Frau Bär, diese Begegnung mit der jungen Elite der Chemieforschung und den vielen Nobelpreisträgern hier in Lindau, ist das für Sie reine Kür, oder sollten sich Forschungspolitiker in diesen Zeiten nicht viel häufiger mit den kreativen Leuten zusammensetzen?
Das ist wirklich ein Großereignis, das ich schon seit vielen Jahren medial gespannt verfolgt habe. Heute hier zu sein, ist für mich sehr spannend, allein wenn man hier reinkommt, spürt man schon einen ganz besonderen Geist. Es ist toll, dass wir das in Deutschland machen, so geht internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit.
Sie möchten aus Deutschland wieder ein Toptechnologieland machen. Das Geld ist aber immer noch knapp, das ist in den Debatten um die Stromsteuer zuletzt sehr klar geworden. Haben Sie bei den sechs Schlüsseltechnologien, die Sie in Ihrer Regierungserklärung aufgezählt haben, schon eine Prioritätenliste angelegt?
Alle sechs Schlüsseltechnologien sind prioritär und gleichermaßen Schwerpunktthemen: Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie, Kernfusion, Mikroelektronik, Biotechnologie, klimaneutrale Energieerzeugung und klimaneutrale Mobilität. Das ist tatsächlich eine Prioritätenliste, und für die Umsetzung der Hightech-Agenda sieht es aktuell gut aus, was die Mittel betrifft.
Wann soll es losgehen, und wie viel Geld wird es geben?
Wir sind mittlerweile in die Ressortabstimmung gegangen und sind zuversichtlich, jetzt im Sommer einen Kabinettsbeschluss für unsere Hightech-Agenda Deutschland herbeizuführen. Unser Ziel bleibt, so steht es ja auch im Koalitionsvertrag, die Hightech-Agenda im Austausch mit den Bundesländern sowie Wissenschaft und Wirtschaft zu entwickeln.

Viele Forscher werden sich jetzt ganz schnell überlegen, wie sie auch etwas vom Kuchen abbekommen können.
Natürlich merken wir den starken Zuspruch von außen. Aus sehr unterschiedlichen Bereichen kommen Vorschläge, um noch Teil der Agenda zu werden, das ist sehr spannend.
Interessen, die Sie sicher nicht alle bedienen können. Ganz klar bekennen Sie sich zu einer anwendungsmaximierten Forschung, wie Sie das nennen. Hier in Lindau sind wir allerdings bei Spitzenforschern, die immer wieder betonen, wie wichtig die Grundlagenforschung ist. Können Sie verstehen, dass Wissenschaftlern der Fokus auf Transfer durchaus Sorgen bereitet?
Diese Sorge ist unbegründet, denn wir können das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wie wichtig die Grundlagenforschung ist, habe ich seit meinem Amtsantritt immer wieder betont. Im Koalitionsvertrag steht sehr klar, dass wir eine Deutsche Anwendungsforschungsgemeinschaft gründen wollen, das ist zwischen Bund und Ländern festgelegt. Ich bin mir sicher, alle Nobelpreisträger, die Ihnen hier sagen, wie wichtig die Grundlagenforschung ist, würden es auch gut finden, wenn ihre Erkenntnisse in der Anwendung das Leben der Menschen verbessern. Oder wenn mit ihrer Grundlagenforschung eine Wertschöpfung entsteht, auch Wettbewerbsfähigkeit und mehr Souveränität. Wir müssen den Transfer von „Lab to Life“ besser hinbekommen.
Gerade in der Grundlagenforschung hat Deutschland aber etwas zu verlieren, da sind wir weltweit führend.
Ich frage mich dennoch, warum wir „nur“ in der Grundlagenforschung spitze sind und warum wir seit vielen Jahren nicht den Sprung in die Anwendung schaffen. Wir möchten in diesem Bereich auch endlich spitze werden. Grundlagenforschung und Anwendungsforschung sind zwei tragende Säulen. Wenn eine Säule zu kurz ist, kippt das ganze Gebäude. Es sind darüber hinaus kommunizierende Röhren, die miteinander interagieren müssen. Wenn Forschung in die Anwendung kommt, kann sie die Wirtschaft zum Florieren bringen. Deutschland und ganz Europa können dadurch resilienter und sicherer werden.
