„Wir müssen über die Wehrpflicht reden – jetzt!“

9

Herr Zerger, Sie lehnen Zwangsdienste wie die Wehrpflicht ab. Aber wie soll sich Deutschland gegen ­Putin verteidigen, wenn kaum ­jemand freiwillig zur Armee geht?

Zerger: Um es deutlich zu sagen: Ich verharmlose Putin nicht, und ich finde es richtig, die Ukraine in ihrer Verteidigung massiv zu unterstützen. Aber die Wehrpflicht ohne Wenn und Aber zur sicherheitspolitischen Notwendigkeit zu erklären, halte ich für einen Kurzschluss. Sie ist ein sehr teures und noch dazu wenig zielführendes Instrument. Hoch technisiert, wie Kriege heutzutage stattfinden, braucht man eher gute Spezialisten.

Kiessling: Ich finde es schon mal gut, dass wir uns einig sind über die Bedrohung durch Russland. Wir unterscheiden uns aber in der Analyse, wie wir darauf reagieren sollten. Klar, wir brauchen auch Spezialisten, aber eine Armee braucht eine gewisse Durchhaltefähigkeit. In der Ukraine sind 70 Prozent derjenigen, die jetzt kämpfen, Reservisten. Für die Bündnis- und Landesverteidigung in Deutschland bräuchte die Truppe 260.000 aktive Soldaten und 200.000 Reservisten, wenn nicht mehr. Derzeit haben wir aber in Deutschland nur 30.000 Reservisten, und wir schaffen nicht mal unser Soll von 203.000 aktiven Soldaten. Deshalb müssen wir über die Wehrpflicht reden – und zwar jetzt.

Kiessling: Als ich vor fünf Jahren mein Abitur gemacht habe, ist nur eine einzige Person zur Bundeswehr gegangen. Da haben die anderen gefragt: Warum tust du dir das an? Wenn alle zur Bundeswehr gehen oder Zivildienst machen, wäre das eine andere Situation. Wenn ich jetzt Abiturient wäre, würde ich wohl anders entscheiden.

Wenn es wirklich darum geht, unsere Freiheit zu verteidigen: Dann könnte es doch auch egal sein, was die anderen darüber denken?

Kiessling: Sie meinen, wer für eine Wehrpflicht ist, soll einfach jetzt schon zur Bundeswehr gehen? Das ist ein fadenscheiniges Argument, das überhaupt nichts mit Solidarität zu tun hat. Nach dem Motto: Ihr findet, unsere Demokratie ist verteidigenswert? Dann geht doch an die Front!

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Zerger: Mein Vater wurde im Zweiten Weltkrieg zweimal verletzt und kam schließlich in amerikanische Gefangenschaft. Im Lager hatten die Nazis praktisch noch das Sagen. Jeder, der – trotz der dort zugänglichen Informationen zum Kriegsverlauf – nicht an den Endsieg glaubte, konnte gelyncht werden. Die Amerikaner haben das Tor aufgemacht, wenn jemand vor der Meute fliehen musste. Das war für meinen Vater ein Schlüsselmoment. Nach und nach wurde ihm klar, dass er mit dem Nationalsozialismus an die falsche Sache geglaubt hatte und was Krieg wirklich bedeutet. Ehrfurcht vor dem Leben war in unserer Familie daher ein hoher Wert.

Sie hätten 1980 zur Bundeswehr ­gemusst, haben sich aber für den ­Zivildienst entschieden.

Zerger: Wir mussten noch eine mündliche Gewissensprüfung machen. Da wurde zum Beispiel auf eine Notwehrsituation abgehoben: Sie sind mit Ihrer Freundin unterwegs, der Russe kommt, und Sie haben zufällig ein Gewehr dabei. Was machen Sie, wenn der Ihre Freundin vergewaltigen möchte? Heute wird sehr aseptisch diskutiert. Krieg bedeutet aber Schweiß, Blut, Sterben und Töten. Wenn man sich für eine Wehrpflicht ausspricht, muss man das im Blick haben.

