Sexueller Missbrauch: Erzbistum Köln haftet nicht

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Das Landgericht Köln hat die Schmerzensgeldklage einer Frau, der als Kind und Jugendliche von einem katholischen Geistlichen über Jahre hinweg schwerste sexuelle Gewalt angetan wurde, in vollem Umfang abgewiesen. Wie die Pressestelle des Gerichts am Dienstagvormittag bekannt gab, sei die 5. Zivilkammer zu der Auffassung gelangt, zwischen den Missbrauchstaten des Priesters und dessen kirchlichem Amt bestehe kein Zusammenhang; er habe die Taten „mehr oder weniger als Privatperson“ begangen. Daher scheide die Anwendung von Amtshaftungsgrundsätzen aus.

Ebenfalls nicht einschlägig sei die Annahme, das Erzbistum könne wegen Unterlassen von Sorgfalts- und Fürsorgepflichten in Haftung genommen werden. Damit ist die Annahme hinfällig, das Erzbistum könne auf dem Weg einer Amtshaftungsklage zu der Zahlung von – in diesem Fall 830.000 Euro – Schmerzensgeld veranlasst werden.

Der fragliche Geistliche war im Februar 2022 wegen Missbrauchs von Minderjährigen in neun Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt worden. Klage auf Schmerzensgeld erhoben hatte indes nur eine der Betroffenen, seine langjährige Pflegetochter.

Missbrauch der Pflegetochter

Melanie F. war im Alter von zwölf Jahren vom Jugendamt der Stadt Bonn mit Wissen und Willen des damaligen Kölner Erzbischofs Joseph Kardinal Höffner einem angehenden Priester auf dessen Betreiben hin als Pflegekind anvertraut worden. In den folgenden Jahren wurde die heute fast sechzig Jahre alte Frau immer wieder vergewaltigt. Im Alter von 16 Jahren wurde sie schwanger; das Kind wurde auf Veranlassung des Priesters abgetrieben.

Vor zwei Jahren hatte das Landgericht Köln in einem Urteil festgestellt, dass „insbesondere die Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche Amtshaftungsansprüche auslösen (könnten), da es sich um allgemeingültige, drittschützende Pflichten handelt, andere Personen in nicht an ihren Rechtsgütern zu schädigen“. Im konkreten Fall argumentierte die Kammer, zwar könnten Amtsträger der Kirchen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Beamte im haftungsrechtlichen Sinne sein. Zudem könnten kirchliche Körperschaften für die Folgen von Missbrauchstaten haften.

Allerdings müssten diese „als Ausübung eines öffentlichen Amtes“ qualifiziert werden. Einen Zusammenhang zwischen den Missbrauchstaten und dem kirchlichen Amt des Täters sah das Gericht als „nicht gegeben“ an. Vielmehr bestehe die Besonderheit, dass die Klägerin dem angehenden Priester als Pflegekind anvertraut worden sei. Dieses Sorgeverhältnis sei durch einen staatlichen Akt begründet worden, nicht durch einen kirchlichen.

Keine kirchliche Aufgabe

Auch die Zustimmung des Erzbistums zu der Annahme als Pflegekind mache die Sorge nicht zu einer kirchlichen Aufgabe im Sinn der Haftungsnorm § 839 Abs 1. BGB i.V. mit Art 34. GG. Es sei nicht ersichtlich, so die Kammer, dass die kirchlichen Körperschaften für jede Handlung ihrer Amtsträger haften, ganz gleich, welche Auffassung die katholische Kirche von dem Priesteramt habe. Diese habe das Gericht nicht zu interessieren; maßgebend sei bereits aus Gründen der Rechtssicherheit eine objektive Betrachtung.

Für denkbar hielt die Kammer in einem zweiten Argumentationsschritt auch Handlungspflichten des Erzbistums im Zusammenhang mit der Aufklärung eines beruflichen oder persönlichen Fehlverhaltens eines Priesters. Die Beweisaufnahme habe allerdings keine Anhaltspunkte dafür zutage gefördert, dass organschaftliche Vertreter oder andere Bedienstete des Erzbistums Anhaltspunkte dafür gehabt hätten, dass die minderjährige Pflegetochter sexuell missbraucht worden sei. 

