Stahl-Holding-Saar. Zudem locke das Rüstungsgeschäft mit besseren Margen.

„Defense“ wie die Sparte im Firmenjargon heißt, sei ein wachsender Markt mit Perspektive, speziell dann, wenn die Rüstungshersteller in Deutschland ihre Lieferketten verkürzen und einseitige Abhängigkeiten reduzieren wollten. Von der Stahl-Holding-Saar heißt es dazu weiter, eine leistungsfähige heimische Stahlproduktion sei ein strategischer Faktor. Sie sichere nicht nur die Versorgung für die Verteidigungsindustrie, sondern sei entscheidend für die Sanierung von Brücken, Schienen und Verkehrswegen sowie den Ausbau der Energieinfrastruktur: „In einer Zeit geopolitischer Unsicherheit müssen wir auf bekannte Qualität, Verlässlichkeit und kurze Lieferwege setzen.“

Neben Sicherheitsstahl für Panzer sind in der Rüstungsbranche auch spezialisierte, weiterverarbeitungsintensive Stahlgussteile knapp, wie sie Experten zufolge unter anderem in der Friedrich-Wilhelms-Hütte hergestellt werden. Teile für die Rüstungs- oder rüstungsnahe Industrie kann auch die GMH-Gruppe aus Georgsmarienhütte in der Nähe von Osnabrück fertigen.

Hersteller rechnen mit steigender Nachfrage

Und auch dort tut sich etwas. Wie das Unternehmen bestätigt, war vor Kurzem Rheinmetall-Vorstandschef Armin Papperger zu Besuch, um sich mit der Konzernleitung zu treffen. Mit dabei waren unter anderem Vorstandschef Alexander Becker und Mitgeschäftsführerin und Gesellschafterin Anne-Marie Großmann. Noch macht für GMH die Produktion zu Verteidigungszwecken nur ein Prozent des Geschäfts aus, doch Zweck des Papperger-Besuchs sei es gewesen, „mögliche Geschäftsmöglichkeiten und Synergien zwischen unseren beiden Organisationen zu erkunden“, teilt GMH auf F.A.Z.-Anfrage mit.

„Wir sind der Meinung, dass Deutschland seine Verteidigungsfähigkeit wiedererlangen und zu einer glaubwürdigen Abschreckung beitragen muss, insbesondere gegenüber Russland“, gibt das Unternehmen weiter zu Protokoll: „Die Produktion von Artilleriemunition und gepanzerten Komponenten ist daher für uns interessant, da die Nachfrage in diesem Bereich in den kommenden Jahren voraussichtlich steigen wird.“

Nach eigenen Angaben produziert die Gruppe, die schon früh auf CO2-arme Elektrostahlherstellung umgestellt hat, geschälten Blankstahl, geschlossene und offene Gesenkschmiedeteile, nahtlos gewalzte Ringe, Gussstahl und hoch stickstoffhaltige Stähle, die allesamt zu Einsatzzwecken im Verteidigungsbereich nutzbar wären. Eine GMH-Sprecherin sagt: „Wir beobachten, dass Finanzinstitute offen sind, Kapazitätsausbau im Verteidigungssektor zu unterstützen, wenn dieser mit Nachhaltigkeit und Verantwortung einhergeht.“