Was spricht aus Ihrer Sicht gegen einen Pflichtdienst?

Zerger: In einer liberalen Demokratie hat das Selbstbestimmungsrecht einen sehr hohen Stellenwert. Ich halte auch die Hoffnung, dass ein Pflichtdienst zu mehr Gemeinsinn führt, für unrealistisch. Wo es keine intrinsische Motivation gibt, bleiben solche Lerneffekte meist aus. Und was die Bundeswehr betrifft: Neulich sagte ein Soldat, im Feld müsse er sich auf seine Kameraden verlassen können. Das sei bei Zwangsverpflichteten nicht der Fall.

Kiessling: Die Idee von Boris Pistorius ist an das schwedische Modell angelehnt. Von einem Jahrgang mit 700.000 Leuten will Pistorius erstmal nur 5000 auswählen. Irgendwann soll das auf 20.000 bis 30.000 pro Jahr wachsen. Aktuell steht also überhaupt nicht zur Debatte, ganze Jahrgänge einzuziehen.

Trotzdem werden die Weichen für eine Verpflichtung schon gestellt: In dem Gesetzesentwurf des Verteidigungsministers ist der Übergang zur Wehrpflicht schon konkretisiert, wie diese Woche bekannt wurde.

Kiessling: Die Bundeswehr versucht seit Jahren, attraktiver zu werden. Das hat nicht zu genpgend Bewerbungen geführt. Was ist die Alternative? Wir beide fürchten uns vor Krieg, vor Tod, Leid und Blut. Um das zu vermeiden, braucht es glaubwürdige Abschreckung.

Johannes Zerger (links) und Arthur Kießling diskutieren über die Wehrpflicht.
Johannes Zerger (links) und Arthur Kießling diskutieren über die Wehrpflicht.Andreas Pein

Zerger: Wenn glaubwürdige Abschreckung nur mit der Wehrpflicht möglich sein soll, frage ich mich, was die Bundeswehr in den letzten Jahren gemacht hat.

Kiessling: Die Wehrpflicht allein soll auch nicht alles lösen. Aber sie kann ein Baustein sein, um uns verteidigungsfähiger zu machen. Im aktuellen Friedensgutachten fordern deutsche Friedensforschungsinstitute klar, dass Europa seine Verteidigungsstrukturen ge­gen­über Russland stärken muss.

Putin könnte womöglich schon 2027 einen NATO-Staat angreifen. Macht Ihnen das keine Angst, Herr Zerger?

Zerger: Ich habe die Zeit des NATO-Nachrüstungsbeschlusses in den frühen Achtzigerjahren miterlebt. Die Angst vor einem Atomkrieg hat damals viele mobilisiert, aber aus meiner Sicht helfen eher nüchterne Analysen. Donald Trump sagt an dem einen Tag dies und am anderen Tag jenes. Wir können uns doch nicht von so einem erratischen Präsidenten treiben lassen! Mal im Ernst: Wenn die russische Armee schon Soldaten aus Nordkorea braucht, um ein relativ kleines Land wie die Ukraine zu überfallen, wie soll sich Russland dann in wenigen Jahren mit der NATO anlegen?

Kiessling: Es geht nicht darum, dass wir uns von Trump treiben lassen. Wir müssen uns von ihm unabhängig machen, gerade weil er so erratisch ist. Es ist möglich, dass die russische Armee aus dem Krieg mit der Ukraine gestärkt hervorgeht. Sie lernt jeden Tag dazu, sie rekrutiert ohne Ende, sie investiert und sie rüstet an der gesamten NATO-Ostflanke auf.

Zerger: Natürlich ist Putin ein Despot. Aber welches Interesse sollte er haben, die NATO anzugreifen? Er versucht, den Westen an vielen Stellen zu destabilisieren. Die Gefahr eines direkten militärischen Angriffs halte ich aber für gering. Erst mal hat Putin es geschafft, dass mit Schweden und Finnland zwei weitere Länder der NATO beigetreten sind. Der Fokus muss wieder mehr auf eine neue Friedensarchitektur gelegt werden.

