Die Wirtschaft braucht Migranten, die Politik vertreibt sie

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Migration ist für Donald Trump eines der wichtigsten Themen. Doch nahezu sämtliche Aussagen, die die amerikanische Regierung im Zusammenhang mit ihrer Immigrationspolitik trifft, halten einer näheren Begutachtung nicht stand, zeigt die Auswertung mehrerer Studien und Expertengespräche: Die Krise an der Südgrenze der Vereinigten Staaten war nicht hauptsächlich das Ergebnis der verfehlten Politik der Biden-Regierung.

Die Ausländer sind nicht besonders kriminell oder gewaltbereit, wie durchgängig von Trump und seinen Gefolgsleuten insinuiert wird. Sie stehlen keine Arbeitsplätze, belasten die Gesundheits- und Sozialsysteme nicht überproportional und sind bedeutende Nettosteuerzahler. Sie leisteten sogar einen bedeutenden Beitrag, die Inflation in Zaum zu halten und das Haushaltsdefizit zu begrenzen, wie Analysen des Con­gres­sional Budget Offices zeigen. Das gerade von Trump unterzeichnete „One Big Beautiful Bill“ schafft dennoch gewaltige Zusatzkosten für die Grenzsicherung.

Der Grund, warum so viele Immigranten über die Grenzen kamen, hing weniger mit schlappen Grenzkontrollen zusammen, sondern vor allem mit einer ungewöhnlichen Konstellation: Während die Leute im Süden und aus anderen Regionen kein Auskommen fanden, suchten Arbeitgeber in den USA vor allem 2022 verzweifelt Arbeitnehmer. Die Zahl der offenen Stellen war mit zwölf Millionen fast doppelt so hoch wie die Zahl der Arbeitslosen. Von Februar 2021 bis August 2024 stieg die Zahl offener Stellen besonders hoch, zeigt David Bier, Direktor für Einwanderungsstudien am libertären Cato Institute, unter Berufung auf Regierungsstatistiken.

Bauwirtschaft sucht händeringend

In zentralamerikanischen Ländern, aus denen die Immigranten zunehmend ­kamen, stieg zudem der Kenntnisstand über die besten Routen zur illegalen Einwanderung. Dany Bahar, Direktor für Immigrationsfragen am Center for Global Development, hat untersucht, wie der Arbeitsmarkt als sogenannter „Pull“-Faktor wirkt im Vergleich zu Maßnahmen der Grenzsicherung.

Er fand heraus, dass über demokratische und republikanische Regierungen hinweg keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Grenzübertritten auftraten, wenn man den „Pull“-Faktor Arbeitsmarkt eliminierte – egal, ob George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden im Weißen Haus regierten. Vermutlich ist die amerikanische Wirtschaft nicht nur auf Einwanderer generell angewiesen, sondern auch auf die Immigranten ohne gültige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse. Sie vergrößern die Kaufkraft und zahlen jene Steuern, die automatisch eingezogen werden. Das gilt für Lohnsteuern und lokale Umsatzsteuern.

Einwanderungsgegner aber behaupten, dass Einwanderer ohne Papiere eine Nettobelastung darstellen, vor allem für die Haushalte der Bundesstaaten und Kommunen. Sie nähmen lokal finanzierte öffentliche Dienstleistungen stärker in Anspruch. Überdies verschärften sie den Wohnungsmangel und machten Immobilien für amerikanische Familien unerschwinglich. Allerdings sind viele „Illegale“ in der Bauwirtschaft beschäftigt, die höhere Löhne bezahlen müsste, würden diese Arbeitnehmer abgeschoben werden oder gar nicht erst auftauchen. Ende 2024 gab es trotz der so heftig von Trumps ­MAGA-Bewegung beklagten „Invasion von illegalen Einwanderern“ 450.000 offene Stellen in der Bauwirtschaft. Seitdem ist die Zahl auf deutlich unter 300.000 gesunken. Der Hauptgrund: Hohe Zinsen und die Zölle treiben Baukosten.

Einwanderung gefordert

Wer die Vertreter der Wirtschaft befragt, bekommt eine ziemlich eindeutige Antwort: Wir brauchen die Arbeitnehmer aus dem Ausland. Die American Business Immigration Coalition, eine Organisation mit 1700 Arbeitgebern, hält es für nötig, die Einwanderer im Land zu behalten, damit die Wirtschaftszweige wettbewerbsfähig bleiben. Sie hat eine Öffentlichkeitskampagne begonnen mit dem Ziel, die Arbeitskräfte in den USA zu halten. „Wir setzen uns für Arbeitsgenehmigungen für unverzichtbare Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe, im Bauwesen und in allen anderen Branchen ein, in denen wir wissen, dass Einwanderer ohne Papiere einen bedeutenden Beitrag leisten“, sagte Rebecca Shi, Chefin der Organisation, dieser Zeitung.

Sie beklagt die Razzien der Immigrationspolizei ICE: „Die gezielte Ausrichtung auf systemrelevante Arbeitnehmer hat den Geschäftsbetrieb und die Lieferkette erheblich beeinträchtigt und treibt die Kosten für Lebensmittel und Wohnraum nach oben.“ Im ganzen Land melden Unternehmen und Manager, dass ihre Beschäftigten nicht aufgetaucht sind, weil sie Nachstellungen der Ausländerpolizei fürchteten.

