Auch in Zukunft wird es einen Dalai Lama geben

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Auf der Suche nach der Wiedergeburt des dreizehnten Dalai Lamas fanden tibetische Mönche im Jahr 1937 in dem Dorf Taktser einen kleinen Hof, auf dessen Dach knorrige Wacholderzweige lagen. Das Haus sah offenbar so ähnlich aus wie das, das einem hohen Geistlichen, einem Lama, zuvor in einer Vision erschienen war. Der Suchtrupp gab sich erst einmal als eine Gruppe von Pilgern aus, und der sie anführende Geistliche als ihr Diener. Während des Aufenthalts schenkte der Lama dem jüngsten Kind des Hauses besondere Aufmerksamkeit. Der zwei Jahre alte Junge bezeichnete seinen Spielkameraden in Anlehnung an dessen Heimatkloster als „Sera Lama“. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte dieser sich noch gar nicht zu erkennen gegeben.

Am nächsten Tag legten die Mönche dem Jungen eine Reihe von Gegenständen vor. Ohne zu zögern, identifizierte er den Rosenkranz, einige Decken, eine Handtrommel und den Gehstock, die von den Mönchen aus den Besitztümern des dreizehnten Dalai Lamas mitgenommen worden waren. „Das gehört mir“, rief der Junge aus. So will es jedenfalls die Erzählung, die von den tibetischen Exilinstitutionen im indischen Dharamsala verbreitet wird. Die Tibeter waren außer sich vor Freude, die Reinkarnation des dreizehnten Dalai Lamas gefunden zu haben. Bei dem Jungen handelte es sich um den späteren Tenzin Gyatso, den weltberühmten vierzehnten Dalai Lama, der am 6. Juli seinen 90. Geburtstag feiert.

Er ist ein Symbol der Einheit der Tibeter

Mit den Feierlichkeiten und dem fortgeschrittenen Alter des Religionsführers kommt die Frage auf, was nach seinem Tod passieren wird – insbesondere mit Blick auf seine eigene Wiedergeburt. Bei einer Diskussionsveranstaltung in Hamburg bezeichnete die exiltibetische Informationsministerin Norzin Dolma den Dalai Lama kürzlich nicht nur als „internationale Ikone des Friedens und des Mitgefühls“, sondern auch als das Symbol für die Einheit, die Legitimität und Autorität der Tibeter. Angesichts einer „brutalen Assimilationspolitik“ Chinas in Tibet könne seine Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagte Dolma.

Aus diesem Grund ist das Ableben des populären Religionsführers mit großen Ängsten unter den Tibetern verbunden. Immerhin hat der Religionsführer an diesem Mittwoch deutlicher als zuvor bestätigt, dass es auch in Zukunft einen Dalai Lama geben wird. Vor rund neun Jahren hatte er in einem Interview mit der F.A.Z. noch gesagt, diese Frage hänge von den Tibetern selbst ab. Der klare Wunsch danach sei ihm aus den verschiedenen Gemeinschaften angetragen worden, bestätigte er nun. „In Übereinstimmung mit all diesen Anfragen bestätige ich, dass die Institution des Dalai Lamas fortgeführt wird“, sagte er laut der offiziellen Übersetzung seiner Videobotschaft.

Für die Tibeter sei es eine „große Erleichterung“, dass der Dalai Lama zur Wiedergeburt „bereit“ sei, sagte der Chef der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, Penpa Tsering, der F.A.Z. noch vor der Verkündung am Mittwoch. Mit seiner Botschaft hatte sich der Dalai Lama an eine Versammlung religiöser Würdenträger gewandt, die sich vor der Geburtstagsfeier am Sonntag für Konsultationen in dem indischen Himalaja-Ort McLeod Ganj zusammengefunden haben. Darin wiederholte der Dalai Lama auch die Vorgabe aus dem Jahr 2011, wonach die Verantwortung für den Auswahlprozess der Reinkarnation allein bei der Gaden-Phodran-Stiftung liege, einer Institution, die sich um die Geschäfte des Dalai Lamas und seiner Familie kümmert.

Die Nähe bleibt im Exil: Ein tibetisch geführter Laden mit Büchern tibetischer Geistlicher in Neu Delhi.
Die Nähe bleibt im Exil: Ein tibetisch geführter Laden mit Büchern tibetischer Geistlicher in Neu Delhi.EPA

Dabei soll einem Prozess gefolgt werden, der dem früherer Jahre ähnelt. „Sie werden andere hohe Lamas verschiedener Traditionen um Rat fragen. Sie werden auch die offiziellen Orakel der tibetischen Regierung konsultieren“, sagt der Exilregierungschef Tsering. Beim letzten Mal waren etwa einem ranghohen Lama in einem heiligen See mehrere tibetische Buchstaben erschienen, die den Suchtrupp später in die nordöstliche Provinz Amdo und in die Nähe des Klosters Kumbum in das Dorf Taktser geleitet hatten. Wie damals sollen dem mutmaßlichen Nachfolger auch wieder Gegenstände aus dem Besitz des jetzigen Dalai Lamas zur Identifizierung vorgelegt werden. Dazu werde er „klare schriftliche Anweisungen hinterlassen“, hat der Dalai Lama in seinem Buch angekündigt.

