Vereine erklären, wie man am besten den Kriegsdienst verweigert

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Sonntag Morgen in Kassel. Vor dem Stadtteilzentrum ragt eine riesige aufblasbare Figur zweier Hände in den Himmel, die ein Gewehr zerbrechen. An der Tür steht: „Verweigert! Kongress gegen einen neuen Wehrdienst“. Drinnen erklären zwei ergraute Herren einem ergrauten Publikum, wie man am besten den Kriegsdienst verweigert. Zum Beispiel solle man in der Begründung nicht ausführlich schreiben, wie schlimm ein Atomkrieg wäre, denn es müsse um jeden Krieg gehen: „Die Gewissensentscheidung muss universell sein!“ Ein Mann aus dem Publikum – lange weiße Haare, langer weißer Bart – wirft ein, früher habe man ja auch nicht schreiben sollen, dass man in der DDR Verwandte habe und fürchte, im Kriegsfall auf sie schießen zu müssen.

Solche Menschen und Argumente sind nicht so veraltet, wie sie wirken. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, aber Politiker, vor allem aus der Union, betonen zuletzt immer stärker, dass sich das bald ändern könnte. Der Wehrbeauftragte Henning Otte von der CDU sagte kürzlich: „Wenn die Notwendigkeit besteht, von Freiwilligkeit auf verpflichtend zu schalten“, dann werde er das auch einfordern. Kanzler Friedrich Merz erklärte: Reiche die Freiwilligkeit nicht aus, seien „sehr bald zusätzliche Schritte“ nötig. Und wenn die Wehrpflicht käme, wären die hier versammelten Männer und ihr Verein wieder gefragt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Potentielle Mitglieder gibt es genug: 40 Prozent der Deutschen sind gegen eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Bei denen unter 30 sind es einer anderen Erhebung zufolge fast 70 Prozent. Und schon jetzt gibt es Kriegsdienstverweigerer. Weil die Wehrpflicht nur ausgesetzt und nicht abgeschafft ist, können Ungediente weiterhin verweigern; auch Reservisten und Soldaten dürfen das jederzeit tun. 2024 stellten immerhin 3000 Männer einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung – 2019 waren es gerade einmal 162 gewesen.

Das ist noch keine Bewegung. Aber für Friedensbewegte und Kriegsdienstgegner ist es ein verheißungsvolles Zeichen. Die älteste Organisation der deutschen Friedensbewegung, die DFG-VK, fühlt sich jedenfalls im Aufwind – so sehr, dass sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Bundeskongress veranstaltet. 1892 als „Deutsche Friedensgesellschaft“ gegründet, schloss sie sich in den Sechzigern und Siebzigern mit weiteren Organisationen zusammen. Daher der etwas sperrige Name „Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen“, kurz DFG-VK.

Abwarten oder jetzt schon verweigern?

In ihrer Hochphase nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Organisation 30.000 Mitglieder, bis in die Achtzigerjahre beriet sie Zehntausende Verweigerer jährlich. Damals mussten junge Männer ihre Gewissensentscheidung teils in mehrstufigen Verfahren vor Komitees darlegen – und landeten, gelang ihnen das nicht glaubhaft, doch in der Kaserne. Um die Jahrtausendwende waren es jedes Jahr noch einige Hundert, die Rat suchten, mit dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 sank die Zahl nahe null.

Zuletzt ist die Nachfrage aber wieder gestiegen. Es kommen Reservisten, die sich sorgen, eingezogen zu werden. Und junge Leute, die sich fragen, was ihnen bevorsteht.

Die Kriegsdienstverweigerer der ersten Stunde hoffen, sich nun erneuern und verjüngen zu können. Und sie wollen sich stärker mit anderen Friedensgruppen vernetzen, Teil einer Bewegung sein, von der sie glauben, dass sie in den kommenden Jahren immer weiter wachsen wird. In Kassel kann man ihnen dabei zusehen, wie sie sich für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht wappnen – und sozusagen einen Blick in die Zukunft werfen, die einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit ähneln könnte.

Früher waren die Kongresse der Kriegsdienstverweigerer größer: 1974 trafen sich VK und DFG, damals noch nicht vereint, in Bonn.
Früher waren die Kongresse der Kriegsdienstverweigerer größer: 1974 trafen sich VK und DFG, damals noch nicht vereint, in Bonn.Picture Alliance

Noch wirken die Kriegsdienstgegner etwas überfordert, sie haben keine gemeinsame Linie. Einige raten jungen Männern, die bei ihnen anfragen, von der Verweigerung ab. Denn um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, muss man sich mustern lassen. Solange es keinen neuen Wehrdienst gebe, solle man lieber „die Füße still halten“, finden sie. Andere sehen das anders: Man sollte lieber jetzt schon proaktiv tätig werden und sich die Anerkennung als Verweigerer sichern.

