Kohl am Abgrund

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Grün ist das Land, rot ist die Kant, weiß ist der Sand. So erklärt ein Spruch, der allerdings erst zum Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, das Design der Flagge Helgolands, welche die auf der Insel beheimateten Schiffe bereits seit 1696 führen. Nun ist der helle Nordseesand Folge eines hohen Quarzgehalts, und das Rot der Klippen verdankt sich dem wüstenhaften Klima während der Trias, dem Erdzeitalter, in dem sich die später zu Buntsandstein verfestigten Sedimente abgelagert haben. Und das Grün?

Es handelt sich nicht um Bäume oder Buschwerk. Dergleichen gibt es auf Helgoland nicht, abgesehen von dem importierten Inventar der Kleingartenkolonie im Osten des Oberlandes und einem Maulbeerbaum, der den britischen Bombenhagel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überstanden hat. So ist das Grüne hauptsächlich Gras, das heute von einem Trupp Heidschnucken kurz gehalten wird.

Charlotte Wagner

Aber davon abgesehen ist die Helgoländer Flora etwas absonderlich. Das windige, milde Wetter, vor allem aber das Fehlen kommerzieller Agrarflächen und damit überhöhten Nährstoffeintrags sorgt in Frühling und Sommer für eine Blütenpracht, die sich von der auf dem Festland auffällig unterscheidet. Uns etwa fiel Anfang Juni das völlige Fehlen des Löwenzahns auf. Und doch blühte es auch gelb, insbesondere aus etwas, was wir als Strauch angesprochen hätten, wäre da nicht dieser merkwürdige Strunk, aus dem der Rest der Pflanze treibt. Und dann diese Form der Blätter, wo haben wir die schon mal gesehen?

Im Supermarkt, Gemüseregal, das Fach mit dem Kohlrabi. Denn botanisch gesehen handelt es sich in beiden Fällen um die Art Brassica oleracea. Aber nicht nur in diesen: Auch Blumen-, Rosen-, Spitz-, Grün-, Weiß- und Rotkohl sowie Wirsing und Brokkoli samt seiner fraktalen Untersorte, dem Romanesco, sind nur Varietäten dieser einen Art aus der Familie der Kreuzblütler. Erst menschliche Züchtungsbemühungen haben diesen Gemüsekosmos hervorgebracht.

Urkohl: Brassica oleracea var. oleracea im Süden der Insel Helgoland
Urkohl: Brassica oleracea var. oleracea im Süden der Insel HelgolandUvR

Allerdings nicht den Klippenkohl, wie die Helgoländer ihr gelbblühendes Gewächs nennen, da es oft nah an der Felskante gedeiht. Dies ist tatsächlich die Wildform allen Kohls, und in Deutschland gibt es sie nur hier. Daneben findet man ihn auch noch in Südengland und an anderen westeuropäischen Küsten, die daher schon als Wiege des Kohls in Betracht kamen.

Dann allerdings wies Lorenzo Maggioni, ein altphilologisch gebildeter Pflanzengenetiker in der Zeitschrift Genetic Resources and Crop Evolution darauf hin, dass zuerst griechische und römische Autoren im 6. Jahrhundert vor Christus Kulturkohl erwähnen. Ein wichtiges Motiv war dabei die ihm nachgesagte Wirkung gegen Kater nach Trinkgelagen. Homer hätte das im 8. Jahrhundert sicher nicht unerwähnt gelassen, doch er scheint den Kohl nicht gekannt zu haben, ebenso wenig wie die Kelten oder ägyptische und babylonische Quellen.

Damit dürfte die nahrhafte und nach der Ernte lange lagerfähige Pflanze irgendwann im 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr. im griechischen Mittelmeerraum kultiviert worden sein. Der antike Botaniker Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, unterschied im 4. Jahrhundert v. Chr. bereits drei verschiedene Kohlsorten, darunter eine, die er als Wildform erkannte und damit den frühesten Beleg für das Konzept des Kultivierens liefert. Am Kohl wurde dem Mensch offenbar zuerst bewusst, dass er in die Formenwelt des Lebendigen einzugreifen vermag.

Sichtbar und geschmacklich. So komme man nicht auf die Idee, jenen Strunk des Helgoländer Klippenkohls als einzigen essbar aussehenden Teil der Pflanze zu kochen und zu verzehren – er soll sehr bitter sein. Obendrein ist es verboten. Denn der wilde Kohl ist heute stark bedroht.