Es kommt selten vor, dass ein Staat einen anderen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verklagt. Seitdem die Europäische Menschenrechtskonvention 1953 in Kraft trat, für die das Straßburger Gericht verantwortlich ist, gab es gut dreißig solcher Verfahren – aber Tausende Klagen von Einzelpersonen oder Verbänden.
Die vier Staatenklagen, über die am Mittwoch entschieden wurde, stachen noch zusätzlich heraus: Es ging, wie das Gericht selbst befand, um „beispiellose“ Verstöße Russlands gegen alle wesentlichen Artikel der Konvention. „In keinem der zuvor vor dem Gerichtshof verhandelten Konflikte gab es eine derart fast einhellige Verurteilung der ‚flagranten‘ Missachtung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Grundlagen der internationalen Rechtsordnung durch den beklagten Staat“, hieß es im Urteil.
Drei Klagen hatte die Ukraine eingereicht. Darin ging es um Menschenrechtsverletzungen auf der 2014 von Russland besetzten und annektierten Krim-Halbinsel, in den Separatistengebieten der Ostukraine und im Zuge der Invasion des gesamten Landes, die im Februar 2022 begann. Das Gericht hatte die Klagen zugelassen, weil es Russland für die Besetzung ukrainischer Territorien und die dort errichtete Separatistenverwaltung verantwortlich machte.
Eine „leichtfertige Haltung“ zum Leben von Zivilisten
Moskau habe die „volle Kontrolle“ ausgeübt sei damit für alle Handlungen sowohl der Separatisten als auch des russischen Militärs verantwortlich. Diese Feststellung war auch für das Urteil im vierten Fall zentral. Die Niederlande hatten 2020 Russland wegen des Abschusses von Flug MH17 über der Ostukraine verklagt. Seinerzeit waren 298 Menschen an Bord des Flugzeugs ums Leben gekommen, davon 196 Niederländer.
Für das Gericht spielte es wegen der umfassenden Verantwortung des russischen Staates keine Rolle, ob ein russischer Soldat oder ein Mitglied der Separatistenmiliz die tödliche Abfangrakete eines russischen Flugabwehrsystems auslöste – was bis heute unklar ist. Es erkannte auch an, dass wohl ein Militärflugzeug getroffen werden sollte, nicht das Flugzeug von Malaysian Airlines. Doch sei das Buk-Abwehrsystem selbst gar nicht in der Lage gewesen, eine solche Unterscheidung vorzunehmen. Auch sonst seien keinerlei Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden, was von einer „leichtfertigen Haltung“ gegenüber dem Leben der Zivilisten an Bord zeuge. Aus diesem Grund erkannte der EGMR einen Verstoß gegen das Recht auf Leben, Artikel 2 der Konvention.
Das Gericht entsprach auch in den anderen Klagepunkten der niederländischen Regierung und den Zusammenschlüssen von Hinterbliebenen, die sich der Klage angeschlossen hatten. Das betraf zum einen die mangelnde Zusammenarbeit Russlands bei der Aufklärung des Abschusses. Die russische Darstellung sei „bestenfalls ungenau, schlimmstenfalls eine reine Erfindung“ gewesen. Daher sei den Hinterbliebenen das Recht auf ein wirksames Verfahren verwehrt worden. Zum anderen sei der Umgang mit den Opfern, die Bergung und Überstellung der Leichname, derart würdelos gewesen, dass dies einer „unmenschlichen Behandlung“ ihrer Angehörigen gleichkomme.
Ursprünglich hatten die Niederlande vor allem geklagt, um den Opfern einen Anspruch auf Entschädigung zu sichern. Darüber entschied das Gericht jedoch noch nicht. Es verwies auf anhängige Einzelklagen und Forderungen, die im Rahmen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation geltend gemacht werden können. Zur Wahrheit gehört freilich auch: Seit Russland im März 2022 aus dem Europarat ausschied, können Entschädigungen ohnehin nicht mehr wirksam durchgesetzt werden.