Es sind nicht nur kleine Restaurants, denen plötzlich der Tellerwäscher fehlt. Das Magazin „Wired“ fand heraus, dass mehr als 40 börsennotierte Unternehmen der Börsenaufsicht angezeigt haben, dass die Razzien ihre Geschäftstätigkeit und Umsätze beeinträchtigen könnten. Tatsächlich hat das Marktforschungsunternehmen Kantar herausgefunden, dass Lateinamerikaner in den USA im ersten Quartal 5 Prozent weniger für Lebensmittel ausgaben, bei Kleidung hielten sie sich noch mehr zurück.

Nicht alle können legal arbeiten

Der berechtigte Einwand, dass die Illegalität damit nicht zu rechtfertigen sei, wäre wuchtvoller, wenn es legale Alternativen gäbe. Für viele Bereiche allerdings existiert keine legale Möglichkeit zur Arbeitsmigration. Das amerikanische System kennt Visa mit Mengenbegrenzungen für besonders qualifizierte Arbeitskräfte im Tech-Sektor, für Krankenschwestern, Altenpfleger und Ärzte. Dazu kommen Visa für Saisonkräfte in der Fischerei, der Landwirtschaft und dem Hotelgewerbe. Doch für gewöhnliche Bauarbeiter, Gärtner, Landarbeiter oder Beschäftigte im Hotelgewerbe fehlen solche Visa, wie Arbeitgebervertreterin Shi beklagt. Ihre Organisation wirbt für sichere Grenzen und zugleich für die Sicherung der Arbeitskraft in den USA.

Weil auch in den Vereinigten Staaten die Geburtenrate schrumpft, bräuchte das Land jährlich rund 1,1 Millionen Zuwanderer, um in den nächsten 20 Jahren die Bevölkerungsgröße konstant zu halten, rechnet Shi unter Berufung auf das überparteiliche Congressional Budget Office vor. Vermutlich sei sogar noch mehr nötig, so Shi. Politische Initiativen zur Regelung einer legalen Zuwanderung fehlen allerdings.

Die letzte große parteiübergreifende Initiative zur Modernisierung des Einwanderungsrechts unternahm im Jahr 2013 die „Gang of Eight“, zu der unter anderen der aktuelle Außenminister Marco Rubio und der Fraktionschef der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, gehörten. Die Gruppe aus acht Senatoren legte einen Gesetzentwurf vor, der das Einwanderungs- und Visasystem reformieren, den „iIllegalen“ Weg zur Staatsbürgerschaft öffnen und die Grenzsicherheit erhöhen sollte.

Geringere Kriminalitätsrate

Es scheiterte an konservativen Repu­bli­ka­nern im Repräsentantenhaus. Die von konservativen Politikern hartnäckig wiederholte Botschaft von den kriminellen Ausländern zeichnet ebenfalls ein falsches Bild. Cato-Forscher Bier zitiert aus Daten der Ausländer- und Zollpolizei ICE, dass die Regierung in erster Linie Personen ohne jegliche strafrechtliche Verurteilung festhält, um sie auszuweisen.

Bei den Personen mit strafrechtlicher Verurteilung handelt es sich überwiegend nicht um Gewaltdelikte, die die ICE immer wieder als Rechtfertigung für ihre Abschiebungsagenda anführt. Bis zum 14. Juni hatte die ICE 205.000 Personen in Gewahrsam genommen. Von diesen Personen waren 65 Prozent nicht vorbestraft. Darüber hinaus wurden mehr als 93 Prozent der von der ICE in Gewahrsam genommenen Personen nie wegen Gewaltdelikten verurteilt. Etwa neun von zehn Personen waren nicht wegen Gewalt- oder Eigentumsdelikten verurteilt worden. Die meisten Verurteilungen fielen in drei Hauptkategorien: Einwanderung, Verkehrsdelikte oder gewaltfreie Sittenwidrigkeiten.

Selbst die „Illegalen“ sind weniger kriminell als die eingeborenen Amerikaner, hat der Cato-Forscher Alex Nowrasteh nachgewiesen. Sie sind nach seiner Darstellung weniger kriminell, obwohl sie in der Regel jünger, männlich und weniger gebildet sind und zu ethnischen Gruppen gehören, die unter den in den USA geborenen Amerikanern tendenziell höhere Kriminalitätsraten aufweisen. Cato-Immigrationsexperte Alex Nowrasteh fasste das in einem F.A.Z.-Interview so zusammen: „Illegale Einwanderer sind weniger kriminell als Leute, die in den USA geboren sind. Die Leute, die ihre Heimatländer verlassen, sind generell etwas weniger kriminell als ihre Landsleute, die ­zurückbleiben. Dazu kommt, dass Amerikaner eine unglaublich hohe Kriminalitätsrate haben.“

Unbeschadet dieser Informationen hält die republikanische Mehrheit im Kongress an der Vision fest, dass die Einwanderer gefährlich sind. Das drückt sich in Trumps Gesetz „One Big Beautiful Bill“ aus, das gewaltige Summen für Grenzsicherheit (60 Milliarden auf vier Jahre) und Ausländerpolizei (75 Milliarden auf vier Jahre) reserviert.