Mit den Instruktionen stemmen sich die Tibeter in erster Linie gegen die Versuche der chinesischen Führung, die Kontrolle über den Prozess der Wiedergeburt des Dalai Lamas zu übernehmen. Bereits im Jahr 2007 hatte Peking in den „Verwaltungsmaßnahmen für die Reinkarnation Lebender Buddhas“ festgelegt, dass jede Wiedergeburt eines buddhistischen Geistlichen einer Genehmigung und Anerkennung durch die Religionsbehörde bedarf. China gehe bei seiner Einmischung in den Reinkarnationsprozess sehr strategisch vor, sagt die Exilinformationsministerin Dolma auf der Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hamburg. Ihr zufolge versuche China auch, seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf verschiedene Länder zu nutzen, damit sie Pekings Position unterstützen.

Es gibt bereits zwei Pantschen-Lamas

Den jetzigen Dalai Lama, der im Jahr 1959 infolge eines gescheiterten Volksaufstands der Tibeter gegen die Chinesen nach Indien geflohen war, bezeichnet die Pekinger Regierung als Separatisten und „Wolf in Mönchskutte“. Die chinesische Führung wird nach seinem Tod voraussichtlich versuchen, eine von ihr ausgewählte Person als seine Wiedergeburt darzustellen. Am Ende könnte es zwei miteinander konkurrierende Reinkarnationen geben.

Den Präzedenzfall dafür bildet die Geschichte des Pantschen-Lamas, des zweitwichtigsten tibetischen Religionsführers. Nach dem Tod seines langjährigen Weggefährten im Jahr 1989 hatte der Dalai Lama einen sechs Jahre alten Jungen als dessen Reinkarnation identifiziert. Doch der Junge wurde den Tibetern zufolge von der chinesischen Regierung verschleppt. Während Peking einen anderen zum Pantschen-Lama ernannte, fehlt von dem Jungen bis heute jede Spur.

Gebet für ein langes Leben: Der Dalai Lama spricht im November 2016 in Dharamsala.
Gebet für ein langes Leben: Der Dalai Lama spricht im November 2016 in Dharamsala.AFP

Der Pekinger Pantschen-Lama dürfte auch eine Rolle spielen, wenn Peking seine eigene Reinkarnation des Dalai Lamas der Welt vorstellen will. „Der Pantschen-Lama, der von der chinesischen Regierung kontrolliert wird, wird auch vom tibetischen Volk in Tibet selbst nicht anerkannt“, sagt Exilregierungschef Tsering. „Was auch immer sie versuchen, es wird ein betrügerischer Prozess sein, den sie selbst erfunden haben.“

Dabei bemüht sich die Pekinger Führung, dem Prozess durch eigene Rituale den Anschein der Legitimation zu geben. Zum Einsatz kommt unter anderem die sogenannte goldene Urne, aus der per Losverfahren aus einer Reihe von Kandidaten die richtige Person gezogen werden soll. Für Tsering handelt es sich dabei um ein „politisches Werkzeug“ aus der Zeit der Qing-Dynastie, das seit der Einführung Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur in zwei Fällen zum Einsatz gekommen sei. Die Exiltibeter halten es ohnehin für eine Anmaßung, dass die offiziell atheistische chinesische Regierung sich in solche religiösen Fragen einmischt.

Der Dalai Lama hätte die Autorität für eine Annäherung an China

Sie rechnen damit, dass es auch in Tibet selbst zu erheblicher Unruhe kommen könnte, wenn die chinesische Regierung ihre Pläne verfolgt. Im schlimmsten Fall drohe sogar Gewalt, die wiederum eine harte Reaktion des chinesischen Sicherheitsapparats zur Folge haben dürfte, fürchten die Exiltibeter. Informationsministerin Dolma betont aus diesem Grund die „sehr beruhigende Wirkung“, die der Dalai Lama auf die tibetische Freiheitsbewegung habe. Schließlich gebe es unter den Tibetern auch einige Gruppen, die eine komplette Unabhängigkeit von China verfolgten. Dieser Kurs unterscheidet sich von dem „Mittleren Weg“, den der Dalai Lama seit vielen Jahren propagiert und der eine stärkere Autonomie Tibets innerhalb des chinesischen Staatssystems vorsieht.