Der Verein besteht aus sehr unterschiedlichen Gruppen, grob sind es drei. Da sind zum einen die KDV-Opas, wie der DFG-VK-Vorsitzende Michael Schulze von Glaßer sie etwas spöttisch nennt: die größte Gruppe. Sie haben vor Jahrzehnten verweigert, kamen so in Kontakt mit dem Verein – und sind geblieben. Zu ihnen gehören zum Beispiel zwei Männer mit langen weißen Bärten, der eine barfuß. Sie erinnern sich noch heute mit Schrecken an ihre Verweigerung: Vor mehreren Prüfern mussten sie glaubhaft darlegen, dass sie einen Angreifer selbst dann nicht töten würden, wenn es darum ginge, das Leben der eigenen Mutter oder Freundin zu retten. Sie stehen Internet und sozialen Medien kritisch gegenüber und werden immer weniger.

„Es ist doch eine potentielle Freiheitsberaubung“

Deshalb hofft Schulze von Glaßer auf die zweite, um ein Vielfaches kleinere Gruppe: junge Leute. Die in Kassel sind stramm links und oft eher in anderen, jüngeren Organisationen Mitglied. Etwa ein Einundzwanzigjähriger mit Kapuzenpulli und Strubbelfrisur, aktiv in einer neu gegründeten Jugendorganisation namens „Yuna“, der sieht, wie geschickt die Bundeswehr bei Tiktok agiert und findet, dem müsse man mehr entgegensetzen. Oder eine Rothaarige mit vielen Piercings, die sich bei der marxistisch-leninistischen SDAJ engagiert und ohne Erlaubnis der Kader nicht mit der Presse sprechen mag.

Und da ist die dritte Gruppe: Neumitglieder und Interessenten, denen die mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht Sorgen bereitet. Etwa eine Rentnerin, die nicht verstehen kann, warum die Mütter und Großväter in ihrem Bekanntenkreis nicht gegen eine mögliche Wehrpflicht für ihre Kinder und Enkel auf die Straße gehen: „Es ist doch eine potentielle Freiheitsberaubung.“ Neu dabei ist auch eine Dreißigjährige, die sich seit dem Frühjahr bei der DFG-VK in Frankfurt engagiert – und die Jüngste in ihrer Gruppe ist.

Vor dem Aussetzen der Wehrpflicht: Kriegsdienstgegner im Jahr 2005 auf dem Ostermarsch in Heilbronn
Vor dem Aussetzen der Wehrpflicht: Kriegsdienstgegner im Jahr 2005 auf dem Ostermarsch in HeilbronnPicture Alliance

Das ist wohl das größte Problem der Wehrpflichtgegner: Sie erreichen bisher nicht die Leute, die ein Wehrdienst betreffen würde. In Kassel sind sie überzeugt, dass sich das ändern wird und die Kriegsdienstverweigerung noch zu einer Massenbewegung anwachsen werde. Die neu beigetretene Rentnerin sagt: „Wenn die Wehrpflicht kommt, kommt auch noch der Aufstand.“ Das glaubt auch der weißbärtige Mann ohne Schuhe, der über die einstige Wehrpflicht sagt: „Das war damals eine Art politischer Durchlauferhitzer.“

Und der junge Mann von „Yuna“ ist überzeugt: Ein möglicher neuer Wehrdienst sei schon jetzt das wichtigste politische Thema für junge Leute. Man müsse sie nur erreichen. Ihm ist klar, dass das nur über die sozialen Medien gelingen kann. Bei der über 130 Jahre alten DFG-VK sehen das allerdings einige anders.

Das zeigt sich in einem Workshop, in dem Ideen für die Mobilisierung gesammelt werden. Schulze von Glaßer berichtet von den Aktivitäten der Bundeswehr auf Jobmessen, Stadtfesten und bei Tiktok, zeigt Bilder von Plakaten und Panzern. Auch wenn er den Begriff nicht verwenden würde: Zwischen den Werbemitteln der Bundeswehr und denen der Kriegsdienstgegner herrscht eine enorme Waffenungleichheit. Die DFG-VK-Kampagne „Wehrpflicht? Ohne mich!“ kennt kaum jemand. Sie wurde, berichtet Schulze von Glaßer konsterniert, nur von ein paar Hundert Leuten unterschrieben.

Im Jahr 2025: Gruppenfoto in Kassel vor der Aufblas-Figur des Vereinssymbols
Im Jahr 2025: Gruppenfoto in Kassel vor der Aufblas-Figur des VereinssymbolsLeonie Feuerbach

Die Rothaarige meldet sich zu Wort: Eine Kampagne verschiedener linker Jugendorganisationen habe immerhin schon mehr als 12.000 Unterschriften gesammelt. Da wirft der barfüßige Mann ein: „Bitte nicht persönlich nehmen, aber zu Herzen!“ Es sei unverantwortlich, eine WordPress-Adresse zu verwenden für die Kampagne. Schließlich sei WordPress ein amerikanischer Anbieter.

