Jean-Hervé Lorenzis Telefon stand in den vergangenen Tagen selten still. Bis kurz vor knapp blieb wie üblich unklar, welcher Stargast seine Teilnahme an der Wirtschaftskonferenz in Aix-en-Provence noch bestätigt oder annulliert; bis kurz vor knapp wollte er die Hoffnung nicht begraben, dass Emmanuel Macron „à la dernière minute“ vorbeischaut. Lorenzi hat nach eigenen Angaben viel Mühe darauf verwendet, den französischen Staatspräsidenten von einem gemeinsamen Auftritt mit Friedrich Merz zu überzeugen – ohne Erfolg.
Der Spiritus Rector der jedes Jahr Anfang Juli stattfindenden Konferenz denkt gerne groß. Die „Rencontres Economiques“, die als „Davos Frankreichs“ und Gradmesser der wirtschaftspolitischen Debatte gelten, sind das Lebenswerk des 77 Jahre alten französischen Ökonomen. Unermüdlich klemmt sich Lorenzi jedes Jahr hinter den Hörer, um die erste Garde an Forschern, Politikern und Wirtschaftslenkern nach Aix zu holen. Je nach Sichtweise tut er das wahlweise charmant oder aufdringlich. Von diesem Donnerstag bis Samstag findet die 25. Jubiläumsausgabe der „Rencontres“ statt.
In der sengenden Hitze von Aix werden knapp 400 Referenten dann wieder über die großen Fragen der Zeit sprechen. Das diesjährige Motto lautet „Der Realität ins Auge sehen“. Geplant sind 70 Sessions auf den offenen Bühnen des Parc Jourdan im Süden der pittoresken Altstadt. Zu den prominenten Referenten zählen der französische Finanz- und Wirtschaftsminister Eric Lombard, der frühere EZB-Präsident Mario Draghi, die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Esther Duflo und die Chefs von Konzernen wie Axa, Totalenergies und Saint-Gobain. Neben rund 7000 Teilnehmern vor Ort rechnen die Veranstalter mit mehr als einer Million Zuschauer im Netz.
Die Brise Urlaubsflair ist Programm
Lorenzi kann sich auf die Fahnen schreiben, aus der als Fachtagung für Ökonomen gestarteten Veranstaltung ein Großevent gemacht zu haben, über das Fernseh- und Radiosender mit Studios vor Ort berichten. Am Anfang habe man über Zinssätze und Schuldenstände diskutiert, nun spreche man über die Weltpolitik, sagt er. Stolz ist Lorenzi darauf, in diesem Jahr Vertreter von mehr als 30 internationalen Denkfabriken akquiriert zu haben.
Dazu zählen die Trump-nahe Heritage Foundation, das chinesische Development Research Center of the State Council und von deutscher Seite unter anderem die Konrad-Adenauer-Stiftung. Trotz Internationalisierung bleiben die „Rencontres“ jedoch eine französisch dominierte Veranstaltung. Sie fällt seit je auf das Wochenende zu Beginn der langen französischen Schulferien, sodass der eine oder andere Pariser den Aufenthalt in Aix traditionell als Sprungbrett ins Ferienhaus an der Côte d’Azur nutzt.
Die Brise Urlaubsflair ist freilich Programm. Statt mit Krawatte sitzen die männlichen Referenten mit hochgekrempelten Hemdärmeln auf den Bühnen des Park Jourdan. Statt fortlaufend über die Politik und das Geschäft zu diskutieren sollen sich die Konferenzteilnehmer abends an den schönen Künsten erfreuen, sei es beim zeitgleich startenden Musikfestival von Aix oder im Rahmen der „Rencontres“ organisierten Soirees an mondänen Orten wie dem Hôtel de Caumont oder dem Pavillon de Vendôme. Erst die Weltlage analysieren, dann die sommerliche Stimmung in den Altstadtgassen genießen, so könnte man den traditionellen Tagesablauf vieler Wochenendgäste in Aix zusammenfassen.
Eine graue Eminenz der französischen Linken
Nicht nur das unterscheidet die Veranstaltung vom Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch ihr offener Charakter stehe in diametralem Gegensatz zu dem Elitentreffen in den Schweizer Bergen, meint Lorenzi. „In Davos sprechen die Mächtigen mit dem Mächtigen“, sagt er. Das sei ein Nährboden für den Populismus. Auf Davos-Vergleiche reagiert er allergisch. Nach Aix kämen zwar auch mächtige Menschen und Fachleute, aber Adressat sei nicht die elitäre Blase, sondern die breite Öffentlichkeit. Tatsächlich kann jeder kostenfrei an den „Rencontres“ teilnehmen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Lorenzi Sponsoren das ganze Jahr hindurch belagert, Geld lockerzumachen. Mit rund 6,7 Millionen Euro ist das Veranstaltungsbudget auch in diesem Jahr nicht knapp bemessen.
Lorenzis Biographie passt denn auch ganz gut zu der Konferenz in Aix mit ihrem egalitären Anspruch. Aufgewachsen im südfranzösischen Toulon, schlug der Sohn eines Admirals eine Militärlaufbahn aus und studierte Wirtschaftswissenschaften in Grenoble, wo er politisch links der Mitte sozialisiert wurde. Lorenzi wurde 1975 Professor an der Universität Sorbonne Paris-Nord und der Ecole normale supérieure. Er trat der Sozialistischen Partei bei und wurde neben Jacques Attali und Erik Orsenna ein Vordenker der 1981 begonnenen Präsidentschaft von François Mitterrand. Auch später blieb er eine graue Eminenz der französischen Linken.
In seiner rastlosen Art mäanderte Lorenzi zeit seines Lebens zwischen Wissenschaft, Regierungsberatung und Privatwirtschaft. 1992 gründete er den Ökonomenrat Cercle des économistes, der die Konferenz in Aix und weitere Events organisiert und dem mit Benoît Cœuré, Laurence Boone und Jean Pisani-Ferry einige der profiliertesten französischen Ökonomen angehören. Lorenzis Verdienste werden in diesem Milieu geschätzt. Dennoch sind nicht wenige der Auffassung, dass es allmählich Zeit für einen Generationenwechsel bei den „Rencontres“ sei. Bislang lässt der passionierte Segler und Großvater von sechs Enkelkindern offen, ob nach 25 Konferenzjahren der Zeitpunkt gekommen ist, sich zur Ruhe zu setzen.