Sechzig Jahre Marssonden: Invasion von der Erde

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Hardware für den Mars: Der Rover Perseverance wird am 18. Februar 2021 von seiner auf Raketentriebwerken schwebenden Halterung abgeseilt.Foto NASA




In mancher Hinsicht erscheint der 15. Juli 1965 gar nicht so weit weg. An der Spitze der Hitparade standen damals gerade die Rolling Stones mit „(I Can’t Get No) Satisfaction“, und der bis dahin erfolgreichste Film des Jahres war der James-Bond-Streifen „Goldfinger“ – zwei Produkte der Kulturindus­trie, die noch heute nicht ganz vergessen sind. Auf einem anderen Feld aber begann an diesem Tag eine Zäsur: Es versank eine ganze Welt, genauer gesagt: Es wurde augenfällig, dass es diese Welt nie gegeben hat.

Die Rede ist vom Mars. Bis zu jenem Sommer 1965 waren auch viele Wissenschaftler davon ausgegangen, dass zumindest um die polaren Eiskappen des Roten Planeten Vegetationszonen existierten. Zwar glaubten damals nur noch wenige Experten an die Existenz der Marskanäle, die durch Beobachtungen des italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli in den 1870er-Jahren in die Diskussion gekommen waren. Und noch weniger wollten etwas von der Vorstellung des wohlhabenden Bostoner Hobbyforschers Percival Lowell (1855 bis 1916) wissen, jene Kanäle seien das Werk von Marsbewohnern – eine Idee, die der frühen Science-Fiction bis heute nachwirkende Impulse gab.

Allerdings erstellte die U. S. Air Force noch 1962 eine Marskarte, auf der die ominösen Marskanäle eingezeichnet waren. Tatsächlich hatten Ingenieure, allen voran Wernher von Braun, lange vor dem Beginn des Apollo-Programms zum Mond über bemannte Marsexpeditionen nachgedacht. Spätestens 1963 lagen Messungen vor, denen zufolge die Marsatmosphäre es allenfalls auf einen Druck von 25 Millibar brachte und auf eine Luftfeuchtigkeit, die um einen Faktor 70 unter der in den trockensten Gebieten der Erde lag. Doch sie änderten wenig an dem vorherrschenden Bild von einer Welt, auf der es vielleicht etwas unwirtlicher sein mag als auf der Erde, die aber menschlichen Erkundungstrupps kaum mehr Schwierigkeiten bereiten würde als die Antarktis oder der Mount Everest.




Mariner 4 nahm am 15. Juli 1965 am Mars diese erste jemals gemachte Nahaufnahme eines anderen Planeten auf.Foto NASA








Das war die Welt, die in den Wochen nach dem 15. Juli 1965 versank. Denn an jenem Tag flog zum ersten Mal eine Raumsonde am Mars vorbei und machte die ersten Nahaufnahmen einer Planetenoberfläche, die bis dahin nur durch Teleskope von der Erde aus hatte erforscht werden können. Mariner 4, eine von insgesamt zehn amerikanischen Sonden dieses Namens, war im November 1964 zum Roten Planeten aufgebrochen. Das Mariner-Programm war Teil der NASA-Strategie zur Erforschung des Sonnensystems. Sechs der zwischen 1962 und 1973 gestarteten Mariners hatten dabei den Mars zum Ziel, vier die Venus und von Letzteren eine zusätzlich noch den Merkur. Dabei war Mariner 4 nicht der erste Raumflugkörper, der zum Roten Planeten flog, aber der erste, der ihn in funktionsfähigem Zustand erreichte.

Die Übertragung des ersten Bildes zur Erde erfolge mit einer Datenrate von quälenden 8,5 Bits pro Sekunde. Als die Datenpakete endlich am Jet Propulsion Laboratory der NASA in Pasadena eingetrudelt waren, setzte ein Computer sie zusammen. Der war eines der damals modernsten Modelle, besaß aber doch nur den Bruchteil eines Millionstels der Rechenleistung, die heute in einem Smartphone verbaut ist, und brauchte für das 200 mal 200 Pixel große Bild geschlagene acht Stunden. So lange hielten die Wissenschaftler ihre Ungewissheit darüber, ob die Aufnahmen etwas geworden waren, nicht aus: Also druckten sie sich einen Teil der Zahlenkolonnen auf Papier aus, klebten sie nebeneinander und färbten die Zahlen mit Pastellfarben ihren Werten entsprechend ein. Dieses „Malen nach Zahlen“ ergab tatsächlich hell den gekrümmten Rand eines Planeten vor dunklem Hintergrund. Die Kamera hatte nicht versagt.

