Druck auf Brandmauer nach links wächst

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Matthias Miersch ist ein freundlicher Mann. Insofern fiel das Bild auf, das der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion seinen „Worten und Gedanken“ zur Sommerpause vorangestellt hatte. Die Augen schauen gewohnt freundlich. Aber der Mund ist ein geschlossener gerader Strich, die Arme sind vor der Brust verschränkt. Noch vor der Lektüre seiner langen Botschaft an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, lieben Genossinnen und Genossen“ entstand der Eindruck, dass hier jemand spricht, der in der Koalition ergebnisorientiert weiterarbeiten möchte, aber kritische Anmerkungen hat.

Diese Anmerkungen richteten sich, wie überhaupt der entscheidende Teil seiner Botschaft, nicht ans große Publikum – sondern an die Union, die Koalitionspartnerin der Sozialdemokraten. Miersch hat seine Botschaft am Freitagabend um 18.06 Uhr verschicken lassen.

Hinter den Koalitionären lag das, was als gebrauchter Tag bezeichnet wird: Trotz vorheriger Absprachen mit den Sozialdemokraten zur Wahl dreier Verfassungsrichter hatte die Führung der Unionsfraktion die erforderlichen Stimmen für die von der SPD benannte Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht zusammenbekommen. Der Vorsitzende der Unionsfraktion Jens Spahn musste zusammen mit Bundeskanzler Friedrich Merz (beide CDU) die weiße Flagge vor den Kritikern aus den eigenen Reihen hissen. Am Ende fand gar keine Wahl statt.

Miersch nahm sich den Koalitionspartner direkt vor

Miersch, der bisher ein stabiles Scharnier im schwarz-roten Zusammenwirken ist, kritisierte zunächst grundsätzlich, dass Brosius-Gersdorf „mit aus dem Zusammenhang gerissenen politisch interpretierbaren“ Aussagen aus der Vergangenheit „in ein schlechtes Licht gerückt“ worden sei. Schon das zielte auf die Union und deren Kritik, die Einstellung der Kandidatin zum ungeborenen Leben sei zu liberal.

Dann aber nahm sich Miersch den Koalitionspartner direkt vor: „Auch, dass die Union, die auf Elon Musks Plattform X erhobenen Plagiatsvorwürfe durch einen österreichischen Akteur – der in der Vergangenheit oft ähnliche Vorwürfe ohne Erfolg gegen andere erhoben hat“, als Grundlage dafür genommen habe, Brosius-Gersdorf nicht wählen zu wollen, „entbehrt meiner Auffassung nach jeder sachgerechten Grundlage“. Miersch ließ keinen Zweifel: Die SPD hält an ihrem Vorschlag fest. Damit ging es ins Wochenende.

Der Druck von links auf die Union wurde erhöht. Die Sozialdemokraten schlugen vor, Brosius-Gersdorf solle direkt mit den Abgeordneten der Union sprechen. Damit stand die Frage im Raum: Will die Union mit einer Bewerberin, für deren Wahl sich sowohl der Fraktionsvorsitzende als auch der Bundeskanzler ausgesprochen hatten, nicht einmal reden? Offenbar fällt die Entscheidung schwer.

Noch am Samstagabend wurde der F.A.Z. aus der Führung der Unionsfraktion mitgeteilt, jetzt werde erstmal intern beraten. Der CDU-Abgeordnete und Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion Steffen Bilger mahnte zur Gelassenheit. „Jetzt sollten erstmal alle etwas runterkommen und dann besprechen wir in Ruhe mit der SPD das weitere Verfahren“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Und der Chef? Friedrich Merz moderierte vom Schützenfest im heimatlichen Arnsberg-Niedereimer aus den Streit erstmal ab: „Wir arbeiten sogar mit den Sozialdemokraten in dieser Koalition richtig gut zusammen“, sagte er. Das zeige, dass die politische Mitte in der Lage sei, zusammenzuarbeiten, zusammen zu regieren und dafür zu sorgen, „dass unsere Demokratie in der Mitte stabil bleibt“.

