Wenn „die Polin“ lieber in Polen arbeitet

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Falls Oma mal nicht mehr kann, wird „eine Polin“ engagiert. Zur Ernte holen wir eben „ein paar Rumänen“. Dass Menschen aus Osteuropa hierzulande elementare Arbeit leisten, wird oft mit ungemeiner Selbstverständlichkeit hingenommen. Einige Nationalitäten avancierten gar unfreiwillig zum Synonym für bestimmte Tätigkeiten. Dieser Umstand allein lässt darauf schließen, dass es am gebotenen Respekt zuweilen mangelt.

Festzuhalten ist jedenfalls: Ob in der Pflege oder in der Landwirtschaft, Menschen aus Osteuropa waren lange eine feste Stütze des deutschen Arbeitsmarktes. Sie bremsten Folgen des demographischen Wandels, trugen zur Fachkräftesicherung bei. Oft sind sie schlicht die kostengünstige Alternative. Aber das ändert sich, denn immer weniger Menschen kommen aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, um in Deutschland zu arbeiten.

Für Deutschland durchaus ungewöhnlich

Im vergangenen Jahr war die sogenannte Nettozuwanderung in Deutschland nicht nur rückläufig, sondern sogar negativ. Mit Nettozuwanderung meinen Statistiker das Saldo aus Zuzügen und Fortzügen in einem bestimmten Land. Das zeigen die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes: Erstmals seit 2008 sind mehr Menschen in andere EU-Staaten abgewandert als von dort zugezogen. Das ist für ein reiches Land wie Deutschland durchaus ungewöhnlich. Ein maßgeblicher Faktor waren die schwachen Zuzüge aus ebenjenen Ländern Osteuropas, den Ländern der EU-Osterweiterung. Damit spitzt sich eine Entwicklung zu, die sich schon seit Längerem abzeichnet.

2004 trat Polen der europäischen Union gemeinsam mit anderen Ostländern als Vollmitglied bei, Bulgarien und Rumänien folgten zum Januar 2007. Infolgedessen wurden Hürden abgebaut, das Arbeiten in Westeuropa wurde einfacher, und die Zuzüge stiegen stark an. Zu den Spitzenzeiten zwischen 2011 und 2015 kamen jedes Jahr 207.000 Menschen aus Ländern der EU-Osterweiterung nach Deutschland. Seither sind die Zahlen drastisch zurückgegangen. Das zeigt eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft vom Mai 2025.

Für den Ökonomen Thomas Liebig hat das unterschiedliche Gründe. Liebig ist Experte für Arbeitsmigration und Demographie bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Viele Menschen, die sich vorstellen konnten, in Deutschland zu arbeiten, hätten das inzwischen schlicht getan, sagt der Ökonom. Das Potential sei also weitgehend ausgeschöpft. Gleichzeitig kämen aber weniger junge Menschen nach, weil sich gerade auch in diesen Ländern Osteuropas der demographische Wandel zunehmend bemerkbar macht, teilweise stärker als in Deutschland.

Deutschland verliert an Attraktivität

„Arbeitsbezogene Migration ist außerdem immer stark von der relativen Situation geprägt“, sagt Liebig. „Das heißt, hier geht es um die Situation in den Ursprungsländern gegenüber Deutschland, und die hat sich sehr stark angeglichen.“ Einerseits habe die Migration aus den osteuropäischen Ländern dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeit vor Ort zurückgegangen ist. Gleichzeitig habe es in diesen Ländern einen starken wirtschaftlichen Aufschwung gegeben. „In einigen dieser Länder sind die Arbeitslosenquoten jetzt niedriger als in Deutschland. Wir haben da einen richtigen Boom.“ Gerade in Polen sei das Wirtschaftswachstum groß, während Deutschland etwas an Attraktivität verliere.

Dass sich Ost und West in der Europäischen Union ökonomisch angleichen, ist generell eine gute Entwicklung, eine, die auch politisch erwünscht war und ist. Binnenmigration und Personenfreizügigkeit hatten daran einen großen Anteil, das ist für Thomas Liebig offensichtlich. „Die Leute sind aus Gegenden in Polen mit hoher Arbeitslosigkeit in andere Länder gezogen, in denen es einen hohen Arbeitskräftebedarf gab. Damit wurden die Ungleichgewichte in Europa ausgeglichen.“

Für die Menschen selbst war das aber auch mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Oft kamen Leute mit guten Abschlüssen, hoch qualifiziert, die dann in Deutschland als Erntehelfer gearbeitet haben. Das heißt, viele Osteuropäer waren überqualifiziert und haben hierzulande unter ihren Möglichkeiten gearbeitet. „Das Modell hat ein paar Jahre lang funktioniert, als es da drüben keine guten Arbeitsmarktchancen gab, aber das funktioniert so nicht mehr“, bilanziert Liebig.

Working-Holiday-Visa wie in Australien oder Kanada

In Deutschland droht nun eine Lücke, die sukzessive größer wird, je mehr die Zuzüge aus den Ostländern versiegen. Fachleute rechnen damit, dass Deutschland auf eine jährliche Zuwanderung von mehr als 300.000 Menschen angewiesen ist, um künftig den Arbeitskräftebedarf zu decken. In der Vergangenheit geschah dies meist durch ebenjene Personen aus Mittel- und Osteuropa. Sofern sie wollten, konnten sie – der EU-Freizügigkeit sei Dank – ohne viel Bürokratie kommen. Will man für diese Nischen im Arbeitsmarkt nun vermehrt Menschen aus Drittstaaten anheuern, wird das komplizierter, die Hürden sind deutlich größer.

Die Politik hat das Problem durchaus erkannt, sagt der OECD-Forscher und verweist auf die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes (FEG), die im November 2023 in Kraft getreten ist. „Es gibt jetzt eine Reihe von Regelungen, die dafür sorgen, dass auch die mittel und niedriger qualifizierte Migration aus Drittstaaten erleichtert wird.“ Damit zielt die Reform also ein Stück weit genau auf jene Bereiche des Arbeitsmarktes, die gerade von Osteuropäern abgedeckt wurden. Aber trotzdem bleibe besonders der niedrig qualifizierte längerfristige Bereich eine Schwachstelle des FEG. „Wenn Sie viele Erntehelfer suchen oder einen großen Skibetrieb haben, dann funktioniert das. Brauchen Sie aber nur ein oder zwei Arbeitskräfte und dazu für ein ganzes Jahr, zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe, wird das schwieriger.“

„Das Hauptproblem ist: Wie bringen Sie die Fachkräfte aus den Drittstaaten hierher, dass sie sich mit einem deutschen Arbeitgeber zusammentun können.“ Liebig plädiert dafür, vermehrt auf Working-Holiday-Visa zu setzen. Bekannt ist das vor allem aus Australien oder Kanada, so können junge Menschen ein Jahr lang in einem Land leben oder arbeiten. Das sei eine recht unbürokratische Lösung. Wenn die Menschen dann bleiben wollen, einen Job haben und die Sprache können, sei das in der Regel möglich. In Deutschland habe man dafür das Job-Seeker-Visum, die sogenannte Chancenkarte, eingeführt. „Ich hätte mir da aber eine einfachere Lösung gewünscht. Dass man eher quotierte Abkommen mit bestimmten Ländern aushandelt, die Zugänge dafür für Personen mit Deutschkenntnissen noch weiter erleichtert.“ Aber da sei das letzte Wort vielleicht noch nicht gesprochen.