Wann die Freiwilligkeit zur Pflicht wird

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Boris Pistorius musste lange warten. Jetzt hat er die Eckpunkte für seinen Gesetzesentwurf zu einem neuen Wehrdienstmodell vorstellen können, mit dem er dem dramatischen Personalmangel bei der Bundeswehr begegnen will. Doch schon gibt es beim Koalitionspartner Zweifel: Wird dieses Gesetz der Lage gerecht? Oder wird nur weiter Zeit verspielt, während die Russen rasant aufrüsten?

Der Gesetzesentwurf hat eine lange Vorgeschichte. Es ist auch eine Geschichte des sozialdemokratischen Ausbremsens und Haderns. Der frühere Bundeskanzler Olaf Scholz, genau wie Pistorius ein Sozialdemokrat, hatte nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zwar die Zeitenwende ausgerufen. Aber mit der Einführung einer Wehrpflicht war das zunächst nicht verknüpft. Der Verteidigungsminister reiste im Frühjahr 2024 durch Skandinavien, zeigte sich besonders vom schwedischen Modell der Wehrpflicht beeindruckt und kündigte an, sein eigenes Wehrdienstmodell vorzulegen. Als Scholz aber wenig später in Stockholm vor der Presse stand, ließ er auf eine Frage dazu wissen, es gehe dabei „um eine überschaubare Aufgabe, die wir in Deutschland bewältigen müssen“.

Kurz danach, Ende Mai vergangenen Jahres, legte Pistorius Eckpunkte für sein Modell vor, dass dann ebenso überschaubar blieb – es war kaum mehr als ein Ausbau des freiwilligen Dienstes bei der Bundeswehr. Dann zerbrach die Ampel, der Bundestag wurde neu gewählt, und Pistorius fand sich an der Seite eines Koa­litionspartners wieder, der nun auf verpflichtende Elemente bei dem Wehrdienstmodell drängte. Die Zweifel bei seinen Parteifreunden aber blieben, wie sich gerade erst beim Parteitag der Sozialdemokraten gezeigt hat.

Dreißig Kasernen seit 2011 geschlossen

Am Montagabend hat Pistorius der SPD-Fraktion seinen Gesetzesentwurf für einen neuen Wehrdienst vorgestellt. Nach der Sommerpause soll sich der Bundestag damit beschäftigen, in Kraft treten könnte der neue Wehrdienst damit zu Beginn des nächsten Jahres. Schon kurz nach der Vorstellung des Entwurfs aber ist klar: der Koalitionspartner wünscht sich mehr vom Verteidigungsminister.

Die politische Diskussion beim Wehrdienst dreht sich weiter um die Frage: Wie viel Freiwilligkeit und wie viel Zwang wird es geben? Der Verteidigungsminister hat sich für eine Mischung entschieden, in Anlehnung an das „Schwedische Modell“ – mit der Hoffnung, dass es keinen Zwang braucht. Aber auch für diesen Fall ist im Gesetzesentwurf vorgesorgt. Unter bestimmten Voraussetzungen soll die Einberufung von Wehrpflichtigen möglich sein. Übersehen wird ja oft auch, dass das schwe­dische Modell explizit eine Wehrpflicht ist, nur dass am Ende lediglich ein Bruchteil eines Jahrgangs gebraucht und eingezogen wird – und diese Zahl durch die freiwilligen Meldungen erreicht werden kann.

Ganze Jahrgänge kann und will die Bundeswehr auch nicht zum Dienst einziehen – dafür fehlt schon die Infrastruktur, angefangen bei den Kasernen. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 wurden mehr als 30 geschlossen, andere müssen saniert werden. So will die Bundeswehr mehr Wehrdienstleistende gewinnen: Alle jungen Erwachsenen, die nach dem 31. Dezember 2007 geboren sind, werden von der Truppe angeschrieben. Die Männer müssen im Internet dann einen Fragebogen ausfüllen, die Frau­en können es freiwillig tun. Es geht um persönliche Daten, Gewicht, Größe, Bildungsabschluss, Gesundheitszustand. Und die Frage: Haben Sie Interesse an einem Wehrdienst? Die Hoffnung im Verteidigungsministerium ist, dass schon durch die Auseinandersetzung mit dem Thema das Interesse steigt.

