Arbeitgeber für Pflege-Karenzzeit: Denkanstoß für „große Pflegereform“

11

Die deutschen Arbeitgeber schlagen eine radikale Reform der Pflegeversicherung vor, um Unternehmen und Beschäftigte als Beitragszahler nicht noch stärker zu belasten. Eine der neuen Sparempfehlungen lautet, dass Bedürftige im ersten Betreuungsjahr je nach Pflegegrad noch keine größeren Leistungsansprüche an die Pflegekassen haben sollten. Es müsse eine „Karenzzeit“ gelten, heißt es in den noch unveröffentlichten Plänen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) für eine Pflegereform 2026. Mit solchen Karenzzeiten ließe sich etwa ein Zehntel der Pflegeausgaben sparen, mehr als sechs Milliarden Euro im Jahr.

Ähnlich wie in der Rentenversicherung müsse das System außerdem um einen „Nachhaltigkeitsfaktor“ ergänzt werden, damit die Abgaben nicht aus dem Ruder liefen, sobald die Zahl und die Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen überproportional stark stiegen. Die BDA fordert überdies, versicherungsfremde Leistungen aus dem Bundeshaushalt und nicht länger aus den Beiträgen zu finanzieren. Allein die Übernahme der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige könnte die Kassen um vier Milliarden Euro im Jahr entlasten.

Auch müssten die Bundesländer endlich „vollumfänglich“ ihren Investitionspflichten für die Pflegeheime nachkommen. Dadurch sänke der Eigenanteil jedes Heimbewohners von durchschnittlich 3000 Euro um fast 500 Euro im Monat. Weitere 133 Euro sparte er, nähmen ihm die Länder die Beteiligung an den Kosten für die Ausbildung der Pflegekräfte ab. Die Krankenkassen sollten laut BDA die Finanzierung der von einem Arzt verordneten medizinisch notwendigen Behandlungspflege übernehmen. Das würde die Pflegekosten um drei Milliarden Euro im Jahr senken.

BDA: „Entlastungsbetrag“ von 131 Euro im Monat streichen

Darüber hinaus gelte es, den „Entlastungsbetrag“ von 131 Euro im Monat zu streichen, mit dem Pflegebedürftige Dienste im Garten oder Haus bezahlen können, darunter Putzen, Kochen, Waschen. Diese Ausgaben seien den Empfängern zumutbar, der Zuschuss lade zu Mitnahmeeffekten ein und summiere sich auf 3,4 Milliarden Euro im Jahr. Weiter will die BDA die von den Pflegekassen bezahlten Leistungszuschläge für Heimbewohner zur Begrenzung der Eigenanteile auf solche Personen beschränken, die zwei oder mehr Jahre stationär versorgt werden.

Alle bezifferten Vorschläge summieren sich für die Pflegekassen nach Berechnungen der F.A.Z. auf Einsparungen von mehr als 16 Milliarden Euro im Jahr, das wären 23 Prozent der Gesamtausgaben 2024 von vorläufig 68,2 Milliarden Euro. Die Eigenanteile der Heimbewohner könnten sich um mehr als 20 Prozent auf rund 2370 Euro im Monat verringern.

Das zwölfseitige Verbandspapier mit dem Titel „Für eine leistungsfähige und finanzierbare Soziale Pflegeversicherung“ (SPV) liegt der F.A.Z. exklusiv vor. Es dient als Denkanstoß für die im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbarte „große Pflegereform“. Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) setzt dazu an diesem Montag eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein. Das Gremium soll bis zum Jahresende Vorschläge unterbreiten, wie die Pflege bezahlbar bleiben kann.

Aus Sicht der Ministerin soll die Pflegeversicherung weiterhin nicht alle Risiken abdecken, sondern eine „Teilkasko“-Versicherung bleiben. Damit erteilte sie Forderungen von Wohlfahrtsverbänden und linken Politikern eine Absage, die eine „solidarische Vollversicherung“ anstreben, in die jedermann einzahlen müsse. Dagegen stemmen sich auch die Arbeitgeber.

„Finanzielle Lasten gerecht zwischen den Generationen verteilen“

„Bundesgesundheitsministerin Warken hat recht: Die Pflegeversicherung kann nur fortbestehen als Teilkaskoversicherung, mit Umverteilungsphantasien ist das System nicht zu retten“, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der F.A.Z. „Ohne tiefgreifende Reformen drohen drastische Beitragssteigerungen zulasten der jungen Generation, der Betriebe und des Standorts.“ Leistungen, die nicht zur Pflege gehörten – neben den Rentenansprüchen für Angehörige auch die pandemiebedingten Sonderkosten –, müssten aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. „Auch ein Nachhaltigkeitsmechanismus wie in der Rente muss kommen, um die finanziellen Lasten gerecht zwischen den Generationen zu verteilen“, verlangte Kampeter.