Der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen ging am Dienstag im Gespräch mit der F.A.Z. mit der Urteilsbegründung hart ins Gericht. Die Unterscheidung zwischen dem Amtsträger, der in seiner Freizeit Privatmensch außer Dienst ist, passe zu normalen Staatsbeamten, so der Hochschullehrer. Zu katholischen Priestern passe dies nicht, wie sich anhand des theologischen Selbstverständnisses der katholischen Kirche und auch nach ihrem Recht leicht erschließen lasse. 

Der frühere Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner habe dieses Amtsverständnis einmal treffend auf den Punkt gebracht, als er Weihekandidaten ins Stammbuch schrieb, Priester könne es „nie rein privat geben“. Sie seien „entprivatisiert in den Raum der Kirche“, davon gebe es „keine Beurlaubung“. Im vorliegenden Fall komme hinzu, dass der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner die Pflichten des Klerikers, der die Minderjährige als Pflegekind aufnehmen wollte, so konkretisiert habe, dass er das Mädchen gerade als Kleriker, auch religiös, betreuen sollte. Auch darin, so Rixen, komme das kirchliche Amtsverständnis zur Geltung, denn der Bischof definiert den konkreten Aufgabenkreis des Klerikers.

Den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht gefolgt

Das Landgericht meine hingegen, es müsse zur Klärung der Frage, was ein kirchliches „Amt“ ist, sich nicht mit dem kirchlichen Selbstverständnis auseinandersetzen. Nach Rixens Worten widerspricht dieses Vorgehen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Pflicht staatlicher Gerichte, das kirchliche Selbstverständnis zu berücksichtigen – und das Erzbistum Köln wehre sich dagegen nicht, „weil die Missachtung des kirchlichen Selbstverständnisses prozesstaktisch vorteilhaft ist, denn die Ignoranz gegenüber dem eigenen Priesterbild, das sonst hochgehalten wird, zahlt sich im Wortsinn aus, weil der Klägerin kein Schmerzensgeld gezahlt werden muss“.

Als Außenstehender müsse man sich fragen, warum das Landgericht Auslegungen favorisiere, die dem beklagten Erzbistum Köln zum Vorteil gereichen, obwohl sich andere, betroffenenfreundliche Auslegungen aufdrängten. Allgemein folgt für Rixen daraus: „Aus Sicht der Betroffenen sexualisierter Gewalt ist es generell wünschenswert, dass die Gerichte bei solchen Amtshaftungsprozessen ihre üblichen, für staatliche Beamte geltenden Begründungsansätze differenziert weiterentwickeln, also mit Sinn für die Eigenheiten des kirchlichen Bereichs.“ So ließe sich auch der für viele Betroffene schwer zu ertragende Eindruck vermeiden, die Empathie der Justiz mit der „Täterorganisation Erzbistum Köln“, wie der Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser einmal formuliert habe, sei größer als die Empathie mit den Opfern.

Der Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, bezeichnete die Entscheidung derweil als „schweren Schlag für die Betroffenen“. Sexuelle Gewalt an einem mit Billigung der Kirchenoberen in Obhut genommenes Kind zur Privatangelegenheit zu erklären zeuge zudem „von einer bemerkenswerten Unkenntnis der katholischen Amtskirche und ihrer Lehre“. Dass die Richter nicht bereit gewesen seien, anzuerkennen, dass diese Verbrechen nur möglich waren, „weil der Täter ein Priester der katholischen Kirche war, zeugt entweder von einer Voreingenommenheit zugunsten der Kölner Kirche oder von einer Verweigerung logischen Denkens“.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide Parteien haben die Möglichkeit, beim Oberlandesgericht Köln Berufung einzulegen (AZ 5 O 220/23).