Marktnahe Forschung nennen das manche. Gefällt Ihnen der Begriff?
Zuerst ein Beispiel: Als ich Digitalstaatsministerin war, fand ich es extrem ärgerlich, dass der MP3-Player in Deutschland erfunden wurde, aber in den USA damit Geld verdient wurde. Es ist nichts Verwerfliches, mit guten Ideen auch Geld verdienen zu wollen.
Viele akademische Fächer haben gar nichts mit Geldverdienen zu tun.
Da ich selbst Geisteswissenschaftlerin bin, würde ich nie sagen: Braucht man nicht. Es wird viele überraschen, aber auch die Geisteswissenschaften gehören in unsere Hightech-Agenda.
Ich danke an die moralisch-ethische Dimension von Technologien. Zum Beispiel KI, das wird ganz deutlich, wenn man auf manche Debatte in den USA schaut. Natürlich muss es eine menschenzentrierte Künstliche Intelligenz geben. Eine KI, die auf unserem europäischen Wertesystem aufgebaut ist. Ich halte das sogar für zwingend. Natürlich wird das kontrovers gesehen, auch bei uns im Haus gab es ein gemischtes Bild. Aber ich habe entschieden, dass wir das auf jeden Fall so machen. Der Mensch muss immer im Mittelpunkt des Handelns stehen. Die moralisch-ethische Reflexion ist ein ganz großer Standortvorteil gegenüber den USA oder China.
Wird das eine Art Begleitforschung, wie ehedem beim internationalen Humangenomprojekt?
Es soll eher ein eigenständiger Teil der Forschung sein, um zu untersuchen und zu verdeutlichen, wie sich die jeweilige Technik auf die Menschen und die Gesellschaft als Ganzes auswirkt.
Dafür sind dann Mittel aufzubringen, die in anderen Disziplinen schmerzlich vermisst werden. Haben Sie das Geld?
Mit einer Milliarde zusätzlicher Mittel im Kernhaushalt plus der Gelder aus dem Sondervermögen haben wir einen soliden Rahmen gebaut. Das muss jetzt natürlich erst einmal im Parlament diskutiert und dort im September abgestimmt werden. Aber klar ist, dass bei uns zahlreiche Synergieeffekte entstehen, die am Ende auch der Wirtschaft zugutekommen. Der Haushalt des Bundesforschungsministeriums besteht fast ausschließlich aus investiven Maßnahmen.
Die Raumfahrt nennen Sie gerne als Beispiel, wenn es um Nutzen geht. Welche Art Raumfahrtforschung hat Priorität? Erdbeobachtung ist etwas anderes als eine Mondmission, die dem bayerischen Ministerpräsidenten vorschwebt.
Raumfahrt sichert die Fähigkeit, unabhängig auf kritische Technologien wie Satellitenkommunikation, Erdbeobachtung und Navigation zugreifen zu können. Außerdem ist die Raumfahrtindustrie ein Innovationsmotor, der hochwertige Arbeitsplätze schafft und deren Investitionen weit über die Branche hinauswirken. Ich werde im September einen großen Raumfahrt-Start-up-Gipfel veranstalten und gemeinsam mit dem Bundesverband Deutsche Startups in unser Haus einladen. Wir wollen Synergien nutzen zwischen dem DLR, der ESA und internationalen Playern wie Japan, mit denen wir vor drei Wochen eine entsprechende Absichtserklärung für die zivile und friedliche Nutzung der Raumfahrt unterschrieben haben. Raumfahrt ist strategisch wichtig für unsere Souveränität, gerade im Satellitenbereich. In Russlands Krieg gegen die Ukraine sehen wir, wie ungut es ist, ausschließlich von einem privaten Player wie Starlink abhängig zu sein. Unabhängigkeit ist existenziell für uns.
Aufgefallen ist auch Ihre Schwerpunktsetzung in der Gesundheitsforschung. Was darf man sich davon erhoffen?
