Eigentlich hatte man gedacht, solche Probleme wären jetzt gelöst. Die schwarz-rote Bundesregierung hatte sich großzügige Ausnahmen von der Schuldenbremse gesichert, jetzt ist Geld da. Und dann kam der Juli, mit ihm die Zeit, in der die Bundesregierung den Haushalt für das laufende Jahr aufstellte.
Dass die Wahlprogramme von Union und SPD finanzierbar sein würden, damit hatte niemand gerechnet. Plötzlich war aber sogar der erst zwei Monate alte Koalitionsvertrag nicht mehr gültig. „Wir werden als Sofortmaßnahme die Stromsteuer für alle auf das europäische Mindestmaß senken“, steht darin. Nun sollen Verbraucher die Reduktion nicht mehr bekommen, sondern nur die energieintensive Industrie. Die Begründung: Das Geld reicht nicht für alles. Es muss ja auch noch die Mehrwertsteuer für Gastronomen gesenkt und die Pendlerpauschale ausgeweitet werden, beides schon zum kommenden Jahreswechsel. Und ein Jahr später gibt’s dann noch mehr Rente für Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben.
20 Milliarden Euro an Mehrausgaben
Das klingt erst mal erstaunlich. Schließlich hat sich die Regierung mit ihrer Lockerung der Schuldenbremse ziemlich viel frisches Geld verschafft. In der Finanzplanung bis 2029 stehen insgesamt 847 Milliarden Euro an neuen Schulden. Bei der Stromsteuer geht es nur um fünf bis sechs Milliarden, allerdings pro Jahr. Auf fünf Jahre hochgerechnet, wären das schon 25 bis 30 Milliarden Euro. Die Abschaffung der Gasumlage, die tatsächlich kommen soll, kostet nur rund vier Milliarden Euro – einmalig. Denn hier geht es um die Kosten der Gasbeschaffung im Krisenjahr 2022, um ein abgeschlossenes Thema.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Der andere Teil der Erklärung ist: Trotz aller Schlupflöcher, alte Haushaltsposten in die neuen Schuldentöpfe zu verschieben und damit den Spielraum zu erweitern, sind diese Möglichkeiten endlich. Vor einem Jahr hatte der damalige Finanzminister Christian Lindner noch einen Haushaltsentwurf mit Ausgaben von 481 Milliarden Euro präsentiert. Bei Nachfolger Klingbeil sind es jetzt 503 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Infrastrukturausgaben aus dem Sondervermögen. Gut 20 Milliarden Euro an Mehrausgaben, das ist viel Geld, aber nicht genug, um alle Wünsche zu erfüllen – zumal hier auch Geld für die Bundeswehr enthalten ist, auch wenn es auf die Schuldenbremse nur noch zum kleinen Teil angerechnet wird. Außerdem sind aufgrund von Tariferhöhungen in der Zwischenzeit auch die Personalkosten gestiegen.
Niemand will an den teuren Wünschen der CSU rütteln
Hinzu kommt: Vorrang soll nach dem Willen der Koalitionspartner haben, was kurzfristig für mehr Wirtschaftswachstum sorgt oder Arbeitsplätze sichert. Deshalb die Strompreissenkung für die energieintensive Industrie, nicht aber für die Privathaushalte. Das Argument erinnert ein bisschen an den zweiten Corona-Lockdown im Winter 2020/21, als das produzierende Gewerbe fast schon einen Freifahrtschein erhielt, während Branchen mit wenig Wertschöpfung schließen mussten, die Gastronomie etwa oder die Kultur.
Und schließlich: An den teuren Wünschen der CSU will niemand rütteln, um das Regierungsbündnis nicht zu gefährden. Mit den vier Milliarden Euro, die der Staat von 2027 an jedes Jahr für die Mütterrente zuschießen muss, ließe sich die Stromsteuer-Senkung fast schon finanzieren. Hinzu kommen bis zu zwei Milliarden Euro jährlich für die Mehrwertsteuerbefreiung in der Gastronomie und eine Dreiviertelmilliarde für die erweiterte Pendlerpauschale.
