Eskalation in Syrien: Scharaas gefährlicher Machtkampf

9

Die Befürchtungen, die Gewalt zwischen Drusen und arabischen Beduinen im Süden Syriens könne sich zu einer handfesten Krise ausweiten, haben sich bestätigt. Längst ist die Region um die drusische Stadt Sweida Schauplatz einer blutigen Kraftprobe zwischen den Drusen und der von Islamisten dominierten Führung in Damaskus. Auch das Nachbarland Israel greift in den Machtkampf ein – sogar mit Angriffen auf Ziele in der syrischen Hauptstadt. Kurz zuvor waren trotz der Verkündung einer Waffenruhe neue Kämpfe zwischen Regierungskräften und drusischen Milizionären gemeldet worden.

Die Zentralregierung hatte am Montag Truppen nach Sweida entsandt – laut eigener Darstellung, um für Ordnung zu sorgen und der Gewalt ein Ende zu setzen. Die Abwesenheit staatlicher Institutionen sei der Hauptgrund für die andauernden Spannungen, erklärte Innenminister Anas Khattab. Aber in der Wahrnehmung vieler Drusen und mehrerer syrischer politischer Beobachter nutzte Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa mit der Intervention die Gelegenheit, Sweida unter die Herrschaft seiner Regierung zu bringen. Dessen Bewohner sperren sich seit Monaten dagegen, ihre Waffen und die Kontrolle über die Stadt abzugeben.

Manche Führungspersönlichkeiten in Sweida haben sich auf die Seite Scharaas gestellt. Aber der syrische Übergangspräsident hat einflussreiche Gegenspieler in Sweida. Dazu zählt nicht zuletzt Hikmat al-Hidschri, ein wichtiger spiritueller Führer der Drusen. Er hatte die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich der „brutalen Kampagne“ der Regierung zu widersetzen. Später ruderte Hidschri in einer Stellungnahme zurück und rief zum Dialog auf. Doch das Vertrauen vieler Drusen, die wie andere Minderheiten fürchten, unter den neuen sunnitischen Herrschern zu Syrern zweiter Klasse zu werden, ist jetzt noch einmal erschüttert worden.

Als „Schweine“ beschimpft

„Die neue Regierung hat kein gemeinsames Projekt, das Drusen, Christen, Alawiten oder Kurden überzeugt“, kritisiert Malik al-Abdeh, ein syrischer Politikberater. Scharaa denke in Machtkategorien. „Früher ging es um die Herrschaft der Alawiten, der Bevölkerungsgruppe Assads. Heute dreht sich der öffentliche Diskurs um die Vorherrschaft der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, die unter dem alten Regime gelitten hat“, sagt al-Abdeh.

F.A.Z.-Karte

Neue Schmähungen haben im Zuge der tagelangen Kämpfe neue Feindschaft geschürt. Drusen werden als „Schweine“ beschimpft. Es kursieren grausame Videos von den Auseinandersetzungen. Die Regierung hat viele junge, unerfahrene Rekruten in die Sweida-Kampagne geworfen, die den drusischen Milizionären an Kampfkraft deutlich unterlegen sind. Auch Videos von Erniedrigungen und Misshandlungen drusischer Zivilisten werden verbreitet. Hidschri, Scharaas Widersacher in Sweida, wird als Überbleibsel des alten Regimes diskreditiert, obwohl die Drusen in Sweida die Herrschaft Assads in der Vergangenheit immer wieder herausgefordert hatten.

Hidschri selbst hatte darauf während eines Treffens im Januar Bezug genommen. Er sagte, die Menschen in Sweida seien den neuen Machthabern nicht zu Dank verpflichtet, weil sie unter Scharaas Führung Assad zu Fall brachten. Sweida habe sich selbst befreit. Schon damals war deutlich geworden, dass viele in Sweida auf Distanz zu Scharaa gingen – und dass der drusische Widerwille im Gegensatz zum selbstbewussten Machtanspruch seiner Leute stand. Der von der neuen Führung installierte Gouverneur sagte seinerzeit: „Wir sind hier die Macht.“ In seinem Hosenbund steckte eine Pistole. Wenige Straßen weiter erklärten junge drusische Milizionäre mit Sturmgewehren, sie würden sich niemals den Forderungen aus Damaskus beugen, ihre Waffen abzugeben.

