Kyle Chan forscht zu Chinas Industriepolitik und der technologischen Entwicklung des Landes. Er sagt, Chinas Fortschritte seien über die vergangenen Jahre enorm gewesen. Aber um zur Führungsmacht zu werden, sei China auf die Kooperation mit dem Westen angewiesen.

Das bekannteste Beispiel von Chinas technologischem Fortschritt: E-Autos.
In Zukunft wird China technologisch dominieren, und die USA werden irrelevant sein. Das prognostizierte Kyle Chan kürzlich in einem vielbeachteten Gastbeitrag in der «New York Times» und löste damit rege Diskussionen aus. Chan forscht an der Universität Princeton zu Chinas Industriepolitik, Technologie ist einer seiner Fokusbereiche. Und in seinem Artikel legte er dar, was China in Sachen technologischer Entwicklung richtig macht und die USA falsch.
Chan ist eigentlich kein Provokateur. In seinem Newsletter «High Capacity» beschreibt er Chinas technologischen Aufstieg nüchtern und datenbasiert. Zum selben Thema sprach er auch schon vor einem amerikanischen Kongressausschuss, der sich mit sicherheitspolitischen Aspekten von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg beschäftigt.
Warum also plötzlich diese eindringliche Warnung? Haben die Chinesen in den vergangenen Jahren so grosse Fortschritte gemacht? Gehen sie tatsächlich unaufhaltsam der technologischen Dominanz entgegen?
Herr Chan, Ihr Gastbeitrag in der «New York Times» trug den Titel: «In der Zukunft wird China dominieren. Die USA werden irrelevant sein». Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?
Der Titel kam nicht von mir . . . Aber ich habe diesen Beitrag geschrieben, weil ich zwei Länder sah, die sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Ich sah China, das mit Investitions- und Förderprogrammen alles erdenklich Mögliche zu tun versucht, um in verschiedenen Tech-Sektoren aufzuholen, eine führende Kraft zu werden oder in Führung zu bleiben. Gleichzeitig sah ich, wie in den USA entgegengesetzte Massnahmen verfolgt werden. Fördergelder für Universitäten und Forschungseinrichtungen wurden gestrichen. Und es herrscht eine feindliche Stimmung gegenüber Migranten, ausländischen Talenten, die essenziell sind für bahnbrechende Forschung und die Lancierung von Startups. Es ist erschreckend, zuzusehen, wie die USA ihre Führung verspielen, während China rasch aufholt.
China versuchte in den vergangenen Jahren mit weitreichender Industriepolitik technologisch aufzuholen, etwa mit der 2015 lancierten Initiative «Made in China 2025». Wie erfolgreich war China damit?
Mit dieser Initiative wollte China bei verschiedenen Schlüsseltechnologien unabhängig und global führend werden. Sie vereinte verschiedene industriepolitische Strategien, die China teilweise schon lange zuvor verfolgt hatte. Heute lässt sich sagen: Besonders im Bereich Clean-Tech wurde China zu einem globalen Vorreiter. Bei Wind- und Solarenergie, bei E-Autos und Batterien, bei Energieinfrastruktur. Ähnlich führend ist China heute auch bei Telekommunikationsequipment. Und in Bereichen wie Industrieautomatisierung oder künstlicher Intelligenz (KI) ist China zwar noch nicht führend, aber es hat grosse Fortschritte gemacht.
Wo hat China seine Ziele verfehlt?
Beispielsweise im Bereich der Computerchips. Da ist es besonders schwierig, aufzuholen, weil sich die Technologie ständig weiterentwickelt. Dort könnte sich die Lücke zwischen China und dem Rest der Welt noch weiter vergrössern. Denn westliche Unternehmen können anders als chinesische die neusten Maschinen und Prozesse nutzen. Wegen der amerikanischen Exportkontrollen müssen die Chinesen versuchen, mit älterer Technologie Fortschritte zu erzielen. Sie müssen immer mehr Geld und Ressourcen aufwenden, kommen damit aber immer weniger weit.
China will bei Schlüsseltechnologien weltweit führend und zugleich unabhängig vom Westen sein. Vertragen sich diese beiden Ziele überhaupt?