„Das Geld reicht nie – insbesondere wenn es nicht das eigene ist“, sagt Andreas Peichl, Finanzwissenschaftler am Ifo-Institut in München. „Es gibt immer viele gute Wünsche – das kennt jeder, der Kinder hat. Und politökonomisch ist es immer leichter, Leuten mehr Geld zu geben, als Ausgaben zu kürzen und Verlierer zu generieren, die sich dann lautstark beschweren oder demonstrieren.“ Lobbyisten hätten immer gute Gründe, warum die Mehrwertsteuer für Restaurants sinken solle, die Agrardieselsubvention wichtig sei oder die Mütterrente eine gute Idee. „Die Aufgabe der Politik ist es, diese Wünsche zu gewichten und mit anderen Staatsaufgaben wie Verteidigung oder Investitionen abzuwägen. Das erscheint aber schwierig und unpopulär, und es fehlt in Berlin anscheinend der Mut dazu.“
„Jetzt passiert das, wovor eher konservative Ökonomen gewarnt haben“
Peichl sieht die Lehren noch grundsätzlicher. „Jetzt passiert daher genau das, wovor eher konservative Ökonomen bei der Lockerung der Schuldenbremse gewarnt haben: Die neuen Spielräume werden für kostspielige Wahlgeschenke genutzt und nicht sinnvoll in Infrastruktur oder Verteidigung investiert. Und auf die angekündigte Senkung der Stromsteuer wird verzichtet. Das ist ökonomisch nicht sinnvoll, da so nur der Staatskonsum weiter steigt und das zusätzlich verfügbare Geld nicht sinnvoll für Investitionen verwendet wird.“
Am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim sieht Friedrich Heinemann noch einen weiteren Grund. „Die Inflation der Jahre 2021 bis 23 hat die öffentlichen Haushalte anfangs entlastet über das Weginflationieren von Schulden. Jetzt wird aber der Preis dafür gezahlt: Die Kosten für Personal und öffentliche Leistungen sind stark gestiegen. Das schlägt mit Verzögerung, dafür aber stark durch auf die Kostendynamik.“
Das habe auch mit den Ergebnissen der vergangenen Bundestagswahlen zu tun. „Im Grunde haben wir seit 2013 und dem Ende der Koalition von Union und FDP keine Regierung mehr gehabt, die wirklich ordnungspolitisch so etwas wie einen Grundkonsens gehabt hätte“, resümiert der Forscher. Schröders Reformen seien noch in einer konsensualen rot-grünen Koalition auf den Weg gekommen. „Ohne einen solchen Konsens sind stabilisierende Reformen kaum möglich“, warnt Heinemann. „Der Wahlerfolg populistischer Parteien am linken und rechten extremen Rand führt dazu, dass die Regierungen aus den verbleibenden Kräften programmatisch immer uneiniger sind. Das lähmt.“ Welche Fliehkräfte das freisetzen kann, hat zuletzt auch die gescheiterte Verfassungsrichter-Wahl gezeigt.
„Sogar immense Sondervermögen reichen nicht mehr“
Auch das Sondervermögen sei vor diesen Mechanismen nicht gefeit, warnt Heinemann. „Wenn eine Billion Euro schuldenfinanzierte zusätzliche Staatsausgaben ins Schaufenster gestellt werden, dann laufen alle Lobbys zur Höchstleistung auf im Hinblick auf Ideen für neue Ausgaben.“ Beim Sondervermögen gehe es so: Anfangs sollte es um die wirtschaftsnahe Infrastruktur gehen. Jetzt könnten schon Stadttheater und Sportstätten davon profitieren. „Es ist klar, dass dann sogar immense Sondervermögen nicht mehr reichen, alle Wünsche zu erfüllen.“
Auf der anderen Seite steht, dass die Bundesregierung für Investitionen in diesem Jahr enorme Summen ausgeben will, mehr, als sich jetzt noch verbauen lassen. „Schon 2025 werden wir die Investitionen auf 110 Milliarden Euro erhöhen, fast 50 Prozent mehr als 2024“, hatte Finanzminister Klingbeil im Juni im F.A.S.-Interview gesagt. Das wird sportlich, angesichts dessen, dass der Haushalt erst steht, nachdem mehr als die Hälfte des Jahres vergangen ist. In der vergangenen Woche noch hatte der Verband des Baugewerbes gewarnt: Selbst baureife Projekte könnten jetzt erst nach der Sommerpause starten, weil der Haushalt wegen der vorgezogenen Wahl nicht früher gekommen ist.
Wie Klingbeil von September bis Dezember sogar 50 Prozent mehr Geld verbauen will als im vergangenen Jahr, bleibt offen. Für ihn, der sich als Investitionsminister sieht, wäre das eine Niederlage. Für die Stromsteuersenkung wäre es womöglich gut, wenn in den Haushalten der kommenden Jahre noch Geld übrig bliebe.