Die Krise in Sweida ist indes nicht nur ein Zeichen der Spaltung Syriens und der Schwierigkeiten Scharaas, eine neue Ordnung zu etablieren. Sie ist auch Ausdruck einer außenpolitischen Zwangslage: Nach amerikanischem Willen soll Scharaa die Beziehungen zu Israel normalisieren. Er will Präsident Donald Trump nicht verärgern, weil dieser die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen vorantreibt. Aber Israel stellt seinen schwachen Nachbarn bloß, indem es an der Seite der Drusen interveniert. In einer Erklärung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz wurden zwei Beweggründe dafür genannt: Zum einen würden die in den Süden Syriens verlegten Militäreinheiten Israel gefährden. Zum anderen hieß es: „Aufgrund des tiefen brüderlichen Bündnisses mit unseren drusischen Bürgern in Israel und ihrer familiären und historischen Bindungen zu den Drusen in Syrien ist Israel entschlossen, Schaden von den Drusen in Syrien abzuwenden.“

„Eine existenzielle Schlacht für die drusische Gemeinschaft“

Nach dem Sturz Assads hatte sich Israel zur Schutzmacht der syrischen Drusen erklärt. Das dient auch der Rechtfertigung der andauernden Militärpräsenz im Nachbarland: Zusätzlich zu den 1967 eroberten und 1981 annektierten Golanhöhen halten israelische Truppen seit dem vergangenen Dezember auch eine östlich daran grenzende Pufferzone besetzt, die eigentlich von einer UN-Friedenstruppe kontrolliert werden sollte. Israel hat die Region bis südlich von Damaskus für „demilitarisiert“ erklärt und setzt diesen Anspruch selbst militärisch durch. Zudem nehmen Drusen in Israel, deren Angehörige wichtige Posten in der Armee besetzen, großen Anteil an den Geschehnissen in Sweida. Viele Drusen auf dem Golan haben familiäre Verbindungen in die südsyrischen Drusengebiete. Manche wollen ihren dortigen Verwandten und Glaubensbrüdern jetzt offenbar zu Hilfe kommen und versuchten laut Armeeangaben zu Dutzenden über die Grenze zu gelangen. Scheich Muwaffaq Tarif, das spirituelle Oberhaupt der Drusen in Israel, rief Netanjahu und Katz dazu auf, einen Abzug der syrischen Regierungstruppen aus Sweida zu erzwingen. Was sich dort ereigne, sei „eine existenzielle Schlacht für die drusische Gemeinschaft“, sagte er.

Verteidigungsminister Katz forderte am Mittwochvormittag, die syrische Führung müsse ihre Truppen aus Sweida abziehen. Er drohte, die israelische Armee werde „die Regimetruppen so lange angreifen, bis sie sich aus dem Gebiet zurückziehen“. Falls „die Botschaft nicht verstanden wird“, werde man die Angriffe verstärken. Kurz darauf meldete Syriens staatliche Nachrichtenagentur Luftangriffe auf Ziele in Sweida und in Damaskus. Die israelische Armee attackierte dort Ziele nahe dem Präsidentenpalast sowie das Militärhauptquartier und das Verteidigungsministerium. Schon am Montag und am Dienstag hatte die Luftwaffe Panzer und andere Militärfahrzeuge bombardiert. Die Armee zerstörte laut eigenen Angaben auch Zufahrtsstraßen nach Sweida, um Truppenbewegungen zu unterbinden.

Einhergehend mit den Militäraktionen sendet die Regierung in Jerusalem widersprüchliche politische Signale aus. Es gibt inoffizielle Gespräche zwischen ranghohen Vertretern Syriens und Israels, und aus Jerusalem ist regelmäßig zu hören, man würde gerne Frieden mit Syrien schließen. Den Golan werde man aber keinesfalls zurückgeben. Zugleich wird Scharaa als Dschihadist bezeichnet. Diasporaminister Amichai Chikli sagte am Dienstag, der Übergangspräsident sei ein „barbarischer Mörder, der sofort eliminiert werden sollte“.