Das Graustufenbild, das der Computer schließlich ausspuckte (oben abgebildet), hatte den Zauber des ersten Blickes, verriet aber noch kaum Details. Die kamen erst ab der dritten der insgesamt 22 Aufnahmen, deren Daten – insgesamt gerade einmal 650 Kilobyte – in den folgenden Wochen zur Erde gelangten. Dieses dritte Bild und die folgenden zeigten wie erhofft Oberflächendetails, doch anders als erhofft waren es nichts als Krater: Auf dem Mars sah es aus wie auf dem Mond.

Menschen sind Augentiere, daher waren es vor allem diese Bilder, die der Vorstellung von der Existenz wenigstens primitiver Lebensformen auf dem Mars jäh den Garaus machten. Dabei waren die Messdaten über die Marsatmosphäre, die Mariner 4 auch nach Hause funkte, viel schlimmer: Aus ihnen folgte ein Luftdruck von vier bis sechs Millibar. Das unterschritt den Mindestwert für die Existenz flüssigen Wassers. Es konnte auf dem Mars wahrscheinlich keinen nennenswerten Wasserzyklus geben, und angesichts eines Kohlendioxidgehalts der dünnen Atmosphäre von mindestens 95 Prozent war auch fraglich, ob es sich bei den Polkappen um Wassereis handelte und nicht eher um gefrorenes Kohlendioxid, also Trockeneis. Nach dieser Befundlage gab es auf dem Mars so gut wie überhaupt kein Wasser in irgendeiner Form – noch hatte es jemals welches gegeben.




Formen auf dem Mars: tauende Flecke im südpolaren Frost im Frühling





Sogenannte „Spiders“, Spuren austretender Gase auf gefrorenem Sand





Erodierte Sedimentschichten in einem Kraterboden





Trockeneisflecken aus kondensiertem Kohlendioxid, das zuvor als Gas in einer Wüste aus rotem Staub ausgetreten war




Fotos: NASA






Das triste Bild konsolidierte sich, als 1969 zwei weitere Mariner-Sonden, die mit den Nummern 6 und 7, am Mars vorbeiflogen. Hatte Mariner 4 nur etwa ein Prozent der Marsoberfläche abgelichtet, und das aus 9846 Kilometern am Punkt der größten Annäherung, so waren es nun zehn Prozent aus einer Distanz von 3430 Kilometern und mit besseren Kameras. Doch auch die sahen Krater und nichts als Krater. Offensichtlich war der Rote Planet ein toter Planet.




Der Krater Bacolor im hohen Norden des Mars hat einen Durchmesser von etwa 20 Kilometern. Auffallend sind die beiden überlappenden Lagen an Auswurfmaterial, eine Folge des eis- oder wasserhaltigen Bodens, in den der Meteorit seinerzeit einschlug. So etwas gibt es auf dem Mond nicht. Doch Bilder, auf denen man den Unterschied sehen kann, konnten die Mariner-Sonden noch nicht machen.Foto: NASA




Warum, fragt man sich an diesem Punkt vielleicht, hat man danach nicht vom Mars gelassen? Warum ihn noch weiter erforscht? Wissenschaftsromantiker mögen die Frage ganz mit der Grenzenlosigkeit menschlicher Neugier beantworten wollen. Und tatsächlich ließen auch die Daten der Sonden Mariner 6 und 7 noch viele Fragen offen, insbesondere die nach der wahren Natur der hellen und dunklen Strukturen, die man in den Beobachtungen von der Erde aus sah. Doch zugleich war auch hier der Krieg der Vater der Dinge, genauer, der Kalte Krieg und der Systemwettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Sowjets hatte in der Frühphase der Raumfahrt die Nase vorne gehabt und sich auch früh am Mars versucht. Bereits 1960 zündete die erste sowjetische Rakete mit einer für dieses Ziel bestimmten Sonde, erlitt aber einen Fehlstart, was sich danach noch zweimal wiederholte. Der vierte Versuch führte im Juni 1963 im Prinzip sogar zu dem ersten Vorbeiflug eines menschlichen Artefakts am Mars überhaupt – doch war der Funkkontakt zu ihr bereits drei Monate zuvor verloren gegangen.