Die Ziele, global zu dominieren und technologisch unabhängig zu sein, laufen sich oft zuwider. Schauen Sie sich beispielsweise chinesische E-Autos an. Chinesische Autobauer dominieren den Markt. Aber gleichzeitig sind sie immer noch auf Computerchips westlicher Hersteller angewiesen. Es ist schwierig, in diesem Zielkonflikt zwischen globalem Führungsanspruch und technologischer Unabhängigkeit eine Balance zu finden: Wollen Sie heute Marktführer sein? Oder tätigen Sie Investitionen längerfristig und lenken Ressourcen um, um eine unabhängigere Lieferkette aufzubauen?
In Ihrem Newsletter «High Capacity» schreiben Sie, Chinas Aufstieg werde dadurch begünstigt, dass die verschiedenen Tech-Sektoren stark voneinander profitierten. War diese Entwicklung vom Staat beabsichtigt, oder kam sie durch Zufall zustande?
Beides. Zum einen war es ein bewusster Entscheid der Regierung, zum anderen hängen die Effekte mit den Technologien selbst zusammen. Die chinesische Regierung nutzte gezielt industriepolitische Massnahmen, um sogenannte Spillover-Effekte zu generieren. Das heisst: Erfolge in einem Sektor sollten auf andere «überschwappen». Als die Regierung den Fokus beispielsweise auf die E-Auto-Industrie legte, ging sie von Beginn an davon aus, dass die Fortschritte in dem Sektor auf andere überschwappen würden. Und so kam es auch: Zum Beispiel wurde die Batterietechnologie weiterentwickelt. Und davon profitierten wiederum nicht nur E-Autos, sondern auch Systeme zur Speicherung von erneuerbaren Energien und Unterhaltungselektronik.
Haben Sie weitere Beispiele?
Die Regierung förderte den Schiffbausektor. Das machte China zum weltweit führenden Schiffbauer. Gleichzeitig generierte die Massnahme eine hohe Stahlnachfrage, und diese wiederum befeuerte die Nachfrage für industrielle Automatisierung.
Es ist schwer vorstellbar, dass ein Staat all das exakt planen kann.
Ich glaube nicht, dass die chinesische Regierung all die verschiedenen Tech-Cluster genau so geplant hatte, wie sie sich letztlich entwickelt haben. Aber Peking hat schon immer auf Spillover-Effekte hingearbeitet, beispielsweise auch beim Aufbau der landesweiten Infrastruktur. Bei der Technologieförderung wollten Entscheidungsträger Know-how in bestimmen Städten und urbanen Regionen konzentrieren und so eine kritische Masse schaffen, die sich selber verstärkt.
Wie haben die Technologien selbst zu diesen Spillover-Effekten beigetragen?
Auf Basis einer Technologie kann man verschiedene Produkte entwickeln. Beispielsweise dient elektrische Antriebstechnologie verschiedenen Zwecken. Sie ist nützlich beim Bau von Elektrogeräten, E-Autos, Robotern oder bei der Automatisierung von industriellen Prozessen. China ist es gelungen, bei verschiedenen solchen Technologien eine heimische Produktion aufzubauen. Und davon profitieren in der Folge chinesische Unternehmer, die etwa ein Startup für Drohnen oder autonome Systeme gründen. Sie haben die nötigen Technologien in unmittelbarer Nähe, zu erschwinglichen Preisen.
Bei Drohnentechnologie ist China mittlerweile weltweit führend.
Wo liegen die Grenzen der staatlich gelenkten Technologieförderung?
China stösst dort an Grenzen, wo es dem Land nicht gelingt, an die Schlüsseltechnologien zu gelangen oder diese zu entwickeln. Das sahen wir beispielsweise beim Verbrennungsmotor. Das sehen wir derzeit bei der Computerchip-Herstellung und im Flugzeugbau. China ist immer noch auf westliche Maschinen zur Chipproduktion und Flugzeugtriebwerke angewiesen. Das Thema Schlüsseltechnologie ist eine Obsession der chinesischen Politik.
Gibt es weitere Schwächen der chinesischen Industriepolitik?
Die Regierung versucht, viele staatliche Ressourcen, Geld und Talent auf bestimmte Sektoren zu fokussieren. Aber wenn Sie nicht in diesen Feldern tätig sind, fühlen Sie sich aussen vor gelassen.
Haben Sie ein Beispiel?
