Die Europäer setzen sich gerade ehrgeizige Ziele. Bis „spätestens 2030“ müsse Europa in der Lage sein, „sich selbst zu verteidigen“, sagt zum Beispiel die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, deren Regierung jetzt den Ministerräten der Union vorsitzt. Die NATO-Staaten haben sich gerade vorgenommen, in den nächsten zehn Jahren ihre harten Verteidigungsausgaben auf mindestens 3,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung zu erhöhen – also effektiv zu verdoppeln. Auch das wird immer wieder mit der Erwartung verknüpft, dass Europa künftig ohne US-Unterstützung auskommen müsse.
Gegen Ehrgeiz spricht nichts. Allerdings wird hier gerade eine Erwartung geweckt, die den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Denn von einer strategischen Autonomie bleibt Europa auch nach den jüngsten Beschlüssen weit entfernt.
Das höhere Anspruchsniveau
Man kann sich das leicht an zwei Zahlen vergegenwärtigen. Derzeit stellen die Vereinigten Staaten 44 Prozent aller militärischen Fähigkeiten der NATO. Bis 2035 soll dieser Anteil auf 30 Prozent sinken. Das ist nur ein gradueller Unterschied. Der Grund dafür ist das insgesamt viel höhere Anspruchsniveau, das in den Verteidigungsplänen vorgesehen ist. Allein die Zahl der kampffähigen Brigaden steigt von 82 auf 131, das sind fast 50 Verbände mit je 3000 bis 5000 Soldaten mehr. Statt knapp 300 bodengebundener Luftabwehreinheiten sind künftig fast 1500 vorgesehen, in allen Reichweiten, also fünfmal so viele. Nicht nur die Europäer müssen quantitativ mehr leisten, auch die Amerikaner.
Die Verteidigungspläne wurden unter der Annahme erstellt, dass US-Truppen weiter in großer Zahl in Europa präsent sein werden. Derzeit sind es rund 100.000 Soldaten, davon wurden 20.000 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vorübergehend auf diese Seite des Atlantiks verlegt. Ob man künftig aber noch mit 80.000 Soldaten rechnen kann, ist fraglich. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth hat eine Überprüfung der weltweiten Truppenpräsenz angeordnet, bei der die Bedrohung durch China im Zentrum steht. Bis Oktober soll das abgeschlossen sein. Danach wird man wissen, was beiläufige Äußerungen des US-Präsidenten wert waren. Wenn Merz es wolle, werde er 45.000 Soldaten in Deutschland belassen, hatte Donald Trump beim Antrittsbesuch des Kanzlers gesagt.
Es geht um marktreife Systeme
Fachleute bei der NATO richten sich eher darauf ein, dass das in etwa die Gesamtzahl von Soldaten sein könnte, deren Stützpunkte in Europa bleiben. In diesem Fall müssten die Verteidigungspläne überarbeitet, die Fähigkeitsziele und auch die Aufwendungen in Europa erhöht werden.
Eine Abhängigkeit bleibt in jedem Fall bei den Waffensystemen bestehen. Zwar wollen die Europäer ihre eigene Industrie stärken, doch geht das nur auf mittlere Sicht. Um ihre Fähigkeitslücken zu schießen, werden sie in den nächsten Jahren erst einmal marktreife Systeme kaufen müssen – und da dürften die USA weiter das größte Angebot haben.
Man sieht das ja schon bei der Flotte von F-35-Kampfflugzeugen, die nun auch in Deutschland aufgebaut wird. Bis ein europäisches Modell zur Verfügung steht, werden mindestens 15 weitere Jahre vergehen. Ähnlich ist es bei Präzisionsschlägen gegen Ziele in Russland. Über ballistische Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite verfügen derzeit nur die USA. Deutschland will sie sich „ausleihen“, bis es mit weiteren Staaten eine eigene Lösung entwickelt hat. Auch das wird bis in die Dreißigerjahre dauern.
Über die nukleare Abschreckung ist da noch gar nichts gesagt. Hier hat sich ein gewisser Realismus eingestellt. Selbst wenn Berlin mit Paris in einen Dialog über die Force de Frappe eintritt, man gemeinsam übt und vielleicht eines Tages sogar französische Atomwaffen in Deutschland stationiert, wird das für ganz Europa keine Lösung sein. Zumal die französischen Systeme auf ein Armageddon-Szenario ausgelegt sind und eben nicht jene skalierte Eskalation zulassen, die nötig wäre, um einen Gegner abzuschrecken, dessen Doktrin einen frühen Einsatz von Atomwaffen vorsieht. Ohne den US-Nuklearschirm wird Europa auf lange Sicht nicht auskommen. Ihn adäquat zu ersetzen, würde nach NATO-Schätzungen Verteidigungsausgaben von mindestens 8 Prozent der Wirtschaftsleistung erfordern.
Was Europa in den nächsten Jahren gewinnen kann, ist die Anfangsbefähigung, um einen russischen Angriff abzuwehren. Es sollte dann genug Truppen, Waffen und Munition haben, um ein schnelles Vorrücken russischer Einheiten zu verhindern und einen hochintensiven konventionellen Krieg einige Monate lang durchzuhalten. Die USA müssten nicht sofort mit eigenen Kampftruppen eingreifen, wohl aber Unterstützung leisten, insbesondere bei der Gefechtsfeldaufklärung. Das würde die Handlungsfähigkeit der Europäer stärken und müsste vom Kreml berücksichtigt werden. Eine Abkoppelung wäre es nicht.