Soweit die Räder rollen: Bei dem Rover Opportunity, von dem diese Spuren stammen, waren es nach 14 Jahren Einsatz am Ende 45,16 Kilometer – mehr als bei jedem anderen Rover auf Mars oder Mond.Foto: NASA




Auch der NASA war ihre allererste Marsmission, Mariner 3, im November 1964 schiefgegangen. Nach dem amerikanischen Erfolg mit Mariner 4 aber ließen die Sowjets nicht locker, vielleicht auch, weil sich bereits abzeichnete, dass sie den Wettlauf zum Mond verlieren würden. Auf dem Mars gab es noch diesseits bemannter Unternehmen Trophäen zu holen: Wem würde es als erstem gelingen, den Planeten nicht nur im Vorbeiflug abzulichten, sondern seine Sonde in eine Marsumlaufbahn einschwenken zu lassen? Wer landete als Erster oder ließ gar eine fahrbare Apparatur über die rostrote Oberfläche rollen? Die Sowjetunion versuchte bis 1973 all dies, aber nichts funktionierte wirklich, außer einer zwar weichen Landung, doch ohne brauchbare Daten, und der Platzierung zweier Orbiter. Aber auch hier waren die Amerikaner schneller: Am 14. November 1971, zwei Wochen vor der sowjetischen Konkurrenz, erreichte Mariner 9 seine Marsumlaufbahn. Die Sonde machte nun fast ein ganzes Erdenjahr lang Bilder von der Oberfläche, insgesamt 7239 Stück. Sie begründeten im Wesentlichen unser heutiges Bild vom Mars.




Und dieses ist nicht mehr ganz so trostlos. Wie sich mit Mariner 9 zeigte, waren die mondähnlichen Flächen nur höchstens die halbe Wahrheit über den Mars. Die andere Hälfte hatten die Bahngeometrien der Vorbeiflüge 1965 und 1969 den Forschern vorenthalten: Riesenvulkane, ein atemberaubendes Schluchtensystem, neunmal länger und viermal tiefer als der Grand Canyon und vor allem: gewaltige Systeme ausgetrockneter Flussbetten. Der Mars kann also nicht immer die gefriergetrocknete Rostkugel gewesen sein, die er heute ist. Es muss dort einmal Wasser geflossen sein.

Dieser Befund motivierte insbesondere die beiden Viking-Sonden der NASA, bestehend aus jeweils einer Kombination aus Orbiter und Landesonde. Dazu wäre es in der politischen Stimmung nach dem teuren Apollo-Programm und dem noch sehr viel teureren Vietnamkrieg sonst wohl kaum gekommen. Der immense Ertrag der Viking-Missionen half der Marsforschung dann über die grimmen Achtzigerjahre hinweg, in der am Roten Planeten fast nichts passierte. Nur die Sowjetunion versuchte es 1988 noch ein letztes Mal mit ihren beiden Phobos-Missionen, von denen die eine ganz und die andere zu großen Teilen scheiterte.




Erst in den Neunzigerjahren brachen dann wieder goldene Zeiten an. Die NASA baute – völlig ohne den Druck eines Systemwettlaufs – ihre Führungsposition weiter aus: Man kartierte den Planeten minutiös und ließ 1996 den ersten experimentellen Rover rollen, dem später vier weitere fahrbare Sonden folgten, die jahrelang auf dem Mars unterwegs waren. Die beiden jüngsten, Curiosity, gelandet 2012, und Perseverance, gelandet 2021, sind es noch immer. Perseverance ließ auch zum ersten Mal eine Drohne durch die dünne Marsluft fliegen. Etliche der eindrucksvollsten Aufnahmen, welche die NASA im Laufe dieser Zeit gewann, darunter auch einige noch nicht sehr bekannte, sind zusammen mit wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Einordnungen in einem prächtigen Bildband versammelt, den der Taschen-Verlag unlängst veröffentlicht hat. Ihm sind die Marsbilder auf dieser Seite entnommen.