Die liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich finde es großartig, wenn Ministerien ressortübergreifend Gutes bewirken können. Ohne Gesundheit ist alles nichts. Ich habe schon Jahre lang, aus anderen Zuständigkeiten heraus, das Gesundheitsthema an oberste Stelle gestellt. Gerade in der Frauengesundheitsforschung haben wir großen Nachholbedarf. Hier kann man großes Leid lindern. Zum Beispiel beim Thema Endometriose. Manchmal dauert es heute noch bis zu zwanzig Jahre, dass Frauen eine gesicherte Diagnose erhalten. Das Thema ist noch nicht bekannt genug. Im Medizinstudium wird der weibliche Körper kaum betrachtet. Daher fehlen auch Daten und Forschungsergebnisse beim Thema Menopause. Der volkswirtschaftliche Schaden daraus ist enorm. Die Briten sind da viel weiter als wir. Kurz nach meinem Amtsantritt haben wir die Mittel für die Endometrioseforschung von drei auf 8,5 Millionen Euro hochgesetzt. Auch beim Thema Post-Covid und ME/CFS werde ich nach der Sommerpause zusammen mit Gesundheitsministerin Nina Warken vorangehen.

Gesundheitsforscher hört man trotzdem öfter denn je klagen, etwa über den Datenschutz, der den Fortschritt lähmt. Wird die Regierung die Bereitstellung von Gesundheitsdaten fördern?
Das Forschungsdatengesetz ist in Vorbereitung. Die Datenspende ist eine Frage der Motivation. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern noch besser erklären, dass wir eigene Daten brauchen, auch anhand von Opt-out – jeder kann es auch ablehnen. Es nützt uns nur nichts, wenn wir mit asiatischen Datenbanken arbeiten. Man könnte auch fiskalisch dazu motivieren, sprich: mehr finanzielle Anreize durch die Krankenkassen schaffen, wie es das zum Teil schon gibt. Auszahlungen und Beitragsnachlässe könnten als Anreiz dienen, anonymisierte Gesundheitsdaten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Das finde ich persönlich nicht verwerflich. Apple weiß alles über die Apple-Nutzer, und zwar nicht anonymisiert. Gleichzeitig soll der deutsche Staat nichts über mich wissen? Das macht keinen Sinn. Diejenigen, die am lautesten fordern, dass ihre Daten nicht zu Forschungszwecken genutzt werden, haben häufig gleichzeitig eine Payback-Karte im Geldbeutel stecken. Da ist viel mehr Überzeugungsarbeit zu leisten.
Haben Sie dazu eine Initiative geplant?
Hier spielt der Wissenschaftsjournalismus eine wichtige Rolle, gerade wenn eine Fraktion im Bundestag sitzt, die wissenschaftsgeleitete Kriterien nicht respektiert. Wir müssen dringend gerade dem Wissenschaftsskeptizismus etwas entgegensetzen. In der Hinsicht war ich auch schon mit meiner österreichischen Kollegin im Gespräch.
Als eine Maßnahme gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit gilt auch das 1000-Köpfe-Programm, das im Koalitionsvertrag steht. Merken Sie schon einen Anziehungseffekt, dass Forscher aus den USA zu uns kommen wollen?
Ich nenne es 1000-Köpfe-Plus. Das Programm ist mit den jüngsten Entwicklungen in den USA noch notwendiger geworden. Es zeigt einmal mehr: Der wahre Hort der Wissenschaftsfreiheit ist Europa. Deutschland ist ein exzellenter Wissenschafts- und Forschungsstandort, das hat mir erst vor Kurzem die Auswahl der zukünftigen Exzellenzcluster gezeigt. Wir sind jetzt schon, nach den USA, mit unserer verfassungsrechtlich garantierten Wissenschaftsfreiheit, der zweitattraktivste Wissenschaftsstandort weltweit. Bei dem Thema werden wir aber nicht aggressiv abwerbend vorgehen. Mir geht es auch nicht nur um die USA. Was wir jetzt allerdings schon merken, ist, dass diejenigen, die aus Amerika zu uns zurückkommen, in der Regel Europäer sind. Die Amerikaner selbst gehen eher nach Kanada.
