Mit Gewehren gegen den Drohnenschwarm

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Die Nächte in Kiew sind derzeit laut. Während der russischen Angriffe dominiert das knatternde Motorengeräusch der Geran-Drohnen, wie die russische Version der iranischen Shahed-Drohnen heißt. Die Ukrainer nennen sie wegen ihrer sägenden Zweitaktmotoren auch Mopeds. Hinzu kommen die Salven der Flugabwehr, immer wieder ist aufsteigende Leuchtspurmunition zu sehen. Am lautesten aber sind die Einschläge selbst. Dort, wo die Drohnen niedergehen, wird der Nachthimmel von Explosionen hell erleuchtet.

Wegen der massiven Angriffe suchen wieder mehr Menschen Schutz in den U-Bahn-Stationen. Das erinnert an die ersten Kriegstage. Die Fassaden, in denen Sperrholzplatten die geborstenen Fenster ersetzen, werden auch in Kiew mehr. Eigentlich sollen die russischen Kamikaze-Drohnen in der Peripherie mit Maschinengewehren oder Flak vom Himmel geholt werden. Doch wenn zu viele Drohnen zugleich anfliegen, kommt die Flugabwehr nicht mehr hinterher.

Der Juni war der tödlichste Monat

Noch vor einem Jahr griff Russland mit 100 bis 200 Drohnen im Monat die Ukraine an. Heute ist es laut einer Auswertung des ukrainischen Generalstabs das Vielfache. Bereits Ende vorigen Jahres war die Zahl russischer Drohnenangriffe auf die Ukraine auf rund 2000 im Monat gestiegen, im Februar verdoppelte sie sich auf rund 4000. Gut die Hälfte der Drohnen konnten die Ukrainer abschießen, rund ein Drittel verschwand vom Radar, wurde entweder per Funk gestört oder ging auf unbesiedeltem Gebiet nieder. Auch die Zahl der getroffenen Ziele nimmt zu: Im Mai erreichte rund ein Fünftel der russischen Drohnen ihr Ziel, fast doppelt so viele wie in den beiden Monaten davor. Allein im Juni wurden in der Ukraine 232 Zivilisten durch russische Angriffe getötet und mehr als 1300 verletzt, teilte die UNO mit. Der Juni sei damit der tödlichste Monat seit Kriegsbeginn gewesen.

F.A.Z.

Kiew gilt im Vergleich noch als besonders gut durch Flugabwehr geschützt. Die ukrainische Streitkräfte haben hier einen mehrschichtigen Sicherheitsgürtel etabliert, der aus westlichen Flugabwehrsystemen, sowjetischen Altbeständen sowie mobilen Einheiten besteht, die größtenteils mit Maschinengewehren ausgerüstet sind. Zu den westlichen Systemen zählen die amerikanischen Patriots, die als Universalwaffe gegen Flugobjekte gelten und vor allem Langstreckenraketen und Marschflugkörper zerstören.

Die Ukraine hat von den USA und Deutschland je drei Patriot-Systeme erhalten, von denen mindestens zwei im Raum Kiew stationiert sind. Genauere Angaben macht die Regierung aus Sicherheitsgründen nicht. Zudem hat Deutschland der Ukraine sechs Iris-T-Systeme geliefert, die für die Bekämpfung von Flugobjekten im Nah- und Mittelbereich (bis 20 Kilometer Höhe und 40 Kilometer Entfernung) geeignet und mobil einsetzbar sind. Mit dem deutschen Hersteller Diehl-Defence hat die Ukraine die Lieferung weiterer Iris-T vereinbart; bis 2026 könnten 17 Systeme hinzukommen. Außerdem sind das norwegische NASAMS sowie die aus Sowjetzeiten stammenden Buk- und SP-300-Systeme im Einsatz. Sie können ebenfalls Raketen und Marschflugkörper sowie Flugzeuge und Hubschrauber in mittleren bis großen Flughöhen bekämpfen.

Die Russen feuern ab, was sie produzieren

Speziell der Abwehr von Drohnenschwärmen dient das britische Gravehawk-System, das mit dänischer Mitfinanzierung für die Ukraine weiterentwickelt wurde. Zwei dieser Systeme wurden Anfang des Jahres offenbar erfolgreich getestet. Der britische Premierminister Keir Starmer versprach während eines Besuchs in Kiew, 15 weitere zu liefern. Unterstützt wird die Drohnenabwehr von mobilen Einheiten der Territorialverteidigungskräfte, die wie ein Gürtel in Vororten rund um die ukrainische Hauptstadt stationiert sind. Sie arbeiten mobil mit auf Pick-ups stationierten Maschinengewehren, um die mit rund 200 km/h vergleichsweise langsam fliegenden Drohnen vom Himmel zu holen. Die Einheiten setzen sich häufig aus Freiwilligen, darunter Frauen und Senioren zusammen. Sie finanzieren sich meist über Spenden, und ihre Maschinengewehre stammen oft noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Netze werden aus Abwehrdrohnen geschossen, oder wie hier im Donbass über Straßen und Autos gehängt.
Netze werden aus Abwehrdrohnen geschossen, oder wie hier im Donbass über Straßen und Autos gehängt.AFP