Röttgen: Es fehlen 90.000 Soldaten bis 2035

Im Laufe des Jahres 2027 soll dann eine Musterung eingeführt werden, bis es entsprechende Strukturen gibt. Gemustert werden können auch die Männer, die kein Interesse am Wehrdienst geäußert haben. Die Musterung soll aber nicht mehr an das peinliche Ritual früherer Zeiten erinnern. Das Ziel ist, dass die Bundesregierung überhaupt einen Überblick darüber bekommt, wie viele Wehrpflichtige wirklich für den Wehrdienst zur Verfügung stehen. Der soll dann erst einmal sechs Monate dauern. Es wird für Kriegsdienstverweigerer auch wieder ei­nen Zivildienst geben, der außerhalb der Bundeswehr geleistet werden kann. Allerdings ist das nur dann möglich, wenn vorher eine Verschärfung der Lage eingetreten ist: Der Bundestag beschließt, dass Wehrdienstpflichtige verpflichtend einberufen werden können.

Wann aber wird aus dem freiwilligen Dienst ein verpflichtender? Das passiert in zwei Fällen laut Gesetzentwurf. Wenn sich entweder nicht rechtzeitig genug Freiwillige melden. Was das in Zahlen heißt, sagt das Verteidigungsministerium allerdings nicht. Oder es kommt dann zur Pflicht, wenn das die verteidigungspoli­tische Lage erfordert. Es hängt also von der Einschätzung der Bundesregierung und dem Bundestag ab. Für die verpflichtende Einziehung ist es nicht er­forderlich, dass der Spannungs- und Konfliktfall ausgerufen wird. Da das im bestehenden Gesetzesentwurf schon angelegt ist, braucht es im Fall der Fälle kein weiteres Gesetz. Bundesregierung und Bundestag könnten von heute auf morgen handeln, sofort.

DSGVO Platzhalter

Hier allerdings setzt die Kritik vom Koalitionspartner an. Bei der Union hätte man sich klare Vorgaben gewünscht zu den Zeitpunkten und Zahlen, die das Pflichtelement auslösen. „Die Vorschläge von Pistorius für den neuen Wehrdienst werden seiner eigenen sicherheitspolitischen Bedrohungsanalyse nicht gerecht“, sagte der für Außen- und Sicherheitspolitik zuständige stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Norbert Röttgen der F.A.Z.

Die Einschätzung des Ministers sei, dass Russland in vier bis fünf Jahren militärisch in der Lage sein werde, in Europa einen großräumigen Krieg zu führen. In der NATO hat Deutschland zugesagt, bis 2035 die Zahl der aktiven Soldaten auf 260.000 und die der Reservisten auf 200.000 zu erhöhen. „Die stehenden Streitkräfte umfassen zur Zeit 170.000 Zeit- und Berufssoldaten“, rechnet er vor. „Es fehlen also 90.000 bis 2035.“ Daraus folgert Röttgen: „Angesichts des enormen Aufholbedarfs in kurzer Zeit ist es unerlässlich, dass in dem Gesetz klare Zielmarken formuliert werden, die zu bestimmten Zeitpunkten zu erreichen sind.“ Es müsse zudem ein Zeitpunkt festgelegt werden, wann im Falle der Nichterreichung der Ziele der im Koalitionsvertrag vereinbarte Übergang von der Freiwilligkeit zur Wehrpflicht stattfindet.

Wehrdienstleistende sollen mehr als 2000 Euro netto erhalten

Schon bei den Koalitionsverhandlungen hatten Union und SPD um das Pflichtelement gerungen. Herausgekommen ist der Satz im Koalitionsvertrag: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Was dieses „zunächst“ bedeutet, wird seitdem intensiv diskutiert. Röttgen sagt: „Dieser Übergang muss geknüpft an Voraussetzungen schon in diesem Gesetz geregelt werden.“ Deutschland könne es sich nicht mehr leisten, weiter Zeit zu vergeuden. „Wir brauchen jetzt nachprüfbare, klare Schritte, um verteidigungsfähig zu werden.“

Pistorius hofft, dass es das Pflichtelement nicht brauchen wird. Schon weil der neue Dienst so attraktiv sein soll. So hofft der Minister, auch die eigene Partei an Bord zu halten. Dort gibt es, vor allem von den Jusos, erhebliche Widerstände gegen jegliche Pflicht. Und noch ein anderes Problem droht: Sollte die Pflicht gelten, ist mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht wegen fehlender Wehrgerechtigkeit zu rechnen.

Vor allem das Geld soll helfen, es auch ohne Pflicht zu schaffen: Der Sold der Wehrdienstleistenden soll bei mehr als 2000 Euro netto liegen, das ist eine große Steigerung von bis zu 80 Prozent im Vergleich zu früher. Im Verteidigungsministerium geht man davon aus, dass so nicht nur die Reserve aufgestockt, sondern auch die aktive Truppe profitieren wird.