Anfang November kursierte folgender Witz im Netz: Deutschland habe nun nicht mehr bloß 80 Millionen Bundestrainer, sondern auch 80 Millionen Bundeswahlleiter. Gerade war die Ampelregierung mit lautem Knall auseinandergeflogen und um einen möglichen Neuwahltermin wurde gestritten. Und wie sonst bei Fußballspielen schienen alle etwas dazu zu sagen zu haben, wie schnell Neuwahlen organisiert werden können.
Tatsächlich hat Deutschland nur eine Bundeswahlleiterin: Ruth Brand. Unter ihr aber gibt es immerhin 16 Landeswahlleiter und darunter 299 Kreiswahlleiter – so viele, wie es Kreise in der Bundesrepublik gibt. Die Kreiswahlleiter sind für die Durchführung des elementarsten Akts in der Demokratie verantwortlich: die Organisation von Wahlen, in denen Bürgerinnen und Bürger ihre Volksvertreter bestimmen.
299 Wahlkreise in Deutschland
An einem Mittwochmorgen empfängt Elena Pfeiffer in ihrem Büro im dritten Stock des Darmstädter Luisencenters, einem Einkaufszentrum, in dem sich auch das Bürger- und Ordnungsamt der Stadt Darmstadt befinden. Sie führt die Abteilung Einwohnerwesen und Wahlen. Das macht Pfeiffer nicht zur Kreiswahlleiterin. Dieses Amt hat Oberbürgermeister Hanno Benz inne, jedoch eher aufsichtführend. Im Maschinenraum von Wahlkreis 185 ist die Neunundzwanzigjährige allerdings Schichtleiterin. Für sie ist es „ein tolles Gefühl, ein Zahnrad in der Demokratie zu sein“.
Aber welche Zahnräder müssen ineinandergreifen, damit Demokratie funktioniert? In den 299 Maschinenräumen einer Bundestagswahl gibt es größere und kleinere, die, ohne zu verkeilen, rotieren müssen. Pfeiffer sagt: „Es ist einem bewusst, wie viel Verantwortung man trägt.“
Auch wenn der Wahltermin, der 23. Februar, noch nicht bestätigt wurde, sind die Vorbereitungen für diesen Tag im Gange. Pfeiffer sagt: Wäre der Termin noch früher angesetzt worden, hätte sie nicht gewusst, wie das umzusetzen gewesen wäre. „Bei einer vorgezogenen Neuwahl zählt jeder Tag“, sagt sie, und fährt gleichzeitig mit dem Cursor über den Computerbildschirm, auf dem ein Programm zur Wahlplanung geöffnet ist. Ihr Büro gleicht einer Kommandozentrale, an der Wand hängt eine Karte mit sämtlichen Wahlbezirken Darmstadts. Es sind 99 Urnenbezirke, dazu kommen 55 für die Briefwahl.
Die Welt der Wahlhelfer
Die Abteilungsleiterin hat viel zu tun. Sie organisiert die Personaleinsatzplanung am Wahltag, dient als Beschwerdestelle und kümmert sich um die Kommunikation mit Parteien, der Presse, der Landeswahlleitung. Für sie ist es die sechste Wahl, die sie organisiert. Was nicht viel ist: Die Kollegin im Büro nebenan kommt auf 64. Trotzdem weiß Pfeiffer genau, was sie tut. Seit Juni 2022 führt sie die Abteilung. Ihr Team, momentan sind es fünf, sei eingespielt.
In einem anderen Büro auf demselben Flur ist Tina Trietsch gerade schwer beschäftigt. Sie bittet trotzdem mit einem gut gelaunten „Willkommen in der Welt der Wahlhelfer“ herein. Trietsch stellt für jeden Wahlbezirk einen Wahlvorstand zusammen, seit fünf Jahren ist sie für die Rekrutierung zuständig. Das Gremium besteht aus einem Vorsteher und einem Schriftführer, die jeweils einen Stellvertreter haben. Dazu können bis zu fünf Beisitzer kommen. Sie überwachen die Wahl in den Wahllokalen und zählen am Ende die Stimmen aus. Für den Wahlkreis Darmstadt, zu dem neben der Stadt noch 14 weitere Kommunen zählen, braucht es etwa 1400 Wahlhelfer.
Aufwandsentschädigung und Pralinen
Trietsch hat dazu einen festen Stamm aus 700 bis 800 freiwilligen Wahlhelfern. Da diese im Schnitt aber 70 Jahre alt sind, strebt sie eine Verjüngung an. Für die Pflichtberufenen geht sie selbst durch das Melderegister und schaut, wer für den Wahlbezirk infrage kommt. Schwangere und Geburtstagskinder wählt sie nicht aus: „Ich bin kein Unmensch“, sagt sie. In ihrem Traumwahlbezirk würden Erfahrene mit Novizen zusammenarbeiten, dazu herrsche Parität bei den Geschlechtern.