Ich hatte in Japan ein langes Gespräch mit Professorinnen und Professoren, die erzählten, dass inzwischen kein Nachwuchswissenschaftler mehr in die USA, sondern alle nach Europa und am liebsten nach Deutschland kommen möchten. Die meisten wollen allerdings schon im Bachelorstudiengang kommen, nicht erst zum Master. Wir haben leider immer noch zu wenige Bachelorstudiengänge auf Englisch. Das sollten wir beschleunigen. Die Internationalisierung von Studiengängen erfordert eine gezielte Entwicklung von Förderangeboten, die sämtliche Phasen der wissenschaftlichen Laufbahn – einschließlich der Promotionsphase – adressieren. Ein entsprechender Zeitplan wurde bereits aufgestellt und wird im Zuge der Haushaltsvereinbarungen festgelegt, sodass die organisatorischen und administrativen Voraussetzungen in meinem Ressort weitgehend implementiert sind. Mein Ziel ist es, die ersten internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des „1000-Köpfe-Plus-Programms“ am Flughafen zu empfangen und so ein sichtbares Zeichen für die Willkommenskultur und die institutionelle Bereitschaft zur Förderung exzellenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu setzen.
Ist die Partnerschaft mit den USA bedroht angesichts offen wissenschaftsfeindlicher Maßnahmen, wie jenen von US-Gesundheitsminister Robert J. Kennedy, der jüngst den nationalen Impfbeirat ausgetauscht hat?
Ein Drama – das ist hochdramatisch, was da passiert. Es lässt einen fassungslos zurück, wenn der US-amerikanische Gesundheitsminister mit seinen minderjährigen Enkelkindern in einen vergifteten Fluss steigt, um zu beweisen, dass es nicht schadet. Als Gesundheitsminister sollte man Vorbild sein. Trotzdem müssen wir die Partnerschaften mit US-Forschern natürlich weiter pflegen. Ich bin Transatlantikerin mit Leib und Seele, habe in den USA meinen Highschool-Abschluss gemacht. In unserer Zeit waren die USA der große Traum eines jeden. Meine Tochter hat letztes Jahr Abitur gemacht, von den Mitabiturienten zieht es kaum jemanden mehr in die USA. Australien ist heute das große Sehnsuchtsland. Als Regierung kämpfen wir weiter dafür, dass der Austausch der Studentinnen und Studenten weiter möglich ist. Der Bundestag bietet beispielsweise das großartige Parlamentarische Patenschafts-Programm, PPP, mit den USA an, für Schülerinnen und Schüler. Diesen Austausch muss es weiterhin geben.
Wie steht es um die Bedrohungen für die Wissenschaftsfreiheit im eigenen Land? In der Aussprache zu Ihrer Regierungserklärung gab es vonseiten der AfD sehr aggressive Töne, die über Denk- und Sprechverbote für wissenschaftskritische Stimmen sprachen. Harte Einschnitte wurden gefordert. So ähnlich wie unlängst US-Präsident Trump mit seinem Dekret „Restore Golden Standard Science“, der die Wissenschaften unter politische Kuratel stellen möchte.
Welche Denkverbote, mir sind keine Denk- und Sprechverbote bekannt. Ich sehe die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nicht in Gefahr. Außer durch Abgeordnete, die behaupten, dass sie in Gefahr sei. Sie ist bei uns ganz fest im Grundgesetz verankert. Von den Gefahren sprechen Leute, die die Wissenschaft selbst in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Das ist tatsächlich eine Gefahr. Und wenn deren Vorbild US-Vizepräsident J. D. Vance ist, der Universitäten und ihre Professoren für seine Feinde hält, dann wird sehr deutlich, wes Geistes Kind diese sind. Wir müssen lernen, nicht nur im Bereich der Universitäten stärker zwischen Wissenschaft und persönlicher Meinung zu unterscheiden. Wir müssen auch Dinge akzeptieren können, die uns nicht gefallen, aber wissenschaftlich evaluiert und belegt sind.
Anders kommunizieren, fordern Sie. Die Kommunikation sei veränderungsbedürftig. Soll die von Ihnen angekündigte Stiftung nun kommen, die helfen soll, den Wissenschaftsjournalismus zu stärken und die Vermittlung von Wissenschaften zu verbessern?
Fest steht, dass der Wissenschaftskommunikation angesichts der Herausforderungen unserer Zeit eine besondere Rolle zukommt. Sie trägt grundlegend zu Vertrauen in die Wissenschaft bei, und sie fördert die Resilienz der Gesellschaft. Unser Ziel ist es, die Wissenschaftskommunikation und den Wissenschaftsjournalismus in Deutschland zu stärken. Dafür werden wir die Wissenschaftskommunikation als zentralen Bestandteil im Wissenschaftssystem verankern.