Kiessling: Wir sind offensichtlich doch unterschiedlicher Meinung, ob der Bedarf da ist oder nicht. Eine Friedensarchitektur kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten tatsächlich an Verhandlungen und Kompromissen interessiert sind, und das sehe ich bei Russland nicht.

DSGVO Platzhalter

Sie halten es also für falsch, so viel Geld in Soldaten und Panzer zu ­stecken, Herr Zerger?

Zerger: Mehr Rüstung heißt eben auch weniger Ausgaben im sozialen Bereich. Bei den Freiwilligendiensten diskutieren wir im Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 gerade über eine Kürzung von 40 Millionen Euro. Die Kosten für Wehrpflicht und allgemeinen Pflichtdienst liegen zwischen 15 und 18 Milliarden Euro – je nachdem, wie viele Leute eingezogen werden.

Kiessling: Da rechnen Sie jetzt mit wirklich großen Zahlen. Aber klar, die ­Wehrpflicht kostet Geld. Dreieinhalb oder sogar fünf Prozent der Wirtschaftsleistung sind eine Menge Geld, aber wir müssen den Schalter im Kopf umgelegt bekommen, dass wir leider nicht mehr mit einer Friedensdividende leben können. Es tut mir um jeden Euro weh, den man in ein Krankenhaus, in eine Kita, in eine soziale Einrichtung stecken könnte. Aber wenn der Aggressor unsere Art des Lebens angreifen möchte, dann müssen wir bereit sein, uns zu verteidigen.

Zerger: Den freiwilligen Wehrdienst bricht rund jeder Vierte ab. Da muss man erst mal rangehen. Wenn die Bundeswehr das Setting verbessert, bei der Anwerbung und Ausbildung, dann kann sie auch genügend Freiwillige finden.

Was glauben Sie, warum will kaum jemand zur Bundeswehr?

Kiessling: Die Bundeswehr wird von vielen nicht wirklich als fester Teil der Gesellschaft gesehen. Wir hatten kürzlich das erste Mal den Veteranentag, der wurde teilweise mit viel Skepsis und Ablehnung aufgenommen. Dazu kommt, dass in den letzten 20 Jahren viel zu wenig investiert wurde. Wenn dann zusätzlich zu den materiellen Problemen auch noch Soldaten den Dienst quittieren, müssen die Kameraden einspringen und Überstunden leisten. Das macht den Dienst noch unattraktiver, und so zieht sich die Spirale immer weiter nach unten.

Soldaten bei einer nächtlichen Übung auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz.
Soldaten bei einer nächtlichen Übung auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz.Lucas Bäuml

Zerger: Dann sollte die Bundeswehr erst mal diese Probleme lösen. Die Rüstungsausgaben sind in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen, nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine. 2013 ­betrug der Verteidigungshaushalt rund 33 Milliarden Euro, 2020 waren es schon 46 Milliarden, und im vorigen Jahr dann 52 Milliarden. Da ist noch nicht das Sondervermögen dabei und auch nicht die künftige Ausnahme von der Schuldenbremse.

Viele Unternehmen sind von einer Dienstpflicht nicht begeistert. Sie bindet Arbeitskräfte, das Ifo-Institut rechnet mit 70 Milliarden Euro ­weniger Wirtschaftsleistung.

Kiessling: Der Arbeitskräftemangel ­betrifft ja auch die Bundeswehr. Das ist dann auch eine Frage der Priorisie- rung, ob wir verteidigungsfähig sein wollen. Und die 70 Milliarden Euro ­beziehen sich darauf, dass der gesamte Jahrgang zur Bundeswehr geht. Das wird aber vermutlich gar nicht der Fall sein.

Zerger: Im Moment haben wir den Personalmangel im Sozialbereich auch, weil dort schlecht bezahlt wird. Das Problem würde sich noch verschärfen, wenn durch eine teure Wehrpflicht weniger Geld fürs Soziale übrig bleibt.