Gegen die massiven Drohnenangriffe setzt die Ukraine verstärkt auf neu entwickelte Abfangdrohnen. Sie identifizieren feindliche Drohnen via Radar und KI-gestützte Kameras und bringen sie – etwa mit einem aus Abfangdrohnen entgegengeschossenen Netz – kontrolliert zum Absturz. Dazu seien Verträge mit dänischen und US-Firmen über Hunderttausende Drohnen geschlossen, erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsidialamtschef Andrij Jermak teilte am Freitag auf der Plattform X das Bild einer Abfangdrohne und schrieb, dass Russland zwar bei der Zahl der Geschoße und Soldaten überlegen sei, man aber „dank unserer Technologien, Drohnen, Menschen und westlichen Waffen“ in der Lage sei, „gleiche Bedingungen zu schaffen“.

Doch warum eskaliert Russland gerade jetzt seine Drohnenangriffe? Der erste Teil der Antwort klingt banal: Weil die Invasoren es können. Iran stellte Russland 2022 die ersten Shahed-136-Drohnen zur Verfügung, sogenannte Kamikazedrohnen, die nur einmal benutzt werden. Geran-2 nannte Moskau sie, nach dem russischen Wort für die Blume Geranie. 2023 begann Russland, so weit bekannt, die Drohne selbst herzustellen. Präsident Wladimir Putin sagte vergangenen September, 2023 hätten Russlands Streitkräfte rund 140.000 Drohnen erhalten, 2024 solle ihre Produktion „praktisch verzehnfacht“ werden.

Die „New York Times“ zitierte Ende Juni Beobachter, die schätzten, Russland stelle derzeit etwa so viele Geran-Drohnen her, wie es auf die Ukraine abfeuere, mehr als 4000 im Monat. Die russische Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ hob nach den jüngsten Angriffswellen vor allem auf Kiew hervor, die Tatsache, dass die eigenen Drohnenkräfte in der Lage seien, zwei Nächte in Folge mit je mehr als 700 Drohnen feindliche Ziele anzugreifen, zeige, dass Prognosen westlicher Analysten, Russland könne bis zum Herbst seine Produktion so steigern, dass es täglich 1000 Drohnen einsetzen könne, nah an der Wahrheit lägen.

Russische Bedrohung auch für Westeuropa?

Hinzu kommt, dass Russlands Versionen der Shahed mittlerweile zerstörerischer, störungsresistenter, robuster, wendiger und schneller sind als die iranische Vorlage. Ein Grund sind auch westliche und chinesische Bauteile, welche die Ukrainer immer wieder finden, wenn sie Drohnen untersuchen. Um die Ressourcen der ukrainischen Flugabwehr zu binden, schickt Russland oft auch Attrappen ohne Gefechtskopf los, die für die Ukrainer nicht zu erkennen sind. Die Attrappen sind noch viel billiger als die eigentlichen Kampfdrohnen, die selbst nur um die 50.000 Dollar kosten sollen, viel weniger als Raketen und Marschflugkörper.

Es geht darum, die Ukrainer zu erschöpfen und auszuzehren, materiell wie psychisch, wie russische Kriegsenthusiasten auf Telegram schreiben. Die russischen Streitkräfte verfolgten eine „neue Angriffsstrategie“, schrieb jüngst der dem Verteidigungsministerium in Moskau nahestehende Telegram-Kanal Rybar. Die Mehrzahl der Drohnen werde in Massenstarts auf ein oder zwei Zielstädte abgefeuert, um die Luftabwehr der Ukrainer zu überwältigen, die nicht genug Raketen habe. Zur Rechtfertigung der Schläge wird ausgeführt, die Angriffe richteten sich gegen militärische Ziele; über die zivilen Opfer auf ukrainischer Seite wird nicht berichtet.

Zur Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt gehört aber auch, dass Putin keinen Zweifel daran gelassen hat, seine Kriegsziele erreichen zu wollen. Ihm geht es mindestens darum, eine um etliche von Russland annektierte Gebiete gebrachte Ukraine zu unterwerfen. Der Kreml hat klargemacht, dass die Verhandlungen mit den USA und mit der Ukraine in Istanbul diesem Kapitulationsziel ebenso dienen wie alle militärischen Aktivitäten. Die Angriffe sind also auch eine Machtdemonstration, welche die Feinde in der Ukraine und im Westen einschüchtern sollen. Mit den Angriffen zeige die russische Armee, dass sie „voll entschlossen ist, das in der Ukraine Begonnene zu einem logischem Ende zu führen“, schrieb der „Moskowskij Komsomolez“. „Je eher Selenskyj und diejenigen, die versuchen ihn zu unterstützen, das begreifen, desto besser. Unter anderem für die Ukraine selbst.“

Dem Drohnenkrieg gehört die Zukunft, auch in einer möglichen Ausweitung der Kampfzone über die Ukraine hinaus. Die „New York Times“ hob hervor, nach einem hypothetischen Ende der Kämpfe in der Ukraine werde Russland gewaltige Reserven an Kampfdrohnen anhäufen und damit nicht allein die baltischen Nachbarstaaten, sondern auch weiter entfernte Ziele angreifen können.