Die chinesische Regierung täte Dolmas Meinung nach gut daran, mit dem noch lebenden Dalai Lama in Verhandlungen einzutreten. Nur er verfüge über die notwendige Autorität und Legitimität, um die tibetische Gemeinde auf einen möglichen Kurs der Annäherung „mitzunehmen“. Die weltweite Popularität des Friedensnobelpreisträgers des Jahres 1989 liegt auch darin begründet, dass er stets für Gewaltlosigkeit eintritt. Diesem Vorbild sind die Tibeter bisher weitgehend gefolgt. Dabei betont die Ministerin, dass es sich bei den mittlerweile 157 Selbstverbrennungen, mit denen Tibeter in den vergangenen Jahren gegen die chinesische Vorherrschaft protestiert haben, nicht um Gewalttaten handele, die sich gegen andere richteten.

Um sicherzustellen, dass die Tibeter auch nach seinem Tod nicht ohne Führung sind, hatte der Dalai Lama schon 2011 seine politischen Funktionen auf die demokratisch gewählte tibetische Exilregierung übertragen. Aber es könnte durchaus zu einer schwierigen Übergangsphase kommen, in der der alte Dalai Lama gestorben und ein neuer noch nicht gefunden sei, sagt die Informationsministerin Dolma. Dies ließe sich etwa vermeiden, wenn sich der Dalai Lama anstatt für die Reinkarnation für den Weg der sogenannten Emanation entscheiden würde. Damit ist gemeint, dass eine lebende Person noch zu Lebzeiten des jetzigen Dalai Lamas zu seinem Nachfolger erklärt wird. „Wenn dies geschieht, was ich nicht weiß, würde es die Herausforderungen lösen, die sich aus dem anfänglichen Machtvakuum ergeben“, sagt Dolma.

Er wird in der „freien Welt“ wiedergeboren werden

In seiner Ansprache am Mittwoch hat der Religionsführer allerdings keine weiteren Angaben dazu gemacht, ob er eine Reinkarnation oder eine Emanation anstrebt. Exilregierungschef Tsering interpretiert die Erklärung des Dalai Lamas aus dem Jahr 2011 so, dass eine Reinkarnation wahrscheinlicher wäre. Etwas mehr Informationen hat der Dalai Lama mittlerweile dazu gegeben, an welchem Ort er wiedergeboren werden könnte. Während die chinesische Führung insistiert, dass seine Reinkarnation in Tibet selbst gesucht werden müsse, hat der Dalai Lama wiederholt erklärt, dass er außerhalb Chinas wiedergeboren werde. „Wenn Tibet nicht frei ist, wenn China nicht frei ist, dann wird Seine Heiligkeit nicht in China wiedergeboren werden“, bestätigt auch Exilregierungschef Tsering.

In seinem Buch „Eine Stimme für die Entrechteten“ präzisiert das geistliche Oberhaupt der Tibeter dies mit der Angabe, dass der zukünftige Dalai Lama in der „freien Welt“ geboren werde. Schon in der Vergangenheit wurden Lamas in der Mongolei und in Gebieten gefunden, die heute in Indien liegen. Theoretisch könnte es aber auch an einem vollkommen anderen Ort sein. „Seine Heiligkeit wird definitiv kein spezifisches Land nennen, in dem er wiedergeboren werde. Aber manchmal scherze ich mit unseren indischen Freunden, dass sie besser darauf vorbereitet sein sollten, falls er in Indien wiedergeboren wird“, sagt Tsering.

Dem Exilregierungschef zufolge dürfte der Dalai Lama trotz seines fortgeschrittenen Alters noch lange leben. Es gebe verschiedene Zeichen, dass der Dalai Lama sehr alt werde, sagt Tsering. Der Dalai Lama selbst sagt, er habe einmal geträumt, 113 Jahre alt zu werden. Dabei warte die chinesische Regierung regelrecht darauf, dass der gegenwärtige Dalai Lama sterbe, so Tsering. In jedem Falle müssten sich die Exiltibeter auf die Zeit ohne den vierzehnten Dalai Lama vorbereiten, so der Regierungschef. „Natürlich wird die Abwesenheit Seiner Heiligkeit ein großer Rückschlag sein“, sagt er. Die Tibeter sollten „nicht nur mental vorbereitet sein“, sondern auch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die Zeit danach suchen.

Dabei kommt den Exiltibetern die verstärkte weltweite Berichterstattung im Zuge des 90. Geburtstags ihres Religionsführers zugute. Danach dürfte das Interesse an Tibet allerdings wieder schnell abflauen. „Ich hoffe und wünsche mir wirklich, dass diese Aufmerksamkeit auch nach seinem Geburtstag anhält“, sagt die Informationsministerin Dolma. „Denn die Menschenrechtslage in Tibet wird sich nach seinem Geburtstag wahrscheinlich nicht ändern.“ Und auch die Frage, wie es mit der Institution des Dalai Lamas über dessen Tod hinaus weitergeht, wird die Tibeter noch einige Jahre beschäftigen.