Herr Zerger, Sie wollen statt Pflicht ein Recht auf Freiwilligendienste. Was genau heißt das?

Zerger: Es heißt, dass jeder Mensch, der einen Freiwilligendienst machen will, das auch kann – und wir nicht jedes Jahr aufs Neue ums Geld dafür streiten müssten. Und wenn so ein Dienst mehr ins ­Gespräch kommt, dann würde sich auch ein Teil für die Bundeswehr entscheiden.

Herr Kießling, welches Modell schwebt Ihnen vor?

Kiessling: Gut fände ich einen verpflichtenden gesellschaftlichen Dienst für Männer und Frauen, bei dem man auch zur Bundeswehr gehen kann – auch wenn es für die Frauen eine Verfassungsänderung bräuchte. In einer generationengerechten Traumwelt würde ich einen sozialen Dienst auch für die Zeit nach Renteneintritt in den Raum stellen.

Weil Rentner zu wenig arbeiten, wie der CDU-Generalsekretär sagt?

Kiessling: Überhaupt nicht. Aber es geht auch nicht, dass alles auf unserer Generation abgeladen wird: Klima, Rente, Schulden oder eben die Landesverteidigung. Deshalb müssen auch die Älteren in die Verpflichtung genommen werden. Wenn sie früher schon Wehr- oder Zivildienst gemacht haben, würde das natürlich angerechnet.

Herr Zerger, dann wären Sie gar nicht dran, weil Sie schon Zivildienst gemacht haben. Trotzdem gefragt: Hätten Sie später als Rentner Lust auf ein Gesellschaftsjahr?

Zerger: Da gilt genauso das Prinzip der Freiwilligkeit, das ich auch für die jungen Leute in Anspruch nehme. Der Bundesfreiwilligendienst ist ja altersoffen.

Was wäre ein Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit, den Sie sich persönlich vorstellen könnten?

Zerger: Es gibt zum Beispiel den zivilen Friedensdienst, der in der Vor- und Nachsorge von Konflikten tätig ist und nach den Balkan­kriegen vor Ort am Abbau von Feindbildern gearbeitet hat. So etwas kann ich mir gut vorstellen, auf freiwilliger Basis.

Hier in dieser Runde ist der Jüngere für die Wehrpflicht, der Ältere ­dagegen. Müsste es nicht eigentlich umgekehrt sein?

Zerger: Na ja, Sie haben uns für dieses Streitgespräch doch so ausgesucht!

Vielleicht hat diese Kombination doch auch einen tieferen Grund. Früher schien der gesellschaftliche Fortschritt mit der Friedensbewegung verbunden zu sein, heute muss er gegen Putin ­verteidigt werden?

Zerger: Aber mit der Bundeswehr und dem Fortschritt ist das so eine Sache. Da sind teilweise noch sehr tradierte Männlichkeitsbilder vorhanden. Wenn man befürchten muss, in der Truppe auf Schwulenfeindlichkeit zu stoßen, dann fördert das den freiwilligen Wehrdienst nicht gerade.

Kiessling: Da ist noch viel zu tun, das stimmt. Aber die Breite an Menschen in der Bundeswehr wird größer, sie wird immer vielfältiger. Darum geht es ja gerade, dass die Armee ein Spiegel der Gesellschaft wird.

Zum Abschluss: Hat Sie dieses ­Gespräch auf neue Gedanken ­gebracht?

Zerger: In der Gesamtabwägung bleibe ich bei der Freiwilligkeit. Aber es gibt natürlich auch Argumente der anderen Seite, wo ich sage: Die haben eine gewisse Berechtigung.

Kiessling: Der Zeitgeist ist einfach ein anderer zwischen unseren Generationen. In meiner Generation halten wir es nicht mehr für selbstverständlich, was wir haben. Am Ende des Tages wollen wir alle Frieden in Deutschland, Frieden auf der Welt. Da sind wir beide sehr humanistisch getrieben.