Nach dem Mittagessen – es gibt Hotdogs – sagt eine junge Frau mit tätowierten Armen, dass die Bewegung präsenter werden müsse in den sozialen Medien. Die Angriffe Israels und der USA auf Iran hätten ja gezeigt, „dass uns der dritte Weltkrieg mehr oder weniger bevorsteht und wir unsere Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation dementsprechend erweitern müssen“.

Ein älterer Mann erwidert: „Bei aller Kritik am US-amerikanischen Angriff: Wir kämpfen seit Jahrzehnten gegen Aufrüstung und werden das nun noch umso mehr machen.“ Aber dafür brauche es eben die lokalen und regionalen Gruppen und die Vernetzung mit der Bundesebene, für die der Kongress ja auch gedacht sei. Dass es dafür keine sozialen Medien brauche, sagt er nicht – es kommt auch so an.

Von den Grünen abgewandt

Um 13.30 Uhr ist der Kongress vorbei. Der junge Mann von „Yuna“ sitzt vor dem Stadtteilzentrum im Schatten. Sein Fazit: Da seien schon zwei Welten aufeinandergeprallt. Er finde es beeindruckend, wie verantwortlich sich die Alten für das Thema immer noch fühlten – und gleichzeitig schade, dass sie die jungen Leute gar nicht nach ihrer Einschätzung fragten. „Es wird zum Beispiel schnell gesagt, dass soziale Medien schlecht sind, aber es kommen wenig Nachfragen.“

Zum Mittagessen gibt es beim DFG-VK-Bundeskongress Hotdogs, auch mit veganen Würsten.
Zum Mittagessen gibt es beim DFG-VK-Bundeskongress Hotdogs, auch mit veganen Würsten.Leonie Feuerbach

Vier Tage später in Köln. Zum monatlichen Treffen der örtlichen DFG-VK-Gruppe sind 20 Menschen gekommen, immerhin fast halb so viele wie zum Bundeskongress. Doch auch hier ist niemand unter 50, und das Treffen leiten zwei ältere Männer. Einer von ihnen stellt das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ von Ole Nymoen vor. Der ist 27 und damit für DFG-VK-Verhältnisse blutjung, außerdem hat er knapp 28.000 Follower auf Instagram – das sind fast achtmal so viele, wie die DFG-VK Mitglieder hat. Bekannte Gesichter wie er fehlen der Organisation. Würde die Wehrpflicht wieder eingeführt, bräuchte man sie, um den eigenen Argumenten Gehör zu verschaffen.

Und Argumente haben die DFG-VK-Mitglieder viele. Man sollte nicht für Deutschland kämpfen, sagen sie, weil es im Krieg um Macht und Ressourcen gehe – in der Ukraine etwa um Seltene Erden –, nicht um Freiheit und Demokratie. Weil alle Kriege mit Verhandlungen enden und man also auch gleich verhandeln könne, ohne Krieg. Weil der Krieg eine künstliche Trennung in unschuldige Opfer und Soldaten schaffe, dabei sei der siebzehnjährige Schüler doch nicht weniger unschuldig als der Achtzehnjährige in Uniform.

Früher waren diese Argumente in linken Kreisen Konsens. Heute erheben Linke selbst dann keinen Einspruch, wenn der Verteidigungsminister dem Land „Kriegstüchtigkeit“ verordnet, wenn gewaltige Summen für Verteidigung ausgegeben werden oder wenn Politiker ein europäisches Atomwaffenarsenal fordern und einen Raketenschutzschild für Deutschland nach israelischem Vorbild.

In Köln sprechen sie darüber nach dem Treffen bei einem Bier. Ein weißhaariger Mann, der nach Jahrzehnten bei den Grünen ausgetreten ist und bei den Kriegsdienstverweigerern eine neue politische Heimat gefunden hat, beklagt sich, dass die einstige Friedenspartei heute besonders vehement für Wehrhaftigkeit eintritt. Über Prominente, die mit Blick auf den russischen Angriffskrieg sagen, dass sie heute nicht noch einmal verweigern würden, sagt er: „Diese ganzen Campinos und Niedeckens, wieso sagen die das?“

Ein Mann um die 50, der noch kein DFG-VK-Mitglied ist, stimmt leisere Töne an. Er selbst, erzählt er, musste nie verweigern, weil seine beiden Brüder schon gedient hatten und er den Bauernhof des Vaters übernahm. Das stimmt ihn bis heute nachdenklich. Letztlich profitiere man schließlich davon, dass andere bereit wären, zur Bundeswehr zu gehen und ihr Leben zu riskieren. „Das ist ja auch alles nicht so einfach“, sagt er.