Steinmeier: Koalition hat sich selbst beschädigt

Da wussten die Unionsleute noch nicht, was von 14.26 Uhr an über die Nachrichtenagenturen verbreitet werden würde: ein Donnerschlag aus Schloss Bellevue. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist der Auffassung, die Koalition habe Schaden genommen. Im ZDF-Sommerinterview sagte er: „Ich glaube, wenn man einen Blick in die Zeitungen vom Wochenende wirft, dann lernt man sofort, die Koalition hat sich jedenfalls selbst beschädigt.“

Während die Union den Anschein erweckte, es gehe nur um die Wahl einer Richterin am Bundesverfassungsgericht, über die man sich mit dem Koalitionspartner einigen müsse, wurde SPD-Fraktionschef Miersch grundsätzlicher. Man müsse die Sommerpause „zwingend nutzen, um diesen Vorgang mit der Union in aller Gründlichkeit aufzuarbeiten“, hieß es in seinem Brief an Mitbürger und Genossen. Das müsse geschehen, „damit wir in den kommenden Jahren eine vertrauensvolle und zielorientierte Regierungsarbeit“ erreichen.

Damit erweckte Miersch den Eindruck, dass die gesamte Zusammenarbeit der Regierung noch nicht vertrauensvoll ist. Für das Grundsätzliche schob er gleich einige Beispiele hinterher. Er erwähnte die „rechnerische Mehrheit“ von AfD und CDU/CSU im Parlament und warnte, bei einer solchen „rechten Mehrheit“ könnten „weitaus negativere Maßnahmen“ beschlossen werden. Miersch nannte den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte, den CDU und CSU unbegrenzt hätten aussetzen wollen. Die SPD habe für eine Begrenzung auf zwei Jahre gesorgt. Er erwähnte auch den besonders wunden Punkt der CDU, nämlich dass diese noch im Wahlkampf gegen die Reform der Schuldenbremse gewesen sei, und kritisierte, „einige in der Union“ hätten die Energiewende verlangsamen wollen.

Nach zwei Monaten keine Harmonie

Als erste Bilanz der Zusammenarbeit nach zwei Monaten klingt all das nicht nach Harmonie. Übertragen auf eine Ehe ist das so, als würde einer der beiden Partner nach den Flitterwochen sagen: Schätzchen, kann das wirklich klappen mit uns?

Während die Union das ganze Wochenende darüber nachdachte, ob ein Gespräch mit Frauke Brosius-Gersdorf eine gute Idee ist, trieb der Bundesinnenminister und nach Parteichef Markus Söder wichtigste CSU-Politiker, Alexander Dobrindt, das große Thema „Mit den Linken reden“ voran. In Erinnerung an die Wahl des Kanzlers, als Merz im ersten Durchgang keine Mehrheit bekommen hatte und die Union die Hilfe der Linkspartei in Anspruch nahm, um am selben Tag einen zweiten – erfolgreichen – Wahlgang abzuhalten, sagte Dobrindt dem Deutschlandfunk, er „hätte auch in einem weiteren Fall, wenn es notwendig wäre, nicht das Problem, zum Telefon zu greifen und jemanden bei der Linkspartei anzurufen“.

Das sorgte in der Führung der Partei Die Linke keineswegs für Jubelstürme, sondern erstmal für eine verhaltene Reaktion. Deren Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek forderte die Union auf, sie müsse erstmal „dieses Problem“ aufarbeiten. Außerdem müssten CDU und CSU zeigen, „dass eine schwarz-blaue Koalition nicht ihr Ziel ist.“ Reichinnek verband das mit der Behauptung, dass eine solche Zusammenarbeit von Union und AfD unter Jens Spahn immer realistischer werde.

Damit ist für die Union die dritte, die oberste Ebene nach der Richterwahl im Speziellen und der Zusammenarbeit mit der SPD im Allgemeinen erreicht: Wie halten wir es mit den Brandmauern? Solange Merz und seine Truppen nicht den rechnerisch einfachsten Weg gehen und die Mehrheit nutzen, die Union und AfD miteinander haben, ist sie in unterschiedlichen Abstufungen von linken Parteien abhängig: beim Regieren von der SPD und beim Herstellen von Zweidrittelmehrheiten von Grünen und Linkspartei.