KI.
Wie bitte?
Die Veröffentlichung von Chat-GPT im November 2022 war ein Weckruf für China. Abermals handelte es sich um etwas, das ausserhalb Chinas entwickelt wurde. Die Stimmung in der chinesischen Tech-Welt war: «Wir haben es wieder verpasst. Wir sind nicht zu Erfindungen fähig.» Bis zu Chat-GPT wurde generativer KI in China kaum staatliche Aufmerksamkeit zuteil, vielmehr fürchtete sich die Regierung vor der Technologie. Stattdessen lag der Fokus in China zunächst auf Bilderkennung und Industrieanwendungen. Das Beispiel generative KI zeigt: In China entsteht kaum je etwas Neues in einem Bereich ausserhalb von Pekings Fokus.
Mittlerweile hat China aber aufgeholt bei generativer KI.
Nach der Veröffentlichung von Chat-GPT wurde die Technologie zu einer Priorität der Regierung, und kaum hatte sie politische Unterstützung, zog sie enorme Ressourcen an. Als «fast follower» hat China rasch aufgeholt. Aber wegen der Probleme im Computerchip-Bereich stösst China an Grenzen. Es ist wie in einem Wettrennen: Der chinesische Chipdesigner Huawei beschleunigt zwar. Doch der amerikanische Chipdesigner Nvidia liegt vorne und beschleunigt noch stärker. Bleibt das so, macht China zwar Fortschritte, aber kann die USA nie einholen.
Im Smart Valley bei Schanghai sollen sich die wichtigsten KI-Firmen niederlassen.
Gilt das für das gesamte Technologie-Wettrennen zwischen den beiden?
Computerchips bilden im Wettrennen zwischen den USA und China eine Ausnahme, wenn auch eine essenzielle. Für den allgemeinen Stand des Rennens lässt sich sagen: Die USA sind es gewohnt, in Führung zu liegen und in einem Tempo zu laufen, das niemand mitgehen kann. Doch China holt immer schneller auf, während die USA über ihre eigenen Füsse stolpern. Viele Leute realisieren nicht, wie stark China bei zahlreichen Technologien beschleunigt hat. China hat die USA bereits in einigen Bereichen eingeholt und überholt, und es könnten immer mehr dazukommen. Währenddessen bremsen sich die USA selbst aus.
Welche Hindernisse behindern Chinas Fortschritt mehr, internationale oder nationale?
Chinas staatlich gesteuerte Technologieförderung hat viele Einschränkungen und überbordende staatliche Kontrolle. Peking überlegte beispielsweise zeitweise, den Zugang zur weltweit führenden Softwareentwicklungsplattform Github zu sperren, aus Angst, die Inhalte der Plattform nicht kontrollieren zu können. Das hätte chinesische Softwareentwickler enorm beeinträchtigt. Und dann kommt es natürlich immer wieder vor, dass die Regierung auf die falsche Technologie oder das falsche Projekt wettet und so Ressourcen verschwendet.
Wie schwer wiegen die internationalen Hindernisse wie die Exportkontrollen?
Die Exportkontrollen sind da das offensichtlichste Hindernis. Aber noch mehr ins Gewicht fällt für mich die Tatsache, dass sich zahlreiche westliche Länder und Unternehmen davor fürchten, mit China zusammenzuarbeiten. China ist immer noch sehr abhängig von westlicher Technologie. Käme es zu einer weitreichenden Entkoppelung zwischen dem Westen und China, verlöre China vieles: Zugang zu wichtigen Lieferketten, zu Technologien und zu Talenten. Das würde Chinas technologischen Fortschritt stark bremsen. Denn selbst für China ist es unmöglich, ganz alleine zur technologischen Führungsmacht aufzusteigen.
Wie wird Chinas technologischer Aufstieg in den nächsten Jahren weitergehen?
China wird in verschiedenen Tech-Industrien die globale Führung übernehmen, etwa bei der industriellen Automatisierung. In den Bereichen, in denen China noch zurückliegt, setzt es alles daran, aufzuholen.
Wird China in Zukunft dominieren, wie das der Titel Ihres eingangs erwähnten Gastbeitrags ankündigt?
Heute scheint das sicherlich wahrscheinlicher als noch vor ein paar Monaten.