Ein Nachhaltigkeitsfaktor sorgt dafür, dass geplante Leistungsausweitungen nicht vollständig auf die Beitragszahler zurückfallen, wenn deren Zahl langsamer zunimmt als die der Empfänger. Die BDA schlägt für die Pflege den Faktor 0,5 vor – in der Rente beträgt er 0,25 –, sodass die rechnerisch zunehmende Belastung nur zur Hälfte an die Erwerbstätigen und ihre Arbeitgeber weitergegeben würde. Die Leistungen für die Pflegebedürftigen müssen dann entsprechend langsamer steigen. So ließen sich die impliziten Schulden der sogenannten Nachhaltigkeitslücke – die Differenz zwischen künftigen Pflegekosten und erwarteten Kasseneinnahmen – von 90 auf 71 Prozent der Wirtschaftsleistung verringern, hieß es.

Kampeter stellte klar, dass die vor 30 Jahren eingeführte Pflegeversicherung nur existenzielle Risiken absichern könne, „nicht jeden Unterstützungsbedarf“. Damit das System weiterbestehe, seien „Karenzzeiten, Eigenvorsorge und gezielte Zuschläge die Grundvoraussetzung: weil sie realistisch und solidarisch zugleich sind“. So sollten die Kassen – gestaffelt nach Pflegegraden – im ersten Jahr der Feststellung der Pflegebedürftigkeit noch keine Leistungen erbringen außer Beratung, Schulung der Angehörigen und der Verbesserung des Wohnumfelds. Nur auf diese Weise lasse sich die immer längere Pflegedauer finanzieren: 2023 verstorbene Bedürftige seien im Durchschnitt 3,9 Jahre gepflegt worden und hätten die Kassen 50.000 Euro gekostet. Für jetzige Leistungsempfänger sei indes mit 7,5 Jahren und 76.000 Euro zu rechnen.

Die Soziale Pflegeversicherung kam bis zur Pandemie ohne Bundeszuschüsse aus. Jetzt decken die Einnahmen die Ausgaben nicht mehr. 2024 entstand ein Defizit von mehr als 1,5 Milliarden Euro. Obwohl der Beitragssatz Anfang des Jahres um 0,2 Prozentpunkte stieg, gab es im ersten Quartal 2025 eine neue Lücke von 90 Millionen Euro. Der Beitragssatz wurde in nur zehn Jahren von weniger als 2,4 Prozent auf 3,6 Prozent angehoben. Hinzu kommt ein Zuschlag für Kinderlose von 0,6 Prozentpunkten. Zur Beitragsstabilisierung sind im Etatentwurf von Finanzminister Klingbeil für 2025 und 2026 Darlehen von zwei Milliarden Euro vorgesehen. Trotzdem befürchtet Warken für 2026 abermals ein Defizit von zwei Milliarden Euro. Der Bundesrechnungshof sieht noch größere Lücken. Er warnt vor einem Fehlbetrag von 12,3 Milliarden Euro bis 2029. Das geht nach Angaben der „Bild am Sonntag“ aus einem Bericht hervor, den der Rechnungshof vor den Etatberatungen im Bundestag an die Haushälter verschickt habe. Schon 2026 sei mit einem Defizit der Pflegekasse von 3,5 Milliarden Euro zu rechnen. Die Prüfer stützten sich auf Pro­gnosen des Gesundheitsministeriums.

Die Arbeitgebervereinigung weist darauf hin, dass die Pflegekassen relativ betrachtet den stärksten Beitragsanstieg aller Sozialversicherungen verzeichneten. Diese Schieflage drohe sich fortzusetzen: Aufgrund der Überalterung und eines breiten Begriffs von Pflegebedürftigkeit werde die Zahl der Leistungsbezieher bis 2045 von 5,8 auf 7,2 Millionen Personen steigen. Schon 2035 dürfte der Beitragssatz 4,5 statt derzeit 3,6 Prozent erreichen. Dann drohe eine Belastung aller Sozialversicherungen von 49 Prozent auf das versicherungspflichtige Einkommen, gegenüber heute 42,5 Prozent. Die Pflege sei alles andere als „enkelfit“, schreibt die BDA.