Aufweicherscheinungen nach links deutlich

Die abgeblasene Richterwahl am Freitag zeigt der Union ihr Dilemma in aller Deutlichkeit. Der Spielraum in der Mitte zwischen AfD und Linkspartei wird immer enger. Noch schwieriger wird es durch den Parteitagsbeschluss der Christdemokraten aus dem Jahr 2018, der eine Zusammenarbeit sowohl mit der AfD als auch mit der Linkspartei ausschließt. Merz sagte kürzlich in der ARD-Talksendung „Maischberger“, er sei als Parteivorsitzender weiterhin daran gebunden.

Doch wurden Aufweicherscheinungen nach links deutlich. Denn auf die Frage, ob er keinen Unterschied zwischen AfD und Linkspartei mache, sagte Merz: „Ich sehe da durchaus erhebliche qualitative Unterschiede.“ Zuvor hatte er zu einem „pragmatischen Umgang“ mit der Linkspartei aufgerufen und den christdemokratischen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer als Beispiel genannt.

Angesichts der fehlenden Zweidrittelmehrheit im Bundestag sei für ihn das „Allerwichtigste“, dass man nicht mit Extremisten zusammenarbeite, sagte Merz. Als extremistisch wurde kürzlich die AfD vom Verfassungsschutz eingestuft, nicht die Partei Die Linke. Spätestens der Hinweis des CDU-Vorsitzenden, es wäre damals besser gewesen, wenn die Partei zwei Unvereinbarkeitsbeschlüsse statt nur einen gefasst hätte, und man hätte auch eine „etwas größere Differenzierung vornehmen“ können, lässt erkennen, dass Merz anders auf die Linke als auf die AfD schaut. Eine Abgeordnete, die nicht genannt werden möchte, beschreibt es so, dass die Brandmauer nach links in der CDU wohl eher fallen werde als die nach rechts.

Zu viele Wenden

Allerdings lässt sich der Fall Brosius-Gersdorf nicht nur so erklären, dass die konservativen Abtreibungsgegner sie nicht haben wollen. Es gibt offenbar auch einen grundsätzlichen Überdruss an den Wenden von Merz auf dem Bierdeckel, auf dem er einst eine Steuererklärung unterbringen wollte. Erst bezeichnete er die AfD als „die Natter“, die man nicht mehr loswerde, wenn man sie erst am Hals habe, kurz darauf brachte er einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik in den Bundestag ein in dem Wissen, dass dieser vermutlich eine Mehrheit nur mit der AfD bekäme – was auch so geschah. Erst wurde die Schuldenbremse hochgehalten, dann über Nacht eine Verschuldung in Billionenhöhe ermöglicht. Erst sollten alle Verbraucher sofort von Stromsteuer entlastet werden, dann wurde das verschoben.

Selbst für Befürworter eines liberaleren Abtreibungsrechts war die Causa Brosius-Gersdorf eine Zumutung. Erst sollten sie den restriktiveren Kurs der Führung im Namen der Geschlossenheit mitmachen, dann auf einmal für eine Richterin stimmen, die in die andere Richtung marschiert.

Es waren offenbar der Wenden zu viele. Noch hält sich die Empörung aus den eigenen Reihen in Grenzen. Der Chef des CDU-Sozialflügels, Dennis Radtke, kritisierte die Vorgänge rund um die gescheiterte Richterwahl als „Autounfall in Zeitlupe“. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Bareiß sprach in diesem Zusammenhang von einem „ganz unguten Störgefühl“.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, der von Alter und Ehrgeiz her in derselben Kohorte des CDU-Führungsnachwuchses kämpft wie Spahn, verteidigte diesen, weil er „Demut“ gezeigt und „Verantwortung“ übernommen habe. Doch hatte Wüst bei der Jungen Union in Gummersbach auch gesagt: „Natürlich ist das in dieser Woche nicht gut gelaufen für uns als Union und für die Koalition in Berlin insgesamt.“