Auf der Schultoilette, wir waren vielleicht 14 und standen beide vor dem Spiegel, fragte mich eine Freundin mal: “Was an deinem Gesicht findest du am hässlichsten?” Auf meine Antwort hin (Augenbrauen) sah sie mich an: “Nicht deine Nase?” Wir starrten unsere Körper an, und an manchen Tagen hassten wir sie. Wenn uns jemand einen anderen angeboten hätte, wir hätten ihn wahrscheinlich genommen. Irgendwann reichten die Spiegel nicht mehr. Mit dem Selbstauslöser einer Digitalkamera versuchten wir einzufangen, wie wir wirklich aussahen. Wollten wissen, wie andere uns sehen. Wollten uns selbst begegnen, in einem unbeobachteten Moment.
Nur: Wie sollte das gehen? Und was würde eigentlich passieren, wenn wir uns mit den Augen eines anderen betrachteten? Kämen wir uns näher? Oder würden wir uns fremd? Gerade gibt es ein viel diskutiertes Kunstwerk, das all diese Fragen aufwirft: Little Room nennt sich die Installation des US-amerikanischen Künstlers Jordan Wolfson, aufgebaut in der Fondation Beyeler nahe Basel. Sie ist nicht zuletzt ein großer Erfolg, weil sie auf diese zwei jugendlichen und zugleich erschreckend zeitlosen Sehnsüchte antwortet: sich selbst wirklich zu sehen – und diesem Selbst gleichzeitig zu entkommen.
Der Versuchsaufbau ist technisch komplex und zugleich denkbar einfach: Zwei Museumsbesucher tauschen ihre Körper. Ich trete dafür in den Ganzkörperscanner im Untergeschoss der Fondation Beyeler, 96 Kameras blitzen gleichzeitig und übersetzen mich in einen riesigen Datensatz.
Mein Gegenüber, in das ich mich verwandeln soll, ist ein Mann, den ich nicht kenne, um die 30, blond, wenig Haare, bestimmt zwanzig Zentimeter größer als ich. Wenn unsere Scans abgeschlossen sind, werde ich eine Virtual-Reality-Brille aufsetzen, an meinem Körper herabschauen und dort seine langen Finger sehen, seine Barfußschuhe. Werde mit meinem Körper seinen Avatar steuern. Während unsere Scans hochgeladen werden, warten wir an einem kleinen Tisch wie bei einem Blind Date: Hi, na, ich bin auch gespannt, ja, hatte noch nie so eine Brille auf.
Die Vorstellung, Teil von Jordan Wolfsons Kunstwerken zu werden, ist nicht übermäßig reizvoll. Den einen gilt er als geniales Enfant terrible der Kunstszene, den anderen als jemand, der unpolitische Kunst zu hochpolitischen Themen macht. In einem Interviewmit dem New Yorker meinte er mal: “Die Leute sagen, meine Arbeit ist wirklich düster. Nichts ist verboten, keine Zensur.” Sein wohl kontroversestes Werk Real Violence (2017) zeigt, wie Wolfson mit einem Baseballschläger auf einen Mann einprügelt, bis er verblutet – durch eine VR-Brille sieht die Besucherin ihm dabei zu. In Colored Sculpture (2016) kracht ein rothaariger Roboter-Junge immer wieder aus einigen Metern Höhe zu Boden. Und in seiner Arbeit Female Figure (2014) tanzt ein mechanisches Go-go-Girl mit Hexenmaske einen erotischen Horrortanz vor einem Spiegel. Jetzt, nach jahrelangen Arbeiten mit künstlich belebten Skulpturen, macht Wolfson uns, das Publikum, zu seinen Puppen – zu Avataren mit weit aufgerissenen Augen. Cyborgs, die sich selbst anstarren.
Gerade ist es ein älteres Paar, ihre VR-Brillen auf dem Gesicht, das sich ein wenig hilflos durch Wolfsons Installation tastet (“Mein Rock sieht aber komisch aus”, “Ich sehe auch komisch aus, ganz tot”). Wolfson sagte vor einigen Jahren, ihn interessiere in seiner Kunst die Allgegenwärtigkeit der Gewalt. Dafür ist es hier, im Little Room, ganz schön still. Ich setze die VR-Brille auf. Plötzlich sind da virtuelle Wände, die rot leuchten, wenn ich dagegenlaufe. Wohl damit ich nicht die Kabel meiner Brille rausreiße, an denen ich hänge, als hätte mich die echte Welt gerade noch so an der Leine. Die weiße Decke der Ausstellungshalle wird zu schwarzem Himmel, ich sehe Fliesenboden, wo gerade noch Parkett war. Und dann begegne ich mir selbst.
“Gottestrick”, so hat es die Philosophin Donna Haraway einmal genannt: den Blick von überall aus, der eine universelle Wahrheit erfassen kann. Haraway beschrieb damit die Idee einer vermeintlich objektiven Wissenschaft, die meint, über allem zu schweben und alles beherrschen zu können. Als Jugendliche suchten wir in Schulklospiegeln und Kameralinsen genau einen solchen Gottestrick. Jemand sollte uns sagen, wie wir wahrhaftig aussahen.