Selfie auf dem Mars: Der Rover Curiosity nahm hier mit einer kleineren Kamera an seinem Roboterarm das Kopfende seines Kameramastes auf. Das Bild entstand am 23. Januar 2018 im Krater „Gale“.





Ein Solarpaneel und die Probenschaufel der Landesonde Phoenix am 10. Juni 2008








Ganz allein blieb die NASA auf dem Mars aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht. Russland scheiterte zwar 1996 und 2011 erneut, doch seit 2003 gibt es mit Mars Express einen spektakulär erfolgreichen europäischen Mars-Orbiter. Zwischen 2014 und 2022 gab es einen indischen und seit 2021 einen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Und 2020 wurde China am Mars aktiv. Dem Land gelang es mit Tianwen 1 auf Anhieb und in einer einzigen Mission einen Orbiter, einen Lander und einen Rover zum Mars zu bringen. Wenn die Amerikaner nun ihre unbemannten Aktivitäten auf dem Mars zurückfahren, weil ihr aktueller Präsident sich auch dafür nicht interessiert, dann dürften die Chinesen die Gelegenheit bald nutzen, sich dort zu profilieren.

Insbesondere in Gestalt einer Mission, die gezielt Marsgestein zu Erde bringt, ist noch etwas übrig, womit sich eine Raumfahrtnation in die Geschichtsbücher eintragen könnte – und auch das wissenschaftliche Interesse an solch einem Unternehmen ist enorm. So dürfte am Ende wohl nur damit der Nachweis einstiger mikrobiologischer Aktivität in einer wärmeren, feuchteren Marsurzeit zu bringen sein.




Dieser frühe, feuchte Mars ist und bleibt ein Hauptmotiv für den Start und den Betrieb neuer Sonden auf und im Orbit um den Mars. Und während von den – in einer möglichen Zählung – bisher insgesamt 56 zum Mars gestarteten Flügen nur 27 erfolgreich waren, so wird diese Statistik durch das enorme Pech der Sowjetunion am Mars doch ziemlich verzerrt. Was nicht bedeutet, dass nicht auch der NASA gelegentlich was daneben ging. So stürzte 1999 der Mars Climate Orbiter ab, weil metrische und angloamerikanische Maßeinheiten durcheinandergebracht worden waren.

Insgesamt war die Wissenschaft in den vergangenen 60 Jahren mit dem Mars mehr beschäftigt als mit jedem anderen Himmelskörper des Sonnensystems – die Erde natürlich ausgenommen, obgleich wir unseren roten Nachbarn in einer Hinsicht heute sogar besser kennen als unseren eigenen Heimatplaneten: Die Topographie der Marsoberfläche ist dank der Kartierungen durch die Orbiter Mars Global Surveyor und Mars Reconnaissance Orbiter in den Jahren nach 1996 mit einer sehr viel höheren räumlichen Auflösung bekannt als weite Bereiche des Tiefseebodens der Erde.

Der Mars hat den Menschen nie mehr losgelassen, der Enttäuschung über die Bilder von Mariner 4 zum Trotz. Aber diese waren überhaupt die allerersten Nahaufnahmen eines anderen Planeten – die Venus wurde 1962 zwar früher besucht, aber die Sonde dorthin, Mariner 2, hatte keine Kamera mit an Bord. Das Mariner-Programm hat im Übrigen noch ein anderes Erbe: Zwei weitere Sonden der Reihe, die ursprünglich Mariner 11 und Mariner 12 heißen sollten, wurden kurz vor ihren Starts im Jahr 1977 umbenannt. Als Voyager 1 und Voyager 2 flogen sie zu den äußeren Planeten. Inzwischen haben die das Sonnensystem verlassen und sind heute die beiden am weitesten von der Erde entfernten menschlichen Artefakte. Und sie senden immer noch Daten.




Foto: Taschen



„Mars: Photographs from the NASA Archives“

mit Texten von Margaret A. Weitekamp, James L. Green und Rob Manning.

Taschen, 340 S., 50 Euro