Die Arbeit als Wahlhelfer ist verpflichtend. Können keine besonderen Umstände wie etwa Krankheit geltend gemacht werden, droht bei Missachtung ein Bußgeld von 75 Euro. Bei Erscheinen gibt es für Beisitzer 30 Euro, für Schriftführer und Vorsteher je 50 Euro Aufwandsentschädigung. Manch ein Berufener würde genau abwägen, ob er lieber 30 Euro verdient oder 75 bezahlt. Natürlich hat Tina Trietsch auch selbst schon als Wahlhelferin gearbeitet: „Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es ist nicht schlimm.“ Der Wahlkreis 185 legt als Präsent noch eine Packung Merci-Pralinen dazu. Für den Dienst an der Demokratie gilt Dankbarkeit.
Bei einem Besuch im Darmstädter Luisencenter gewinnt man den Eindruck, dass die Zahnräder von Wahlkreis 185 geschmeidig laufen und die Stimmung zuversichtlich ist. Und das, obwohl man sich in einer deutsche Behörde befindet: Gelegentlich streiken die IT-Systeme und der Programmzugriff wird verweigert. Die Arbeit ist in gleichem Maße bürokratisch wie bedeutsam. Auf den Festplatten der Angestellten liegen unzählige Ordner mit noch mehr Excel-Tabellen mit Plänen und PDF-Dokumenten von Rechnungen oder Leitfäden. Manch ein Dateipfad ist verworren. „Man muss es mit Begeisterung machen wollen“, sagt Trietsch.
Winterliche Bundestagswahlen
Dann klingelt ihr Telefon. Eine erfahrene Wahlhelferin sagt ihr für die Bundestagswahl zu. „Schriftführerin waren Sie, gell?“, hakt Trietsch nach. Sie bastelt einen Schichtplan und versucht dabei, auf möglichst viele Wünsche nach Einsatzort und Position einzugehen. Bevor sie den Hörer auflegt, schiebt sie noch etwas hinterher: Wegen der vorgezogenen Wahl laufe es diesmal ein bisschen anders ab, „aber da müssen wir alle durch“.
Anders, da ist auch die Jahreszeit, in der die Vorbereitungen stattfinden. Auf dem Luisenplatz, auf dem das Amt liegt, herrscht Adventsstimmung: Es duftet nach Maronen, eine auf dem Platz aufgestellt Tanne trägt rote Kugeln. Vor Pfeiffers Bürofenster baumelt eine Lichterkette. „Meine Mitarbeiter hätten sich die Weihnachtszeit verdient“, sagt sie.
Im Untergeschoss des Luisencenters, nach einer Aufzugfahrt und gleich neben einem Fitnessstudio, liegt der Wahlvorbereitungsraum. Hinter dessen Tür stapeln sich braune Kartonagen bis unter die Decke. In einen Teil der Kartons werden die eingehenden Wahlbriefe einsortiert. Die restlichen Kartons werden mit Utensilien bestückt, die im Wahllokal gebraucht werden: Schilder mit Pfeilen, die zum Lokal leiten, und Meldelisten mit den im Wahlbezirk wahlberechtigten Personen. Aber auch Handys lagern hier, denn nicht alle Wahllokale haben ein Festnetztelefon. Wahlurnen sind im städtischen Betrieb für kommunale Aufgaben und Dienstleistungen eingelagert.
Sogar eine neue Postleitzahl bekommt Darmstadt für die Wahl. Damit die Wahlsendungen nicht in den normalen Postumlauf gelangen, werden sie durch eine Großkundenpostleitzahl vorsortiert und gehen gesammelt an die Behörde. Ein externer Dienstleister übernimmt den Druck und den Versand der Briefwahlunterlagen. Alles andere wäre nicht zu stemmen. Es wird mit einer zunehmenden Anzahl an Briefwählern gerechnet – dabei liegen zwischen Fertigstellung der Stimmzettel und dem möglichen Wahltermin am 23. Februar nur knapp zwei Wochen. Die Stimmzettel druckt das Land Hessen, vorher müssen die Parteien ihre Kandidaten aufstellen, Kleinstparteien müssen Unterstützerunterschriften sammeln.
Das Hoffen auf hohe Beteiligung
Pfeiffers großer Wunsch für die Wahl ist, dass möglichst viele mitmachen: „Ich habe die Hoffnung, dass die Wahlbeteiligung steigt.“ Über 70 Prozent sollen es im Wahlkreis sein. Bei der letzten Bundestagswahl hatte der Wahlkreis Darmstadt eine überdurchschnittliche Wahlbeteiligung von 78,47 Prozent.
Und wie geht es einem nach einem Wahltag? „Nach dem Sonntag sind wir alle so fertig, dass wir nur noch nach Hause wollen“, sagt Pfeiffer. Sie selbst muss prüfen, ob die Wahlergebnisse, die im System eingehen, stimmig sind. Das amtliche Endergebnis wird erst am Freitag nach der Wahl bekanntgegeben. In Darmstadt sagen sie: Nach der Vorsorge und dem Wahltag folgt die Nachsorge. Danach gehen im Maschinenraum die Lichter aus.